Schnee

CoLyrik-Kurzgeschichte Juchee! Endlich Schnee! :-)

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Schnee

„Juchee! Endlich Schnee!“, feixt Kerstin vor Freude, als sie gegen acht Uhr den Rollladen in ihrem Schlafzimmer hochzieht. Draußen ist endlich Winter eingekehrt. 15 cm Neuschnee, soweit das Auge reicht - überall Schnee. Diesen schönen Anblick hat sie sich schon seit Wochen gewünscht. Völlig spontan springt sie in die Luft und kann es kaum erwarten, dass sie die Balkontür zum Lüften öffnen kann. Sie will wenige Minuten später unbedingt einen Schneeball formen, um ihn anschließend für den guten Zweck einzufrieren. Sie will ihn bei www.schönsterschneeball.de versteigern. Blöd nur, dass sie in jenem Moment des überschwänglichen Luftsprungs keine Erinnerung daran hat, dass sie eigentlich wegen einer schmerzhaften Blockade des Iliosakralgelenks krankgeschrieben ist und außerdem seit Jahren ein bisschen mehr Gewicht auf den Rippen hat. Grandios! - was bin ich doch für ein unverwüstliches Energiebündel!“, denkt sie noch in der Luft stehend und blendet dabei total aus, dass das verordnete Analgetikum inzwischen nicht mehr besonders gut wirken kann. Das Schmerzmittel betäubt nichts mehr, stellt sie nun mit aufgerissenen Augen fest. In jener Sekunde des Aufpralls, als sie nach dem Luftsprung wieder auf den Füßen aufkommt, setzt wie aus dem Nichts heraus Schnappatmung ein, aber auch Tränen der Unvernunft.

Dieser eine Juchee-Augenblick löst eine extreme Schmerzattacke aus, die sie nun zu tiefst verflucht. Ein Urschrei ist die Folge, der alle im Haus zum Aufhorchen veranlasst. Hund Bruno, ein zehn Jahre alter Rottweiler, bellt sich jetzt die Lunge aus dem Hals und pinkelt währenddessen auf den teuren Perserteppich von Oma Gisela. Tochter Gaby erschreckt sich zeitgleich dermaßen ungelenk, sodass sie mit dem Kopf gegen eine leere Wodka-Flasche schlägt, die auf dem überfüllten Rollcontainer neben ihrem Bett steht. Jene fallende Flasche löst in ihrem unaufgeräumten Zimmer eine kleine Kettenreaktion bei diversen Utensilien aus. Diese endet durch das beherzte Eingreifen von Katze Minka mit einem Sprung auf den Laptop, der auf dem Boden liegt. Danach sieht Minka tierisch gut aus. Überall zieren Ketchup-Flecke ihr Fell.

Seit jener fiesen Blockade bei ihrer Mutter hat Gaby nun Ruhe. Kein Meckern über Flaschenberge, miefende Schmutzwäsche-Haufen, Verpackungsmaterial von Internetanbietern, dreckigen Tellern, leeren Fastfood-Behältnisse in ihrem Zimmer muss sie sich anhören. Kein Gekeife, das in ihrem Zimmer erschallt, nervt sie. Ihre Mutter Kerstin schafft neuerdings die Treppen nicht mehr bis nach oben unters Dach. Seit drei Wochen ist es ihrer geliebten Frau Mama auch völlig egal wie es bei ihr im Zimmer aussieht. Die während der Schmutzwäsche-Sammelaktion in ihrem Zimmer entstandene Blockade hat ihre Erziehungsberechtigte völlig außer Gefecht gesetzt. Tochter Gaby genießt nun ihr junges Leben in noch mehr Chaos - mit Deo freier, abgestandener Raumluft und dies gepaart mit ein bisschen Verwesungsgeruch von Currywurst und Dönerresten. Total grazy findet Gaby auch die vielen kleinen, putzigen Maden, die nun seit gestern unter ihrem Schreibtisch auf einer Pizzaschachtel herum wuseln. Die gelungene Aufzucht jener Lebewesen in übriggebliebenen Speisen nutze sie zum Trinken, dem Feiern mit Wodka.

Gaby steht auf, bahnt sich den Weg durch ihr Messie-Zimmer. Anschließend stützt sie sich am Türrahmen ab. Der Fünfzehnjährigen wird schwindlig. Sie hat unglaubliche Gleichgewichtsstörungen und starke Kopfschmerzen.

Zur gleichen Zeit wird auch ihrer Mutter Kerstin durch die extrem starken Schmerzen unerträglich schwindelig. Noch immer befindet sie sich im Schlafzimmer ein Stockwerk tiefer vor der Balkontür. Mit ihren 152 kg Eigengewicht schafft sie es gerade noch Halt an einem Übertopf mit einer weißen Orchidee zu suchen, der als Abschluss auf dem Ende der Fensterbank direkt neben ihr steht. Sie krallt sich dort mit den Fingern der linken Hand fest, als gäbe es kein Morgen mehr. Ein schwieriges Unterfangen. Der Blumentopf kommt natürlich ins Schwanken, aber auch sie. Gabys Mutter hat keine Zeit mehr zu schreien oder wegzulaufen, in Sicherheit zu humpeln. Sie schlägt zunächst mit voller Wucht, keineswegs ungebremst mit dem Kinn auf der Bettkannte auf, um dann mit voller Power wie eine Panzersperre vor die Balkontür zu fallen. Filmreife Szene. Ihr Mund öffnet sich danach sehr weit, aber nicht deshalb, um unter Schock in diesem Moment nach Hilfe zu schreien. Nein. Sie spuckt ein Zahn nach dem anderen mit einem Gemisch aus Blut und Speichel gegen die Fensterscheibe der Balkontür. Dabei verdrängt sie, was sie eigentlich ursprünglich machen wollte, als sie nach draußen sieht und feststellt, dass es wieder schneit. Eine kurze Atempause entsteht und danach gibt sie innerlich, aber auch äußerlich zu, dass sie nicht mehr kann. Sie kann einfach nicht mehr. Der Tag ist gekommen. Sie will niemals mehr aufstehen, aber auch anscheinend ihre Tochter nicht mehr, die nur noch ein Ziel verfolgt. Gaby will zurück in ihr kuscheliges Bett. Der Urschrei ihrer Mutter, das aggressive Bellen von Bruno, aber auch der heftige Donnerschlag im Schlagzimmer der Mutter, der sie an ein Erdbeben erinnert - alle diese Wahrnehmungen veranlassen sie zum Rückzug in ihr Bett und somit schwankt sie völlig benommen ins pure Chaos zurück. Da kann sie auch ihre Katze Minka nicht mehr aufhalten, die genau vor ihre nackten Füße die zuvor geschluckten Maden wieder herauswürgt…

© Corina Wagner, Januar 2018

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Geschrieben von

Corina Wagner

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