Weltfrauentag

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Weltfrauentag 2019 - Trommelwirbel! Fanfaren erklingen! Frauen singen Kampflieder…

Heute ist es wieder so weit: Männer gratulieren zum Weltfrauentag. Küsschen hier und Küsschen da - danach gibt’s gratis blablabla…

Toll, denkt Frieda Mustermann (Name geändert). Inzwischen ist sie 38, hat drei Kinder, arbeitet halbtags als Bodenkosmetikerin und spät abends immer seltener als Dienstleistungsdame. Ihre Minijobs füllen die Abende und Nächte aus. Tagsüber betreut sie ihre Kinder, pflegt ihre kranke Mutter und agiert als Hausfrau. Heimlich eignet sie sich Wissen an. Den Satz des Pythagoras kann sie inzwischen erklären. Mathematik ist ihr Steckenpferd. Neuerdings liest sie morgens immer auf der Toilette seitenweise in vergilbten Reclam Heftchen, die ihr ein Germanistik-Professor vor lauter Euphorie schenkte. Sie hatte ihn zuvor mit Zitaten von Goethe in seinem Arbeitszimmer befriedigt. Also sprach Zarathustra von Friedrich Nietzsche ist nun ihre neue Klolektüre, die sie keineswegs wie ein Pornoheftchen vor ihren Kindern versteckt. Ihre frühmorgendlichen Sitzungen im Bad werden mittlerweile immer länger, da sie beim Lesen der Lektüre beinahe einschläft und sich dann durch Tagträume wachhält.

Sie träumt von einem besseren Leben, hätte gerne Abitur gemacht und studiert, wäre jetzt mit 38 bereits in einer Führungsposition, wenn sie nach dem Studium alles richtig gemacht hätte. Dabei blendet sie aus, dass es immer noch nicht wirklich überall Gleichberechtigung für Frauen gibt, obwohl dies im Grundgesetz verankert ist. Frauen verdienen nach wie vor viel weniger als Männer, leisten viel mehr, um in einer Männerdomäne nach oben zu kommen.

Ursprünglich wollte Frieda Radiologin werden, als Kind zumindest äußerte sie diese Idee, aber ihr ungebildeter Vater meinte damals, dass Mädchen keine Ahnung von Technik hätten und es völlig ausreichen würde, wenn sie wüsste wie man ein Radio ein- und ausgeschaltet. Seiner Ansicht nach sollte sie sofort nach der Volksschule Hausfrau und Mutter werden. Er war sehr konservativ. Von Strahlenheilkunde hatte er keine Ahnung, auch nicht wie man ein intelligentes Mädchen erzieht.

Ihre Klugheit verkümmerte ein bisschen, da sie sich in der Schule jeden Tag aufs Neue total langweilte. Früh erkannte sie, dass es für sie besser gewesen wäre, wenn sie als Junge zu Welt gekommen wäre. Sie war die Erstgeborene. Ihre Mutter gebar ein Mädchen nach dem anderen. Ihr Vater wurde von Schwangerschaft zu Schwangerschaft immer aggressiver. Nach der neunten Schwangerschaft war endgültig Schluss. Ihr Vater schlug die Mutter derart brutal zusammen, so dass sie sich davon nie mehr richtig erholte. Seine harte Hand schlug zu oft grundlos aus, so lange, bis er eines Tages nach einem Streit mit Frieda vor Wut blindlinks die Kellertreppe herunterfiel und sich dabei das Genick brach. Ihre Mutter hatte ihm still und leise mit ihrem Gehstock ein Bein gestellt. Jubeln konnte Frieda wahrlich nicht, denn sie musste noch mehr schuften, da sie die älteste Tochter ist.

Ihre Schwestern wuchsen fortan mit weniger Gewalt auf, aber die eine oder andere Schwester erlebt Gewalt durch Männer. Alle neun Schwestern leisten bis heute unbezahlte Hausarbeit, sind zum Teil alleinerziehende Mütter und wissen jetzt schon, dass sie von Altersarmut bedroht sind. Keine der Schwestern konnte studieren, obwohl sie klug genug dafür gewesen sind. Es sind keine Einzelschicksale, doch diese Tatsache tröstet sie nicht.

Frieda wird etwas unsanft aus ihrem Tagtraum geweckt. Sie hatte das Handy mit ins Bad genommen, damit sie für ihre Freier jederzeit erreichbar ist. Frieda nimmt das Handy in die Hand und meldet sich mit einem freundlichem HALLO. Danach hört sie: „Liebes, alles Gute zum Weltfrauentag!“ Geradezu zärtlich klingen diese Worte am anderen Ende der Leitung eines Karrieretyps, der ein großes Unternehmen leitet. Die Betonung seiner sonoren Stimme lag auf Liebes und Frieda weiß genau, dass diese Stimme zu einem Mann gehört, der in seinem Unternehmen Frauen schlecht bezahlt und seine Frau mit ihr betrügt. Frieda antwortet ihm mit den Worten: „ Schnuffel, Sie rufen außerhalb meiner Geschäftszeiten an.“ Danach schaltet sie das Handy aus und nimmt das nächste vergilbte Reclam-Heftchen in die Hand. Dann liest sie laut vor: "Weh dem, der lügt!"

© Corina Wagner, 8. März 2019

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Geschrieben von

Corina Wagner

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