Zehn vor Zwölf - Tagebuchnotizen

CoLyrik Tagebuchnotizen sind nicht selten, auch keine Kettenbriefe. Der "Weltuntergang" rückt immer näher und das Fest der Liebe. Felicitas beschreibt ihre Gedanken ...

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Zehn vor Zwölf

Aus dem Tagebuch von Felicitas

Langsam wird es eng, knapp und allerhöchste Eisenbahn, wenn ich in die Winterlandschaft starre.

Gestern erreichte mich ein Kettenbrief. Früher bekam man solche angsteinflößenden Briefe per Post.

Heute geht es auf dem elektronischen Weg. Ich habe schon öfters Kettenbriefe erhalten. Meistens schlafe ich anschließend drei Tage schlecht, wenn ich diese ignoriere. Ich bin so ein Typ, der solche Briefe nie weiterleitet und dann plötzlich leidet. Hautnah spüre ich spontan eine total negative Veränderung. Ohne Vorwarnung glaubt man an den eigenen Zerfall, reagiere stets sehr sensibel auf die Außenwelt. Man schaut in den Spiegel und denkt: O mein Gott! Gibt’s dich tatsächlich so?

Tagtäglich gibt es Situationen, die ich für völlig überflüssig halte, aber sie passieren schlicht. Man ignoriert aus Prinzip einen Kettenbrief und später geschehen Dinge, die zum Grübeln animieren. Ich hole einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Aus heiterem Himmel stürzt er vor der Kühlschranktür zu Boden. Spätestens dann, wenn es überall klebt, bietet sich eine kurzweilige Gelegenheit über sein Leben nachdenken. Zufall? Oder kündigt sich der Weltuntergang an?

Manche nutzen jene katastrophalen Augenblicke nicht wirklich aus, wenn zum Beispiel kurz nach dem Aufstehen ein komisches Erlebnis wartet. Die mit Butter und Muttis Marmelade bestrichene Scheibe Brot fällt völlig unkontrolliert aus den Fingern. Jene Sekunden des Höhenflugs könnte man gedanklich gut investieren, darüber nachzudenken, warum es so ist, wie es ist. Warum flutscht die Scheibe Brot aus den Händen und landet auf dem Designerteppich? Waldbeerenfrüchte mit einem Hauch von Gourmet-Schnickschnack in Geleeform hinterlassen eklige Flecke so kurz vor Weihnachten.

Doch hat man dies kaum überwunden, fließt schon der heiße Kaffee über die Zeitung, weil ich ja stets träume. Dies kann nerven.

Einzelschicksal oder Massenphänomen? Nicht alle Menschen essen Marmelade zum Frühstück, aber rein theoretisch hätte zum Beispiel ein Hirsebrei quer durch die Botanik den Abgang machen können. Oder verschmutztes Wasser wahrhaftig in einem staubbedeckten Boden versickern müssen.

Seit gestern ist alles anders. Ich bin hin und hergerissen. Warum wurde ich ausgewählt? Ich bekam einen Engel-Kettenbrief via E-Mail. Ein Wink, so kurz vor dem 21. Dezember? Manno! Dabei war ich gestern absolut nett, als ich nur den nackten Hintern meines Ex-Freundes bei facebook postete.

Beinahe hatte ich dieses gewisse Datum verdrängt und freute mich intensiv auf das bevorstehende Fest der Liebe. Ich frönte wie jedes Jahr dem alljährlichen Kaufrausch und mischte mich bislang wie immer überall ein. Nur nicht politisch. Das ganze Lametta-Getue tangiert mich nun nur peripher. Und mal ehrlich, glänzen kann man auch anders.

Gerade noch rechtzeitig erreicht mich diese Engelbotschaft. Noch ist es nicht zu spät.


„Bitte lies, es ist kein Scherz. Ein Engel hat bemerkt, dass du mit etwas
kämpfst.
Er sagt, dass es vorbei ist. Du erhältst seinen Segen“

Ach Du meine Güte. Bislang ignorierte ich immer die Kettenbriefe und jetzt? Ich kämpfe angeblich mit etwas und ein Engel bemerkte dies. Natürlich kämpfe ich innerlich mit etwas. Gleich muss ich auf’s Klo. Dann fühle ich mich besser. Oder auch nicht. Ich kämpfe doch insgeheim mit vielem, so auch mit dem fettreduzierten Plätzchenteig oder mit der doofen Sparlampenbeleuchtung im Vorgarten. Jetzt hab‘ ich die ganze Zeit Strom gespart, dann hau‘ ich doch nicht wie meine Nachbarn das Geld über Weihnachten wieder raus. Nur weil ich auffallen möchte. Die Energieversorger reiben sich die Hände. Und doch! So ein solarbetriebener überdimensionaler beleuchteter Friedensengel, den man weltweit sehen könnte, würde mir gefallen.

Gestern steckten zum Beispiel wegen meiner Schusseligkeit unerwartet Kakteennadeln in meinem Zeigefinger. War dies ein Zeichen? Es dauerte eine Weile bis die Ansammlung von Nadeln mit einer Pinzette entfernt waren. Gestern Abend hätte ich darüber in meinem Tagebuch schreiben können, aber…? Dieses aber kommt immer dazwischen. Dabei hatte ich Zeit über das Leben nachzudenken. Eigentlich geht es mir gut. Ich sitze im Warmen und kann mir die Heizkosten leisten. Ich wohne zentral ohne Selbstmordattentäter in Glühweinlaune und so. Bis auf ein paar Hutzelbrotterroristen, die mir auflauern könnten, geht es mir echt super. Warum sollte ich den Engel-Kettenbrief weiterleiten?

„Wenn du an Engel glaubst, sende diese Nachricht weiter, bitte ignoriere sie
nicht, du wirst geprüft.
Der Engel wird zwei - große - Dinge heute Nacht in deinem Sinne regeln.“

Auf den Weltfrieden könnte ich hoffen und auf die Unsterblichkeit… Letzteres wäre unzumutbar.

Was passiert nach dem 21. Dezember mit meinem Tagebuch?

© Corina Wagner, Dezember 2012

"Schmunzelbeitrag"

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Geschrieben von

Corina Wagner

Wer das Wort Alphabet buchstabieren kann, ist noch kein/e Autor/in. (C.W.)

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