Kirschenmichel

CoLyrik Die Armenspeisung - ein Tabuthema in Deutschland? Viele Menschen sind inzwischen auf fremde Hilfe angewiesen, Tendenz steigend!

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Germania Elend, 39, alleinerziehend, Mutter von drei Kindern, seit sechs Monaten arbeitssuchend, schreibt unter Tränen in ihr Tagebuch:

Es wird von Tag zu Tag unerträglicher. Ich gebe mir wirklich Mühe, versuche mir nichts anmerken zu lassen und spüre sehr intensiv, dass auch meine Kinder immer mehr unter ihrer Armut leiden. Inzwischen schaue ich nicht selten in total traurige Kinderaugen. Wir können uns nichts mehr leisten, kann keine Wünsche mehr erfüllen.

Neuerdings gehe ich zur Tafel, zur Armenspeisung. Ich hätte nie im Leben daran gedacht, dass ich jemals auf Lebensmittelspenden angewiesen sei. Die ehrenamtliche Helferin sagte zu mir, dass ich mich dafür überhaupt nicht schämen müsse. Und als ich anfing zu weinen, nahm sie mich tröstend in den Arm. Laut ihren Worten bin ich nur eine Person von ca. 1,5 Millionen Menschen in Deutschland, die einmal in der Woche diese Chance nutzen, um im Monat über die Runden zu kommen. Die fatale Sozialpolitik wäre daran schuld und nicht ich. Dann steckte sie mir noch ganz privat 10 Euro in die Hand. Da war ich absolut fassungslos und wusste im ersten Moment nicht, ob ich lächeln oder noch mehr weinen soll.

Bald muss ich aus meiner Wohnung ausziehen, die Miete ist zum puren Luxus geworden. Jetzt, wo ich keinen Job mehr habe, zerrt die Armut an meinen Nerven und meiner Gesundheit. Kirschenmichel gab es heute Mittag, so ein typisches Arme-Leute-Essen. Und wenn ich daran denke, dann fallen mir Worte ein, die ich besser nie in mein Tagebuch schreiben sollte:

Der Appetit kommt ja bekanntlich beim Essen. Klar doch, wie Großmutters leckere Hühnersuppe mit Fettaugen. Heute gab’s mal wieder einen Menschenauflauf, stand mir doch tatsächlich deswegen ewig die Beine in den Bauch. Igitt, dachte ich zunächst völlig angewidert, als ich die abstoßende Masse, dieses ausgemergelte Gewimmel, bei der Armenspeisung sah. Und dann bemerkte ich instinktiv, dass ich auf andere Menschen genauso entsetzlich wirken könnte. Da wurde mir speiübel …

© Corina Wagner, Januar 2013

Kirschenmichel - eine Kurzgeschichte, die auf die stetig steigende Armut in Deutschland aufmerksam machen soll ...

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Geschrieben von

Corina Wagner

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