Outing

CoLyrik Viele Menschen nehmen sich an Silvester gute Vorsätze fürs neue Jahr vor. Manche hören z.B. mit dem Rauchen auf, andere outen sich... :-)

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Outing

Heute möchte ich die Gelegenheit nutzen und mich outen. Es liegt wohl am Datum. Gute Vorsätze will ich im neuen Jahr umsetzen. Mein Name ist Lioba Lieblich (Name geändert). Es ist Winterzeit. Januar. Die Jetztzeit ist kein Schnee von gestern, aber auch kein Blitzeis von Morgen, sondern eher eine Rutschpartie zum Abtriften ins Jenseits. Keine Angst. Ich werde es nicht tun. Ich werde mir auch nicht die Zunge spalten lassen.

Vor knapp vier Wochen habe ich mich dem Verein Radikaler Liebeswahn angeschlossen und die damalige Aufnahme mit voller Liebe genossen. Es ist keine Bruder- oder Schwesternschaft, aber so ähnlich. Eine Interessengemeinschaft, die Liebe bietet. Lange musste ich nicht überlegen, als man mich in der Fußgängerzone ansprach und mir das Buch der apodiktischen Liebe schenkte. Ich kam gerade vom Weihnachtsmarkt und war in Glühweinlaune, als mich diese gepflegte Erscheinung, ein gut aussehender Herr ansprach. Jeder hätte in meinem momentanen Zustand sofort unterschrieben. Da bin ich mir ziemlich sicher.

Zu diesem unterschriebenen Mitgliedsantrag gab es noch einen herzigen Adventskalender in dem ganz viel Liebe zum Detail steckte, auch eine große Dose Liebeskapseln, eine CD mit Love-Songs und sogar noch eine praktische Baumwolltasche mit der Aufschrift LIEBESABENTEUER. An Ort und Stelle habe ich es tatsächlich getan, quasi im Glühweinrausch. Ich habe an diesem Stand der RL-Sekte total spontan den Mitgliedsantrag unterschrieben. Das Kleingedruckte konnte ich im Dunkel wahrlich nicht mehr lesen. Nach vier Tassen Glühwein und einer randvollen Tasse Feuerzangenbowle kein Wunder, so vermute ich.

Dieser Typ war aber auch wirklich zum Verlieben. Er hatte diesen „Ich lieb‘ Dich ohne wenn und aber-Gesichtsausdruck“ super gut drauf und zog mich dadurch magisch an. Vielleicht lag es auch an seinem Zahnpasta-Lächeln. Er sah so extrem unschuldig aus, wirkte auf mich wie ein heiliggesprochener Politiker, ein Wesen aus einer anderen Zeit. Ihn störte auch nicht, dass mein Wintermantel von oben bis unten mit Senf bekleckert war und an meiner schief aufgesetzten Weihnachtsmütze Zuckerwatte haftete. Ich roch dezent nach Lama-Kacke. Da ich zuvor in einen lauwarmen Haufen trat, der für mich nicht mehr erkennbar mitten im Weg lag. Zirkusleute standen mit einigen Tieren in der Fußgängerzone und sammelten Geld für das Winterquartier ihrer Tiere. Seine Aura kann ich wirklich nicht beschreiben. Nicht die Aura des Lama-Männchens, sondern dieser hübschen Erscheinung des Werbebotschafters vom Verein radikaler Liebeswahn. Man muss es erlebt haben. Ich war damals von seinem Anblick überwältigt, lag wohl auch an meinem Glühweinkonsum auf dem Weihnachtsmarkt.

Drei Tage später hielt ich vor 750 Gleichgesinnten in einer Tiefgarage ein Statement über bedingungslose Liebe und blieb deswegen nach Vorschrift barfuß auf einem aufgeklebten blutroten Schmollmund mit den Füßen kleben. Barfuß im Winter in einer eiskalten, schummrigen Tiefgarage zu stehen, ist schon irre genug, könnte man denken. Unfassbar! Eigentlich realitätsfremd, was ich getan habe. Eine bizarre Situation, wenn man nachträglich darüber nachdenkt. „Das machen die dort immer so…“, hat man mir auf Nachfrage mitgeteilt. Es gab eine plausible Erklärung. Wegen der Bodenhaftung beim Reden der Neulinge, so lautete die Antwort. Auf Eiseskälte wird grundsätzlich keine Rücksicht genommen. Es gibt dann generell zuvor für alle Neulinge Liebespunsch. Dieser rote Schmollmund kam mir so sonderbar vor. Ich hatte allerdings schon 5 Liebeskapseln intus und zwei Tassen vom leckeren, heißen Liebespunsch.

Später erfuhr ich von einem Insider, dass dort jemand zuvor beim Rückwärtseinparken sauer war und die Katze im Sack überfuhr, die man mir mitgebracht hatte. Es war alles so glaub- und liebenswürdig, als mich die anderen Vereinsmitglieder in der Tiefgarage netterweise in und auf den Arm nahmen. Diese kollektive liebevolle Begegnung war der reinste Wahnsinn. Diese mir entgegen gebrachte Zuneigung begeistert mich nach wie vor irgendwie tief im Inneren. Dort wo die Wahrnehmung zu gern gestört wird, wenn man verliebt ist. Wahnsinn! Es lag vielleicht auch an den Liebeskapseln, die Pflicht sind, wenn man dazu gehören will. Dreimal täglich soll man fünf Kapseln einnehmen, wenn man Mitglied ist. Eine feine Dosis.

Ich lebe und liebe nun nach Satzung. Und das ist echt geil, einfach klasse. Ich hasse nicht mehr, sondern liebe nun alles. Ich liebe neuerdings den fetten Bullterrier und sein Herrchen, den widerlichen Nachbarn mit der tätowierten 88 auf dem Oberarm. Witzigerweise liebe ich den Hassprediger aus dem Multikultihaus Schöner Schein und diejenigen aus dem Proletariat, die hetzen und heimlich ihre Messer wetzen. Ich liebe neuerdings Kakerlaken, diese zierlichen Dinger auf einem meiner Finger, wenn ich in meinem neuen Lieblingslokal aufs Essen warte wie gestern Abend. Früher hätte ich hysterisch geschrien. Jetzt liebe ich sie mit Haut und Fühler. Das ist herrlich, aber ehrlich gesagt, auch eigentlich entbehrlich.

Ich liebe plötzlich Märtyrer, Despoten, Führer, weil das laut Satzung keine Pappnasen sind und Liebe macht ja bekanntlich blind. Deshalb lässt auch meine Sehkraft nach. Eigentlich ein medizinisches Thema. Ich blicke nicht mehr überall durch, aber das stört mich nicht wirklich. Dafür liebe ich nun alles. Diese Liebeskaspeln kann ich nur empfehlen. Sie lenken vom Alltag ab. Jene Philosophie, die dahinter steckt, habe ich wahrlich noch nicht relativiert. Der erste Vorsitzende vom Verein Radikaler Liebeswahn nimmt diese Kapseln nicht ein. Er sagte zu mir grinsend, dass er als Vorsitzender die „Lieblinge“ nicht dreimal täglich einwerfen kann. Eigentlich verständlich, wenn man weiß, welche Berufe er ausübt. Er arbeitet drei Stunden am Tag als diplomierter Hellseher. Er gehört weltweit zu den qualifizierten, angesehenen Weltuntergangsverstehern. Zwei Stunden am Tag arbeitet er als V-Mann und die restlichen Stunden als Betreuer. Keine Ahnung, wen oder was er genau betreut. Vermutlich radikal liebevoll. Er tut auch mir und meinem Bankkonto gut. Er ist mein Seher, mein Visionär, mein Gesamtbild-Versteher, eigentlich auch mein Betreuer. Ich bin wirklich total begeistert von ihm. Ich habe es noch nicht bereut, dass auch er mein Erspartes, meine Geldanlagen aus reiner Liebe verwaltet. Früher hätte ich dies nie zugelassen. Ich habe mich in seine eiskalten Augen total verliebt. Ich könnte sogar für ihn eines Tages sterben. Das hätte ich mir früher in meinem alten Leben nie vorstellen können. Da konnte ich mir Vieles nicht vorstellen.

Und nun? Ich liebe nun großzügig, beinahe schon hemmungslos.

Ich liebe ohne nennenswerten Grund seit Wochen katholische Unterhosen und geschmacksneutrale Ravioli in Dosen. Ich liebe, liebe, liebe Ungeheuerlichkeiten und massive Streitigkeiten. Auch Mörder lieb ich jetzt mit ganz anderen Augen und kann ihnen tatsächlich mit Leib und Seele vertrauen. Mein Liebesleben ist laut Fettgedrucktem in der Vereinssatzung…

… dermaßen Hammer!

Ich war zunächst sprachlos, als ich es las, was mich erwartet, wenn ich regelmäßig die „Lieblinge“, diese Liebeskapseln einnehme. Ich komme z.B. früher oder später in den Liebeshimmel, nicht in die Hölle. Das wird mir nun garantiert. Da oben wird es für mich nur junge, gebildete Männer geben, die mich verwöhnen. Ich konnte leider bislang nicht das Kleingedruckte in der Klammer lesen, da ich keine kleinen Buchstaben mehr erkenne, seitdem ich diese Kapseln schlucke. Wahrscheinlich treffe ich da oben nur engelhafte Wesen. Egal! Jetzt geht es mir prima. Darf endlich andere lieben, die ich zuvor hasste. Wer mir vor die Brüste kommt, wird nun geknuddelt, gedrüxelt und gefühlsbetont gedrückt.

Es klingt zwar verrückt, aber ich liebe nun alles, was zuvor noch lebt und sich bewegt. Silberfischchen, die mir in meiner feuchten Kellerwohnung begegnen, die liebe ich viel mehr, als früher. Jetzt liebe ich sie mit Inbrunst. Ich liebe sie tatsächlich sehr. Das ist wirklich nicht schwer, wenn man sie nicht lieblos mit den Füßen zermatscht und zerdrückt. Sie fast zärtlich, gefühlvoll vom Boden aufhebt und danach mit den Fingern liebevoll durch ein Küchensieb schiebt. So mach‘ ich das sinnbildlich betrachtet auch in Zukunft mit Männern. Wenn man radikal liebt, sieht man vieles anders. Das liebevolle Handeln ist angesagt, wenn man Mitglied im Verein Radikaler Liebeswahn ist. Da gibt es verständlicherweise Richtlinien. Du veränderst Dich zwangsläufig und wirst zum Liebesgedöns-Spezialist, zur Fachfrau des Vereins.

Seit ich Mitglied bin, habe ich endlich Zeit für Liebenswürdigkeiten und viel mehr Gespür wie früher. Ich stelle mich sogar seit einer Woche in Fußgängerzonen, um Mitglieder zu werben. Dort lasse ich dann Liebeswahn- Drohnen mit Info-Material landen, um mit Interessierten radikal liebevoll anzubandeln. Ich lasse dann die ein oder andere Liebesbombe platzen. Liebesdragees fallen sogar spektakulär vom Himmel. Eine neue Werbeaktion…

© Corina Wagner, Januar 2015, Fiktive Kurzgeschichte

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Geschrieben von

Corina Wagner

Wer das Wort Alphabet buchstabieren kann, ist noch kein/e Autor/in. (C.W.)

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