Scheunentor

CoLyrik-Kurzkrimi Mancherorts ist es üblich, dass man besser nur Banales sagt, wenn man gefragt wird, ob man etwas Wichtiges beobachtet hat. Ungeklärte Mordfälle stressen nur ...

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Scheunentor

Punkt Zwölf und keine Sekunde später ertönte die Sirene. Probealarm! „Echt ätzend!“, dachte Kurt Beil und ritzte ein kleines Hakenkreuz auf den alten Holztisch in der Scheune. Was hatte er nicht schon alles abgefackelt? In ganz Deutschland setzte er seine Brandzeichen, wie Rüden ihr Beinchen heben, wenn sie ihr Revier abstecken. Seinen Freunden von der hiesigen Feuerwehr ging nie das Bier aus und ihm nie der Brandbeschleuniger, wenn er nicht gerade Blutleere verspürte. Wenn das Hirn kaum durchblutet wurde und er mit seinen wahnwitzigen Gedanken in anderen Sphären unterwegs war, wie jetzt in diesem Augenblick. Deshalb verzierte er das Hakenkreuz mit Vergissmeinnicht-Ornamenten und dachte dabei an seinen alten Kumpel Heinz Krass. Neulich hatte man seine Bein-Prothese samt Oberschenkel nachts auf dem Dorfplatz gefunden. Genau vor der alten Eiche wurde der Leichenfund unter der verwitterten Holzbank entdeckt. Drei angetrunkene Jugendliche wollten dort ursprünglich eine Palette Dosenbier vernichten, die von einer Party übrig blieb.

Der fünfzehnjährige Max, Sohn des Bürgermeisters, rief sofort per Handy seinen ehrgeizigen Vater an, der zehn Minuten später zum Tatort erschien. Er entschied sich spontan für die typische „Drei-Affen-Theorie“ und trichterte seinem Sohn und dessen Freunden ein, dass sie absolut nichts gesehen hätten. Danach rief Bürgermeister Dreist bei der Polizeiinspektion an. Seine Version lautete zehn Minuten später, dass er mit Schäferhund Rudolf Gassi ging und dieser einen guten Riecher hätte. Es war sofort klar, dass dieser Leichenfund Stress verursachen würde. Erst kürzlich waren Pressevertreter im Ort und stellten komische Fragen. Sofort kamen Beamte vom LKA in den kleinen verträumten Ort und waren von den diversen Aussagen beeindruckt. Bürgermeister Dreist erklärte, dass seine Gemeinde vorbildsmäßig sei. „Ein Fremder müsse der Mörder sein!“, so sein Verdacht.

Kommissar Kugel reiste an. Und dies dauerte fast zwei Stunden, weil er es mal wieder nicht auf die Reihe bekam. Beginnende Demenz machte ihm zu schaffen, glaubte er zumindest. Vielleicht war er auch einfach überarbeitet. Er suchte zwanzig Minuten lang seinen Autoschlüssel, den er im Kühlschrank fand. Und dies nur, weil er noch einen Schluck Milch trinken wollte, um sich abzulenken. Dies tat er immer, wenn er Stress hatte. Milch beruhigte seine Nerven. Doch jene Verspätung des in die Jahre gekommenen Kommissars interessierte Kurt Beil zunächst überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Er schmiedete einen neuen Plan. Keiner durfte in seine Scheune. Jedenfalls jetzt nicht, wo noch alles wie auf dem Präsentierteller lag. Er hatte eine Menge Spaß, wenn er heimlich in seinem kleinen deutschen Reich agieren konnte. Über das Internet knüpfte er zwielichtige Kontakte und organisierte seit Monaten ein Nostalgie-Treffen im Vierziger-Stil. Bevor ein Polizist das große Scheunentor öffnen würde, müsste er noch dringend Änderungen vornehmen. Nach zwei Stunden sah man nichts mehr von seinen Tagträumen, seinen Vorlieben, die er mit anderen Irren im Netz teilte. Eine handgeklöppelte Tischdecke von Oma Hiltrud lag über dem uralten Holztisch.

Die Einwohner waren bislang stets sehr redselig, so dass es viele Hinweise auf alles Mögliche gab, aber nicht auf das Verbleiben der restlichen Leichenteile des Mordopfers Heinz Krass. Bis vorgestern früh blieben die Recherchen im Fall Krass erfolglos. Völlig unerwartet gab es einen mordsmäßigen Lärm im Backhaus. Einmal im Monat backen dort die Landfrauen gemeinsam Brote. Im uralten Backofen lag ein Torso und jener sah mit mehlbestäubten adipösen Bauch nicht wirklich gut aus, so die spätere Aussage von Frau Schmalz. Die Polizei rückte mit viel Getöse an und sperrte weiträumig das Gelände hinter Kurt Beils Scheune ab. Jedenfalls vermutete man sofort, dass dieses Leichenteil zu Krass Körper gehören musste.

Die junge Landfrau Eva schrie hysterisch auf, als Frau Schmalz die Tür des Backofens öffnete, um einzuheizen. Eva Krass erkannte ihren vermissten Vater an dem germanischen Zeichen auf der linken Brusthälfte. Rund um die Brustwarze sah man ein Tattoo mit Vergissmeinnicht-Ornamenten. Darüber stand die Zahl 88. Ihr Geburtsjahr, so gab die Tochter des Mordopfers zwei Stunden später in Gegenwart von Kommissar Kugel zu Protokoll. Kugels Augen rollten zunächst mit Unverständnis hin und her und verfingen sich im Dekolletee der jungen Krass. Dann räusperte er sich pflichtbewusst und fragte die Tochter des Toten, ob sie sich ganz sicher sei, dass die Zahl 88 tatsächlich eine Anspielung auf ihr Geburtsjahr sei. Dies bestätigte die junge Frau unter Tränen vehement. In jenem Moment hätte er sie zu gern in den Arm genommen, aber dies tat er natürlich nicht. Er griff beherzt kurz nach ihrer Hand und riskierte währenddessen nochmals einen tiefen Blick in ihren Ausschnitt. „Sie hätte ein anderes Oberteil anziehen sollen!“, dachte Kommissar Kugel und versicherte ihr, dass er den Fall bis ins kleinste Detail aufklären würde. Während des Verhörs fragte Kugel intensiv nach, warum ihr Vater eine Bein-Prothese trug. Eva Krass berichtete sehr emotional über den tragischen Autounfall. Damals starb auch Kurt Beils Freundin Maria, als das Fahrzeug in Flammen aufging. Die Anwälte stritten, wer nun an dem Unfall mit Todesfolge Schuld war. Ihr Vater Krass, der ohne Fahrerlaubnis fuhr oder der türkischstämmige Fahrer des Kleinbusses, der übermüdet unterwegs war. Bei dieser Aussage stutzte Kugel kurz, verfing sich aber wieder da, wo seine Augen nicht sein sollten. Kugel wirkte multitaskingfähig, da er den Telefonhörer in die Hand nahm, wählte und Eva Krass nebenbei erzählte, dass er die alte Akte Krass anfordern würde. Immer mit einem gezielten Blick ins Dekolletee, das ihn die ganze Zeit in den Bann zog. Nach dem Verhör öffnete er eine kleine Tetra-Verpackung mit H-Milch und nahm einen kräftigen Schluck, als sei es Medizin. Einen kleinen Seufzer konnte er dabei nicht unterdrücken.

Später saß er in seinem schäbigen Pensionszimmer mit dem Laptop auf seinem Schoß und kommunizierte zunächst mit seiner jungen Geliebten Gisela. Er hatte sich das Wochenende ganz anders vorgestellt. Jetzt saß er in einem winzigen Nest, das er ausheben sollte. Danach recherchierte er eine Zeit lang im Netz. Währenddessen fuhr Kurt Beil in den Wald und grinste wie ein Bullterrier. Gisela stand zwei Stunden später vor der Zimmertür, die zu Kommissar Kugels Pension-Zimmer führte. Sie brachte ihm angeblich wichtige Unterlagen, die aber auf dem kleinen Dienstweg sonderbarerweise wieder verschwanden, wie einen Tag zuvor die Originalakte des ermordeten Krass, dessen Kopf immer noch in der Pathologie fehlte.

Pathologin Bein musste sich übergeben, als man ihr den Torso auf den Tisch legte. Sie litt gerade unter einer schweren Migräne, dies erzählte Kollegin Gisela Braun ihrem Vorgesetzen Kugel, als sie zu ihm unter die Dusche stieg und ihm nach dem Einseifen versicherte, dass sie keine Ahnung hätte, wo die Akte Krass im Präsidium verloren gegangen wäre. Warum wurde dieser Mann nach seinem Tod zerteilt? Wo war der Kopf? Wieso erzählten die Einwohner dermaßen viel Banales und nichts Wichtiges, das zur Auflösung des Falls beitragen könnte? Gehörte Krass zu einer rechtsradikalen Gruppe, die in dem kleinen Ort eine Heimat gefunden hatte? Der Schützenverein nannte sich „Kameradschaft Kopfschuss“. Vieles deutete daraufhin, aber Kommissar Kugel kam im Fall Krass einfach nicht vorwärts, auch nicht mit seiner Kollegin Gisela, die in den frühen Morgenstunden über den Balkon die Pension verließ. Und zuvor nicht alle seine Gedanken teilen konnte. Er war einfach nicht bei der Sache und sah ständig diesen Torso vor seinem geistigen Auge. Seine Kollegin hatte sich diese Nacht eigentlich ganz anders vorgestellt. Schließlich hatte sie ihm heimlich den Wirkstoff Sildenafil in einem Glas Milch aufgelöst.

Nach dem Frühstück stattete Kommissar Kugel Schreinermeister Beil einen Besuch in dessen Werkstatt ab. Fazit des Verhörs waren wieder Belanglosigkeiten, die aber als Motiv für den Mord durchaus relevant sein könnten. Wieder einmal verging ein Arbeitstag in einem Kuhkaff, das anscheinend nur aus Lügen und Augenwischerei bestand, so sein persönlicher Eindruck. Manchmal hasste Kugel seinen Beruf. Jetzt ganz besonders, als er feststellte, dass der Akku seines Handys defekt war und er ganz alleine bei einem Glas Milch in der Dorfkneipe saß. Erst fehlte die Akte im Präsidium und nun entdeckte er vor wenigen Minuten, dass wichtige Daten gelöscht waren, die er auf seinem Laptop unter der Datei Mordfall Krass abgespeichert hatte.

Außer dem Wirt und ihm war keiner im Gastraum. Auf dem Tisch lag die einzige Verbindung zur Außenwelt. Sein Arbeitsgerät, sein Laptop, das ihm wichtige Informationen liefern sollte, brachte ihn inzwischen an seine Grenzen. Er wartete immer noch auf eine brisante E-Mail von Gisela. Inzwischen war es bereits dunkel und kurz nach 22 Uhr. Wer hatte Zugriff auf seinen Laptop? Wer ließ wichtige Hinweise verschwinden? Datenklau im Nirwana, da wo sich Füchse und Hase gute Nacht sagen, sich Springerstiefel paarweise unbeobachtet fühlten? All diese Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, als ihm der Wirt anstatt ein zweites Glas Milch dann ein Bier an den Tisch brachte und scheinheilig fragte, ob er keine Internetverbindung mehr hätte. Kugel wollte dem Wirt gerade antworten, als die Feuerwehr-Sirene ertönte.

Kommissar Kugel war fassungslos, hatte Tränen in den Augen, als er später den leblosen Körper des vierjährigen Mädchens sah, das bei dem Brand ums Leben kam. Die Kleine hatte schwere Brandverletzungen am gesamten Körper erlitten, sah völlig entstellt aus. Der alte Aussiedler-Bauernhof brannte lichterloh, so stand es später im Protokoll. Es gab vier Tote und drei Verletzte mit Rauchgasvergiftung. Sofort vermutete Bürgermeister Dreist, dass defekte Elektroleitungen zu diesem Brand führten, aber Spezialisten von der Spurensicherung entdeckten Reste von Brandbeschleuniger. Außerdem fand man wieder neue Indizien im Fall Krass. Wie ein Geschenk, in Glassichtfolie eingepackt, lag auf steinhartem Fladenbrot der Kopf des ermordeten Krass in einem Weidenkorb. Der makabre Präsentkorb stand unter dem Apfelbaum hinter dem Haus, das mutwillig angezündet wurde. Leere Dosenbier-Behältnisse wurden unweit des Apfelbaums sichergestellt.

„Ein total idyllischer Ort glänzte mit inzwischen fünf Toten.“, so die düstere Bilanz, die Knut Beil insgeheim aufstellte, als er grinsend in seiner aufgeräumten Scheune saß und genüsslich in ein Stück aufgebackenes Fladenbrot biss. Ganz nebenbei ritzte er mal wieder ein kleines Hakenkreuz auf den alten Holztisch, der inzwischen durch die vielen Vergissmeinnicht-Ornamenten kaum noch Platz für weitere Verzierungen bot. Danach legte er die Tischdecke wieder auf. Noch immer musste er damit rechnen, dass ihn Kommissar Kugel in der Scheune einen Besuch abstatten würde. Gleich wollte er in den Wald zum alten Bunker von dessen Existenz die wenigsten wussten. Die Blutleere in seinem Kopf zwang ihn zum Handeln …

© Corina Wagner, Juni 2013

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Corina Wagner

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