Outing
Heute möchte ich die Gelegenheit nutzen und mich outen. Es liegt wohl am Datum. Gute Vorsätze will ich im neuen Jahr umsetzen. Mein Name ist Lioba Lieblich (Name geändert). Es ist Winterzeit. Januar. Die Jetztzeit ist kein Schnee von gestern, aber auch kein Blitzeis von Morgen, sondern eher eine Rutschpartie zum Abtriften ins Jenseits. Keine Angst. Ich werde es nicht tun. Ich werde mir auch nicht die Zunge spalten lassen.
Vor knapp vier Wochen habe ich mich dem Verein Radikaler Liebeswahn angeschlossen und die damalige Aufnahme mit voller Liebe genossen. Es ist keine Bruder- oder Schwesternschaft, aber so ähnlich. Eine Interessengemeinschaft, die Liebe bietet. Lange musste ich nicht überlegen, als man mich in der Fußgängerzone ansprach und mir das Buch der apodiktischen Liebe schenkte. Ich kam gerade vom Weihnachtsmarkt und war in Glühweinlaune, als mich diese gepflegte Erscheinung, ein gut aussehender Herr ansprach. Jeder hätte in meinem momentanen Zustand sofort unterschrieben. Da bin ich mir ziemlich sicher.
Zu diesem unterschriebenen Mitgliedsantrag gab es noch einen herzigen Adventskalender in dem ganz viel Liebe zum Detail steckte, auch eine große Dose Liebeskapseln, eine CD mit Love-Songs und sogar noch eine praktische Baumwolltasche mit der Aufschrift LIEBESABENTEUER. An Ort und Stelle habe ich es tatsächlich getan, quasi im Glühweinrausch. Ich habe an diesem Stand der RL-Sekte total spontan den Mitgliedsantrag unterschrieben. Das Kleingedruckte konnte ich im Dunkel wahrlich nicht mehr lesen. Nach vier Tassen Glühwein und einer randvollen Tasse Feuerzangenbowle kein Wunder, so vermute ich.
Dieser Typ war aber auch wirklich zum Verlieben. Er hatte diesen „Ich lieb‘ Dich ohne wenn und aber-Gesichtsausdruck“ super gut drauf und zog mich dadurch magisch an. Vielleicht lag es auch an seinem Zahnpasta-Lächeln. Er sah so extrem unschuldig aus, wirkte auf mich wie ein heiliggesprochener Politiker, ein Wesen aus einer anderen Zeit. Ihn störte auch nicht, dass mein Wintermantel von oben bis unten mit Senf bekleckert war und an meiner schief aufgesetzten Weihnachtsmütze Zuckerwatte haftete. Ich roch dezent nach Lama-Kacke. Da ich zuvor in einen lauwarmen Haufen trat, der für mich nicht mehr erkennbar mitten im Weg lag. Zirkusleute standen mit einigen Tieren in der Fußgängerzone und sammelten Geld für das Winterquartier ihrer Tiere. Seine Aura kann ich wirklich nicht beschreiben. Nicht die Aura des Lama-Männchens, sondern dieser hübschen Erscheinung des Werbebotschafters vom Verein radikaler Liebeswahn. Man muss es erlebt haben. Ich war damals von seinem Anblick überwältigt, lag wohl auch an meinem Glühweinkonsum auf dem Weihnachtsmarkt.
Drei Tage später hielt ich vor 750 Gleichgesinnten in einer Tiefgarage ein Statement über bedingungslose Liebe und blieb deswegen nach Vorschrift barfuß auf einem aufgeklebten blutroten Schmollmund mit den Füßen kleben. Barfuß im Winter in einer eiskalten, schummrigen Tiefgarage zu stehen, ist schon irre genug, könnte man denken. Unfassbar! Eigentlich realitätsfremd, was ich getan habe. Eine bizarre Situation, wenn man nachträglich darüber nachdenkt. „Das machen die dort immer so…“, hat man mir auf Nachfrage mitgeteilt. Es gab eine plausible Erklärung. Wegen der Bodenhaftung beim Reden der Neulinge, so lautete die Antwort. Auf Eiseskälte wird grundsätzlich keine Rücksicht genommen. Es gibt dann generell zuvor für alle Neulinge Liebespunsch. Dieser rote Schmollmund kam mir so sonderbar vor. Ich hatte allerdings schon 5 Liebeskapseln intus und zwei Tassen vom leckeren, heißen Liebespunsch.
Später erfuhr ich von einem Insider, dass dort jemand zuvor beim Rückwärtseinparken sauer war und die Katze im Sack überfuhr, die man mir mitgebracht hatte. Es war alles so glaub- und liebenswürdig, als mich die anderen Vereinsmitglieder in der Tiefgarage netterweise in und auf den Arm nahmen. Diese kollektive liebevolle Begegnung war der reinste Wahnsinn. Diese mir entgegen gebrachte Zuneigung begeistert mich nach wie vor irgendwie tief im Inneren. Dort wo die Wahrnehmung zu gern gestört wird, wenn man verliebt ist. Wahnsinn! Es lag vielleicht auch an den Liebeskapseln, die Pflicht sind, wenn man dazu gehören will. Dreimal täglich soll man fünf Kapseln einnehmen, wenn man Mitglied ist. Eine feine Dosis.
Ich lebe und liebe nun nach Satzung. Und das ist echt geil, einfach klasse. Ich hasse nicht mehr, sondern liebe nun alles. Ich liebe neuerdings den fetten Bullterrier und sein Herrchen, den widerlichen Nachbarn mit der tätowierten 88 auf dem Oberarm. Witzigerweise liebe ich den Hassprediger aus dem Multikultihaus Schöner Schein und diejenigen aus dem Proletariat, die hetzen und heimlich ihre Messer wetzen. Ich liebe neuerdings Kakerlaken, diese zierlichen Dinger auf einem meiner Finger, wenn ich in meinem neuen Lieblingslokal aufs Essen warte wie gestern Abend. Früher hätte ich hysterisch geschrien. Jetzt liebe ich sie mit Haut und Fühler. Das ist herrlich, aber ehrlich gesagt, auch eigentlich entbehrlich.
Ich liebe plötzlich Märtyrer, Despoten, Führer, weil das laut Satzung keine Pappnasen sind und Liebe macht ja bekanntlich blind. Deshalb lässt auch meine Sehkraft nach. Eigentlich ein medizinisches Thema. Ich blicke nicht mehr überall durch, aber das stört mich nicht wirklich. Dafür liebe ich nun alles. Diese Liebeskaspeln kann ich nur empfehlen. Sie lenken vom Alltag ab. Jene Philosophie, die dahinter steckt, habe ich wahrlich noch nicht relativiert. Der erste Vorsitzende vom Verein Radikaler Liebeswahn nimmt diese Kapseln nicht ein. Er sagte zu mir grinsend, dass er als Vorsitzender die „Lieblinge“ nicht dreimal täglich einwerfen kann. Eigentlich verständlich, wenn man weiß, welche Berufe er ausübt. Er arbeitet drei Stunden am Tag als diplomierter Hellseher. Er gehört weltweit zu den qualifizierten, angesehenen Weltuntergangsverstehern. Zwei Stunden am Tag arbeitet er als V-Mann und die restlichen Stunden als Betreuer. Keine Ahnung, wen oder was er genau betreut. Vermutlich radikal liebevoll. Er tut auch mir und meinem Bankkonto gut. Er ist mein Seher, mein Visionär, mein Gesamtbild-Versteher, eigentlich auch mein Betreuer. Ich bin wirklich total begeistert von ihm. Ich habe es noch nicht bereut, dass auch er mein Erspartes, meine Geldanlagen aus reiner Liebe verwaltet. Früher hätte ich dies nie zugelassen. Ich habe mich in seine eiskalten Augen total verliebt. Ich könnte sogar für ihn eines Tages sterben. Das hätte ich mir früher in meinem alten Leben nie vorstellen können. Da konnte ich mir Vieles nicht vorstellen.
Und nun? Ich liebe nun großzügig, beinahe schon hemmungslos.
Ich liebe ohne nennenswerten Grund seit Wochen katholische Unterhosen und geschmacksneutrale Ravioli in Dosen. Ich liebe, liebe, liebe Ungeheuerlichkeiten und massive Streitigkeiten. Auch Mörder lieb ich jetzt mit ganz anderen Augen und kann ihnen tatsächlich mit Leib und Seele vertrauen. Mein Liebesleben ist laut Fettgedrucktem in der Vereinssatzung…
… dermaßen Hammer!
Ich war zunächst sprachlos, als ich es las, was mich erwartet, wenn ich regelmäßig die „Lieblinge“, diese Liebeskapseln einnehme. Ich komme z.B. früher oder später in den Liebeshimmel, nicht in die Hölle. Das wird mir nun garantiert. Da oben wird es für mich nur junge, gebildete Männer geben, die mich verwöhnen. Ich konnte leider bislang nicht das Kleingedruckte in der Klammer lesen, da ich keine kleinen Buchstaben mehr erkenne, seitdem ich diese Kapseln schlucke. Wahrscheinlich treffe ich da oben nur engelhafte Wesen. Egal! Jetzt geht es mir prima. Darf endlich andere lieben, die ich zuvor hasste. Wer mir vor die Brüste kommt, wird nun geknuddelt, gedrüxelt und gefühlsbetont gedrückt.
Es klingt zwar verrückt, aber ich liebe nun alles, was zuvor noch lebt und sich bewegt. Silberfischchen, die mir in meiner feuchten Kellerwohnung begegnen, die liebe ich viel mehr, als früher. Jetzt liebe ich sie mit Inbrunst. Ich liebe sie tatsächlich sehr. Das ist wirklich nicht schwer, wenn man sie nicht lieblos mit den Füßen zermatscht und zerdrückt. Sie fast zärtlich, gefühlvoll vom Boden aufhebt und danach mit den Fingern liebevoll durch ein Küchensieb schiebt. So mach‘ ich das sinnbildlich betrachtet auch in Zukunft mit Männern. Wenn man radikal liebt, sieht man vieles anders. Das liebevolle Handeln ist angesagt, wenn man Mitglied im Verein Radikaler Liebeswahn ist. Da gibt es verständlicherweise Richtlinien. Du veränderst Dich zwangsläufig und wirst zum Liebesgedöns-Spezialist, zur Fachfrau des Vereins.
Seit ich Mitglied bin, habe ich endlich Zeit für Liebenswürdigkeiten und viel mehr Gespür wie früher. Ich stelle mich sogar seit einer Woche in Fußgängerzonen, um Mitglieder zu werben. Dort lasse ich dann Liebeswahn- Drohnen mit Info-Material landen, um mit Interessierten radikal liebevoll anzubandeln. Ich lasse dann die ein oder andere Liebesbombe platzen. Liebesdragees fallen sogar spektakulär vom Himmel. Eine neue Werbeaktion…
© Corina Wagner, Januar 2015, Fiktive Kurzgeschichte
Kommentare 14
Liebe Corina,
ich fürchte um Dich! Wo bleibt die Ratio? Wie kannst Du Dich allen Hergelaufenen an den Hals werfen?
Hast Du schon einmal von Konsumterror gehört, bzw. Liebes-Konsumterror? Oder vom unbedingten Staatsvertrauen, bzw. Liebes-Staatsvertrauen mit seiner Vorsteherin? Hast Du den Begriff Kapitalismus schon einmal gehört, den glitzernden? Bzw. vom Liebes-Kapitalismus, angeführt von einem Herrn namens Kill Kate, nicht Kill Corin?
Liebe Corina, Du scheinst auf ein gefähliches Abstellgleis abgedriftet zu sein. Ich muss mit Deiner Familie sprechen, damit sie ihre wichtigste Vorsteherin wieder auf Vorderfrau bringt.
Ach wie herrlich ist doch die COLYRIK! Ohne die können wir nicht über den Winter kommen.
LG, CE
"...Ich komme z.B. früher oder später in den Liebeshimmel, nicht in die Hölle. Das wird mir nun garantiert. Da oben wird es für mich nur junge, gebildete Männer geben, die mich verwöhnen...."
Die nehm ich auch gern, im Dutzend. Vom Rest nehm ich eher Abstand, zuviel Liebe kann nicht gut sein, denk ich ;-))
Und vor 750 Leuten red ich eh nich, da hyperventilier ich höchstens noch...
Lieber CE,
och mein Guter, Du musst Dich nicht für mich fürchten. :-) Alles nur fiktiv verfasst. Es wäre ja unzumutbar, wenn ich so einer Geheimsekte angehören würde, wenn ich wildfremden Menschen in der Fußgängerzone das Buch der apodiktischen mit nebulösen, undefinierbaren Liebeskaspeln – oder Dragees aufdrängen würde. :-) Unerträglich, wenn ich daran denke, dass ich einen Führer, einen Despoten anhimmeln würde. :-) Allerdings trügen vermutlich diese Liebeskaspeln zu einer dumpfen, verschleierten Wahrnehmung im Alltagsleben bei, die vorzüglich ins politische Denken einiger Machtmenschen passen würden. :-) Ich will mir dieses Szenario nicht im ganz großen Stil vorstellen. Es gibt schon genügend große Sekten, Gruppierungen, deren Anhänger ganz gewaltig in ihrer Wahrnehmung gestört sind. Wenn ich in diesem Zusammenhang an so manchen Diktator denke: Oweia! :-)
Ganz liebe Grüße in die Ferne…
Corina
Liebe Anchesa,
hm, ähm, dachte ich mir schon, dass Dir dieser Ausblick in den Liebeshimmel gefällt. :-)
Wenn Weinbergschnecken auf einer Speisekarte stehen, dann nimmt man automatisch gern ein Dutzend, wenn man diese verköstigen kann. Das Fleisch ist zart und dann mit Kräuterbutter ummantelt im eigenen Häuschen serviert – für manche einen Gaumenfreude. Obwohl ich jetzt nicht unbedingt junge, gebildete Männer mit Weinbergschnecken vergleichen möchte, die sind ja biologisch betrachtet Zwitter...
„Und vor 750 Leuten red ich eh nich, da hyperventilier ich höchstens noch...“
Gegen das Hyperventilieren empfehle ich autogenes Training oder eingeübte Sprüche, die man vor einem Auftritt in Gedanken abrufen kann. Wie z.B.: „Ich bin innerlich sicher, ruhig und stark!“. :-) Früher hatte ich auch Panik, wenn ich nur daran dachte, dass ich vor vielen Menschen singen muss. Inzwischen habe ich viele Techniken ausprobiert, um nicht vor dem Publikum bereits zu sterben, bevor ich nur einen Ton gesungen habe. ;-) Ich kann Dir beschreiben wie es sich anfühlt, wenn man vor 750 Leuten in einer überfüllten Kirche singt. Zuvor hatte ich starkes Herzklopfen, butterweiche Knie und das Gefühl, dass ich keinen Ton herausbekomme, wenn ich singen muss. Es war so, als schnüre mir jemand den Hals zu. Doch dann hab‘ ich mir vorgestellt, dass die Leute, die VeranstaltungsbesucherInnen alle nackt, völlig unterbelichtet, stocktaub und blind sind. Ich habe nicht hyperventiliert...
:-)
Bislang habe ich vor 500 Leuten während eines Poetry Slams gesprochen… :-) Ich sah auf der Bühne stehend vom Publikum nicht viel, da die Scheinwerfer so blendeten. Man ahnt nur, dass da ganz viele Leute zusehen und zuhören, wenn man den Text vorträgt. :-) Es kommt also immer darauf an, wo man steht und spricht... ;-) Erst dann kann man spontan über das Hyperventilieren nachdenken und sich dafür entscheiden... :-)
Ganz liebe Grüße
Corina
Liebe Corina,
wir können uns ja einmal in Ulm in die Fussgängerzone stellen und Pillen zum besseren Verstehen des Kapitalismus verteilen. HartzIV, die Tafel, die niedrige Rente, das alles bedarf der richtigen Erläuterung, auch Asylpolitik und Abschiebung, damit der Untertan sich anschliessend so richtig wohlfühlt und liebestrunken über die Republik Dankesschreiben en masse nach Berlin verfasst.
Halte Geist und Herz auf Trapp!
LG, CE
:-)
Lieber CE,
puh! Das ist aber meiner Ansicht nach ziemlich "komplizierlich", also diese Herstellung von wirksamen Pillen für das bessere Verstehen... :-)
Ganz liebe Grüße
Corina
Kein Problem,
von Fussgängerpassagen und Anpöbelei, ich meine natürlich Marktschreierei, gegenüber Konsumenten habe ich einschlägige Erfahrung. Die Pillen können und sollten verbaler Natur sein, damit sie der Luftzug durch die Passage weht. Du könntest das durchaus auch singender Weise veranstalten, während ich dazu die Trommel schlage und in tiefem Sprechgesang daherkomme.
Umarmung für die gesamte Familie. Halte den Gatten und die Buben an kurzer Strippe, sonst flippen die aus! Noch ist kein Frühling.
CE
"...dass die Leute, die VeranstaltungsbesucherInnen alle nackt, völlig unterbelichtet, stocktaub und blind sind...."
Na bei stocktaub würd das Singen aber auch keinen Sinn machen ;-))
Lustig ganz gerne gelesen. Hat auch ein bißchen etwas Komödienhaftes. Zumindest könnte Deine Geschichte den Drahtzieher einer Kommödie charakterisieren.
Viele Grüße
Armin
:-) ...hilft aber gegen Lampenfieber! :-)
LG
Corina
Lieber Armin,
schön, dass Du Dich über die Geschichte amüsieren konntest. :-)
Viele Grüße in den Pott!
Corina
Und bei Stocktauben könnt selbst ich singen. Werden einfach alle Hörenden ausgesperrt und keiner merkt, dass ich eigentlich nicht singen kann :-D
Liebe Anchesa,
jeder Mensch kann singen, also fast jeder...
Du kannst bestimmt viel besser, als einst die legendäre Florence Foster Jenkins:
https://www.youtube.com/watch?v=Yl2-m8MkEiA
:-)
Ganz liebe Grüße
Corina
Im Auto schon, aber im Moment hab ich Probleme mit den Stimmbändern...
Danke für den Link ;-)