Loseblattsammlungen

CoLyrik Kurzgeschichten verschwinden und tauchen wieder auf...

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Wolfgang von Knickkante wühlte in seiner Schrifttum-Mappe. Er suchte für den kleinen Verlag Einzelblatt wichtige Notizen. „Heilige Kacke!“, dachte er und raufte sich dabei das schütternde Haar. Schuppen rieselten wie kleine Schneeflöckchen auf seinen antiken Schreibtisch und lenkten ihn für wenige Sekunden ab. Es war Mitte Januar. Draußen peitschte der Wind ins Unermessliche. Äste flogen durch die Lüfte. Mit voller Wucht prasselte starker Regen gegen die Fensterscheiben des Arbeitszimmers. Dann knallte es laut. Die Fensterscheibe ging zu Bruch. Ein dicker Ast ragte nun in den Raum. Reflexartig hatte der Schriftsteller nach der Schrifttum-Mappe gegriffen und sich unter seinem Schreibtisch versteckt. Plötzlich herrschte noch mehr Chaos in seinem unaufgeräumten Arbeitszimmer. Auf Goethes Nasenspitze hing nun eine frivole Weihnachtskarte, als wäre dies ein Zeichen. Die Goethe-Büste aus Kunstbronze verehrte er wie eine Heiligenfigur. Angstschweiß kroch in ihm hoch, als sei er ein gehetztes Tier. In jenem Moment wartete er auf den nächsten Knall. Nichts passierte. Es hagelte nur. Kein Mensch wollte ihn absichtlich töten. Ein schweres Unwetter wütete. Die Worte „Je suis Charlie“ schwirrten durch seinen hochroten Kopf. Sein Blutdruck war enorm angestiegen. Sein Schädel dröhnte extrem.

Im Herbst hatte er eine Kurzgeschichte verfasst, die er ursprünglich veröffentlichen wollte. Er hatte die Kurzgeschichte mit einer uralten Schreibmaschine während eines Besuchs bei seiner adeligen Tante geschrieben, als er nachts nicht einschlafen konnte. Dies lag vermutlich an den vielen Tierpräparaten, die an der Wand hingen. Er fühlte sich irgendwie bedroht und seltsam unwohl. Ein völlig eingestaubtes Eichhörnchen hing genau über dem Kopfteil des Betts in dem er schlief. Es streckte ihm alle Stunde die gespaltene Zunge heraus. In der Dunkelheit funkelten effektvoll die anderen Tieraugen dazu. Ein Gag des Tierpräparators. Das Ganze wurde mit einer raffinierten technischen Vorrichtung von außen gesteuert. Tante Diana war nicht nur leidenschaftliche Jägerin, sondern glänzte mit skurrilem Humor bei ihren Übernachtungsgästen.

Später, als von Knickkante wieder zu Hause war, fand er jene unheimliche Kurzgeschichte nicht mehr auf seinem Schreibtisch. Mehrmals hatte er die Aktentasche durchwühlt und anschließend sein Arbeitszimmer. Sie verschwand spurlos in einem riesengroßen Stapel von beschriebenen Blättern, unzähligen Kurzgeschichten, die sich zu Hauf türmten. Nun flatterte genau jenes Blatt zu ihm unter den Schreibtisch. Er hob es zähneknirschend auf und entfernte zunächst ein dickes Eselsohr. Danach linste er unter seinem Schreibtisch ziemlich misstrauisch hervor, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtete. Vorsichtshalber blieb er unter dem Schreibtisch sitzen und begann leise zu lesen:

Loseblattsammlungen

„Ja! Verdammt noch mal: Ja! Ich will …“, schrie Angela völlig euphorisch und blitzschnell verschluckte sie die restlichen Worte. Zeitgleich machte sie einen kleinen Luftsprung, so dass ihre traditionelle Fönfrisur ins Wanken geriet. Binnen weniger Sekunden später sah sie sich verängstigt in der Gegend um. Hatte man ihre Worte gehört? Die wichtigsten, die wegen der Brisanz Ärger verursachen könnten, hatte sie nicht ausgesprochen. Deswegen sprang sie ein zweites Mal spontan in die Luft. Buntgefärbte Blätter wirbelten dabei durch die Lüfte. Dieses Mal grinste sie währenddessen dreist, weil sie sich in jener Situation überlegen fühlte. Ihre Frisur saß perfekt, als sie wieder die Bodenhaftung erlangte. Wenn eins in ihrem Leben wichtig war, dann eine Frisur, die alles überstand. Ansonsten hielten sich ihre Eitelkeiten in Grenzen. Sie stand inmitten der Parkanlage, die weiträumig umzäunt war. Das Gelände glich einem Hochsicherheitstrakt. Überall waren Richtmikrofone in den Bäumen installiert. Ihr gaukelte man eine Langzeitstudie über das Blätterrauschen im Herbst vor. Diverse Klangschalen hatte man zur Tarnung aufgestellt. Sie erzeugten irritierende Töne, sobald ein zartes Lüftchen wehte. Es war ein nebliger Herbsttag, der die kunterbunten Blätter der Bäume wie in einem gutgemachten Krimi aussehen ließ. Es fehlte nur noch die Leiche. Angela starrte zu Boden und entdeckte ein weiteres zerknülltes Stück Papier. Das Dritte in Folge. In unmittelbarer Nähe dröhnten acht Herbstlaub-Sauger, die von Herren in Nadelstreifen-Overalls bedient wurden. Über ihr kreiste inzwischen eine Drohne, die zwar leise durch die Herbstluft schwebte, aber für Unbehagen sorgte. Sie bückte sich trotzdem nach unten und hob den nächsten Papierfetzen auf. Mittlerweile zierten Schweißperlen ihre Stirn, als sei es Hochsommer. Dabei zeigte das Außenthermometer vor der überdimensionalen alten Eiche 6, 5 Grad Celsius an. „Ein böses Omen!“, flüsterte sie nachdenklich gestimmt. Ihr wurde plötzlich rabenschwarz vor Augen und sie musste sich setzen. Vor der uralten Eiche stand eine Bank. Sie hatte Glück. Es war sogar ihre Lieblingsbank auf dem gut bewachten Gelände, die sie für wenige Minuten der Stille nutzte, wenn sie dort saß und grübelte. Nun lag ein Berg Eichenblätter auf der Sitzfläche, die sie aber nicht störten. Blätter fielen immer wieder aufs Neue von oben herunter, aber auch das störte sie nicht. Sie hatte schon viel aussitzen müssen.

Ein neuartiger Virus hatte Deutschland in Panik versetzt, da war sie sich absolut sicher. Der gefährliche Inflations-Virus setzte der Zivilgesellschaft im Lande unerträglich zu. Davon war sie felsenfest überzeugt. Vor keiner Bank war man mehr sicher, wenn man sich ausruhen wollte und über das Leben nachdachte. Überall lauerte der gefühlte Tod. Jetzt hatte sie dieses verdammte Stück Papier in der Hand und faltete es auseinander. Auf den ersten Blick erkannte sie einen roten Stempel an der oberen rechten Papierecke. Dort stand: „Streng vertraulich!“ Angela wurde leichenblass, als sie die wenigen Zeilen las, die auf dem Papierfetzen standen. Alles Mögliche hätte sie in jenem Augenblick getan, um den Rest des vertraulichen Dokuments zu lesen. Sie hätte aber niemals mit Terroristen um die Wette geköpft. Barbareien waren ihr zuwider. Sie war wie gelähmt. Vermutlich hatte der Herbstwind sein Unwesen getrieben und das fehlende Stück Papier in die Ferne getragen. Vielleicht lag es auch in einem der Abfallbehälter der Parkanlage. Ein possierliches Eichhörnchen flitzte an ihr vorbei und im Maul steckte ein Stück Papier. Kaum war es in Windeseile an ihr vorbei gehuscht, da saß es bereits über ihr auf der riesengroßen Eiche. Sie wartete sehnsüchtig auf das Herunterfallen des vierten Papierfetzens. Nichts tat sich. Das Eichhörnchen spuckte es einfach nicht aus. Das Dröhnen der Laubsauger nervte und doch blieb Angela wie angewurzelt auf der Parkbank sitzen. Sie verzog keine Miene und wartete ganz besonnen auf ein Zeichen. Das Sondereinsatzkommando Herbst war immer noch mit den Laubsaugern in Sichtweite. Ein fürchterlicher Papierkrieg wurde prophezeit. Das hatte sie nun schwarz auf weiß gelesen. Buchstaben würden den Rechtsstaat aushebeln. Der Untergang der Selbstbestimmung wurde nicht mehr schön geredet. In Hinterzimmern wurden nicht nur spektakuläre Szenarien dreidimensional an die kargen weißen Wände projiziert, sondern auch geplant und verhandelt. Horror-Visionäre drohten nun massiv mit Machtmissbrauch und deren Umsetzung.

Irgendwie lag ihr derweil das Mittagessen schwer im Magen. Es gab in der Kantine schmackhaftes Ragout vom kontrollierten Chlorhühnchen aus der Freihandelszone. Das auf einem leckeren plutoniumverseuchtem Reiskranz mit Pfifferlingen serviert wurde. Immer wenn Angela Reis mit Pilzen aß, strahlte sie anschließend. Ausnahmsweise sah sie aus, als hätte gleich ihr letztes Stündchen geschlagen. Ihr war inzwischen speiübel und ihr Bauch wirkte, als hätte man einen Medizinball aufgepumpt. Auf mediterran gegrillten Gen-Mais, den es dazu gab, verzichtete Angela bewusst, da sie davon ganz böse Flatulenzen bekam. Sie war mit der neuen Situation völlig überfordert. Es stank ihr gewaltig. Lag es an den Pilzen? Waren sie vergiftet? Seit Wochen war sie hin und hergerissen, förmlich zwiegespalten, musste deswegen taktisch bis ins kleinste Detail agieren und ihre Beziehungen in alle Himmelsrichtungen ausloten. Das lag nicht nur an diversen Lebensmitteln, sondern banalerweise an den Menschen. Für sie war jede Figur ein ungeschriebenes Blatt, solange jedenfalls, bis man sie mit unangenehmen Informationen zu textete. Jedes einzelne Blatt schwebte förmlich im Herbstwind hin und her, wendete sich rasant in die für sie passende Richtung und schien sich dann in einem Pult von Loseblattsammlungen aufzulösen. Ganz sonderbar, bizarr und eigenartig wirkten diese Menschen mit ihren Botschaften auf sie. Angela war inzwischen ein Nebenprodukt ihres Ichs und konnte nicht über ihren Schatten springen. Warum auch? Sie wäre nur ins Trudeln, Stolpern geraten und dies zur Freude ihrer Gegner. Sie sah inzwischen überall Wesen, die gegen sie arbeiteten. Sympathische Politiker, nette Konzernmanager, sogar solide Banker wurden für sie zu gefährlichen Zombies. Dieses Stück Papier, das sie inzwischen wie die anderen Papierfetzen in ihrer Manteltasche versteckt hatte, bewies ihr wieder einmal, das überall das Böse sein Unwesen trieb. Überall in Deutschland! Jeder noch zu freundliche Mensch verbarg pure Boshaftigkeit. Gerade in Führungspositionen steckten kleine und große Psychopaten, da war sie sich hundertprozentig sicher. Selbst das so putzige Eichhörnchen könnte zur Bestie werden, wenn es sie von oben mit Eicheln bewarf. In der Ferne ertönte das Deutschlandlied, das dermaßen schräg gespielt wurde, so dass es ihr wie Folter erschien. Kein Wunder, denn zusätzlich dröhnten immer noch die Laubsauger. Mit fieser Hinterhältigkeit musste sie immer rechnen, auch wenn sie auf einer Parkbank nur kurz einnickte, wie jetzt. Sie konnte den Lärm nicht mehr ertragen und schloss einfach die Augen. Alle beobachteten sie insgeheim dabei, aber alle schauten auch irgendwie weg. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass niemand, absolut niemand im Park reagierte, als ein Pfleger sie unsanft weckte und am Arm packte. Ihr besorgniserregend versicherte, dass sie keine Angst haben müsse. Vor niemanden müsse sie zittern. Niemand hätte ihr Essen vergiftet. Weit und breit wäre kein Mensch zu sehen. Niemand außer ihr und ihm wären im Park unterwegs. Ein stinknormaler Pups würde querstecken. Hirngespinste auch. Diese Mischung würde ihr überhaupt nicht bekommen und Halluzinationen auslösen. Sie solle sich nicht immer einbilden, dass sie die erste Frau in Schland sei. Diejenige, die das ganze Land vor dem Zerfall retten müsste. Es sei ja schließlich Herbst…

© Corina Wagner, 2015

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Geschrieben von

Corina Wagner

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