Mahlzeit! Yemek!

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Irgendwo da draußen sitzt eine Frau in ihrer Mittagspause vor dem Laptop und schreibt in einem Forum im Internet.

Mahlzeit! Yemek !

Hi, mein Name ist eigentlich uninteressant, bin eine deutschstämmige Frau im besten Alter, also jenseits der Dreißig und spezielle Freunde aus der kommunalen Politik nennen mich „Plaudertäschle“ oder auch „hübscher Widerhaken“, bin eine der vielen Ehrenamtlichen, die nicht schweigen, wenn es zur Sache geht. Einen „Friede, Freude, Eierkuchen-Verein“ wollte ich vor einiger Zeit gründen, aber da bin ich an der hiesigen Zivilgesellschaft gescheitert. Die wollten keine friedlichen Eierspeisen mit Migrationshintergrund in die Statuten aufnehmen. Heute weiß ich, dass das u.a. AfD- Sympathisanten waren. Das Wort Menemen war u.a. tabu. Wenn man wie bisher weitermacht, wird das in den kommenden Jahren nichts mit der wahrhaftigen Integration der türkischen Einwohner, Nachbarn, so finde ich, wenn man kein türkisches Rührei akzeptieren will. Die Basis dafür ist nun mal Ei. Auf das ein oder andere aufgeschlagene Ei wird man sich meiner Ansicht nach einigen können, auch über die Verarbeitung und den Verzehr.

Ich mag die türkische Küche, aber auch die Menschen, die türkische Wurzeln haben. Vielleicht liegt es daran, dass sie keinen Alkohol trinken, wenn sie Muslime sind. Ich kenne viele freundliche, hilfsbereite und absolut friedliche Muslime. Deshalb gehe ich regelmäßig in einen türkischen Supermarkt einkaufen. Da gibt es z.B. prima Oliven, leckeren Schafskäse, eine riesige Auswahl an Gewürzen und pfundweiße Blattpetersilie, aber auch einen Augenschmaus an der Fleischtheke. Metzger Yusuf ist ein wahres Schnuckelchen. Wenn er arbeitet, dann bin ich im Kaufrausch. Da kaufe ich auch schon mal ein halbes Lamm. Nur um ihm beim Portionieren zuzusehen. Sehr geil. Allah hat da einen perfekten männlichen Körper geschaffen. Hoffentlich kommt Yusuf nie auf die fatale Idee nach Jungfrauen im Himmel zu suchen. Immer wieder aufs Neue faszinieren mich auch die jungen Kassiererinnen. Kaum hat sich zum Beispiel Nehir mit der türkischsprachigen Frau vor mir an der Kasse auf Türkisch unterhalten, strahlt sie mich anschließend mit ihren tiefgründigen Augen dermaßen intensiv an, als würde es nur mich alleine in diesem Moment des Bezahlvorgangs auf der Welt geben. Sie konzentriert sich dann nur auf mich. Da könnte ich sie knuddeln. Die bildhübsche Kopftuchträgerin und gläubige Muslimin spricht mit mir in einem akzentfreien Deutsch. Wir führen dann intellektuellen Smalltalk. Wow, denke ich dann immer, wenn ich so toll türkisch sprechen könnte wie sie deutsch und auch noch ihre vorzügliche Abiturnote erreicht hätte.

Glauben versetzt bekanntlich Berge. Bei mir tut sich da nichts. Ich bin weder über die Alpen gewandert noch über den Großen Ararat, aber sehr oft schon mit dem Finger über die Landkarte hin und zurück. Wo ich schon überall mit meinem Zeigefinger war, will bestimmt niemand wissen. Obwohl Wissen nicht gleich Wissen ist, auch bei der Bildung im Allgemeinen muss man Abstriche machen, wenn Frau klug durchs Leben läuft und im Laufe ihres Lebens dazulernt. Manchmal hat man es faustdick hinter den hübschen Öhrchen und keiner sieht es auf den ersten Blick. Ich glaube schon lange nicht mehr an Gott, aber manchmal an das Gute im Menschen.

In diesem türkischen Supermarkt könnte man wie auch in anderen Supermärkten eine Sozialstudie betreiben, würde man sich die Zeit nehmen und stundenlang die Menschen beim Einkaufen beobachten. Seit dem Putschversuch in der Türkei war ich schon mehrmals in diesem türkischen Supermarkt. Allerdings sehe ich plötzlich Menschen mit ganz anderen Augen. Erst kürzlich beobachtete ich zwei Männer, die beide nach Tüten mit gerösteten, gesalzenen Sonnenblumenkernen griffen. Ich überlegte mir nicht etwa, ob nun der nette Herr mit den bereits grauen Schläfen noch gut im Bett sei, sondern vielleicht den sympathischen jungen Mann schriftlich anschwärzt, weil er nicht auf der nationalistischen Erdogan-Welle mit schwimmt oder auch umgekehrt, also nicht, ob der junge Mann Erektionsschwierigkeiten hat, sondern, ob er gegen Meinungsfreiheit ist. Kann man mir geistig folgen? Mir persönlich ist es egal, ob man das kann.

Was macht einen Türken zu einem Türken? Eine hohe Prozentzahl an Testosteron etwa oder der türkische Pass und nicht die doppelte Staatsbürgerschaft? Wenn ich z.B. winzig klein werden könnte und in einen Kopf eines Türken klettern würde, wäre ich vielleicht schlauer. Da ich aber so ein Abenteuer auch nicht bei einem Deutschen unternehmen will, verwerfe ich lieber diesen unmöglichen Gedanken. Vermutlich bekäme ich Angstzustände, könnte ich mich stundenweise schrumpfen und auf diverse Gehirnsuche gehen. Wenn man immer im Voraus wüsste, was bei einem anderen Menschen im Kopf vorgeht und dies unabhängig der Nationalität, hätte man eventuell Vorteile. Ethische Bedenken überkommen mich.

Wenn man manche Aussagen, Berichte in den Medien wie zum Beispiel dem Internet liest, dann möchte man vielleicht doch in den ein oder anderen Kopf klettern und ein bisschen manipulieren. Denn nach einigen Berichten ergeht es mir dann immer so, dass ich mir bestimmte Situationen vorstellen kann. Das kann unter Umständen manchmal zunächst ganz schön widerlich sein. Wie Anfang dieser Woche. Ich stehe vor dem Regal mit dem türkischen Honig und ein völlig harmlos wirkender Mann, mittleren Alters, stellt sich neben mich. Er greift wie ich in die gleiche Richtung. Unsere Hände berühren sich durch Zufall. Er lächelt mich an und ich zurück. Es ist ein Mann mit türkischen Wurzeln, so vermute ich in jenem Moment des gegenseitigen Anhimmelns. Er wirkt auf den ersten Blick super nett. Doch in meinem Kopf läuft fieserweise das Kopf-Kino an, dank neuestem Medienbericht über die Türkei, den ich früh morgens im Internet las. In Bruchteilen von Sekunden spielt sich ein Szenario in meinem weiblichen Gehirn ab. Könnte er, jener Mann neben mir vor dem Regal stehend, insgeheim immense Lust auf 12-jährige Mädchen haben? Wie so mancher Deutscher, der hier zulande bestraft wird, sollten die pädophilen Handlungen angezeigt werden. Ich habe im Internet gelesen, dass da ein Gesetz in der Türkei gekippt werden soll. Angeblich soll ab 2017 in der Türkei eine neue Regelung in Kraft treten, so dass der Kinderschutz wegfallen würde. Sex-Verbrechen würden dann ganz normal wie bei Erwachsenen geahndet werden. Täter können in Zukunft behaupten, dass ein Kind freiwillig Lust auf Sex hatte. Und jener jetzt noch harmlos wirkende Mann im trendigen Anzug, der neben mir steht, könnte rein theoretisch nächstes Jahr in seinem Sommerurlaub in der Türkei behaupten, dass eine Zwölfjährige freiwillig und mit großem Vergnügen mit ihm in einem Hotelzimmer Sex hatte...? Schrecklich dieser Gedanke. Dieses sekundenlange Kopf-Kino kann manchmal ganz schön nerven.

Immer noch beide vor dem Regal stehend, studiert er mich ausgiebig, bemerke ich. Für mein Alter sehe ich noch ziemlich gut aus, aber vermutlich wirke ich nun, als sei ich für immer hier mit dem Regalsystem fest verankert. Unsere Blicke huschen aneinander vorbei. Er wirkt sehr gediegen, charmant und passt eigentlich prima zu mir, so dass ich gegen Vorurteile in meinem Kopf kämpfen muss. Ich lächle ihn voller Neugierde an und sage doch tatsächlich zu ihm: „Zu dir oder zu mir?“ Danach kommt mir noch ein Räuspern, ein „ähm“ über die Lippen und die Worte:“ hm, also diese verschiedenen Sorten von türkischem Honig sollten wir gemeinsam testen!“ Mit entwaffneter Herzlichkeit fängt er zu lachen an, schaut anschließend mit seinen klugen, wunderschönen schwarzen Augen sekundenlang in meine grünen Augen und sagt überraschenderweise: „Zu dir! Jetzt gleich? Sehr gerne.“ Völlig euphorisch hauche ich ein lasziv wirkendes „Prima! Dann komm‘ bitte mit.“, denke aber spontan: „Scheiß Hormone!“ und gehe mit ihm gemeinsam in Richtung Kasse. Beim Hinausgehen schwirrt es da wie ein gutes Omen durch meinen Kopf: „Oh mein Gott, was für ein schöner Tag!“...

© Corina Wagner, August 2016

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Geschrieben von

Corina Wagner

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