Blumige Worte für Titti

Indiarallye Verschiedene Wege führen zum Ziel – eine Zugfahrt quer durch Indien führt in die Kunst der spontanen Entspannung und des charmanten Schmierens ein. Beides will geübt sein

Wenn es ein Land gibt, in dem das Leben nicht gelebt, sondern darum gespielt wird, dann ist es Indien. Dort sind die Busfahrer keine Busfahrer, sondern eine Horde Untoter, die aus der Unterwelt hervor gekrochen sind, um auf der Erde Rennen zu veranstalten. Dort sind Lastwagen heilige Kühe, die trotz ihrer Unantastbarkeit jedesmal unbarmherzig überladen werden und deren Fahrer deswegen ständig schlecht gelaunt sind. Dort vibriert die Luft vom ständigen Hupen, dort gibt es jedes Jahr über 100.000 Verkehrstote. Und dort ist man heilfroh, dass es eine Eisenbahn gibt.

Diese heißt Indian Railways und bringt täglich ungefähr 20 Millionen Menschen von Baramulla im Norden Kaschmirs nach Kanyakumari im südlichsten Zipfel und von Jaisalmer kurz vor Pakistan bis zur Grenzstadt New Tinsukia im äußersten Westen. Auf dem 63.327 Kilometer langen Streckennetz fahren täglich etwa 9.000 Reisezüge, die von gut 1,6 Millionen – in acht Hierarchiestufen und 63 Abteilungen zugeteilten – Angestellten betreut werden. Indian Rail ist einer der größten Arbeitgeber der Welt.

Herausforderung Ticketkauf

Der harmlos wirkende Ticketschalter vermag den dahinter wuchernden bürokratischen Apparat nur schwer zu verbergen. Unsere Initiation findet im südindischen Bundesstaat Kerala statt. Wir wollen Tickets für einen Zug kaufen, der uns am nächsten Tag nach Allapy, einer kleinen Stadt in den Backwaters, bringen soll. Die Straße vor dem Bahnhof ist stark befahren. Wir stehen eine gefühlte halbe Stunde im aufgewirbelten Straßenstaub, bevor einer von uns die Nerven verliert und sich tölpelhaft zuerst auf und dann irgendwie über die Straße stürzt. In der Bahnhofshalle sind die Neonröhren gedimmt, Durchsagen scheppern metallisch aus den Lautsprechern und bunte Tafeln zieren die Wände. Reisende strömen einzeln oder in Trauben mit einer verstörenden Zielgenauigkeit durch die Halle und umschiffen dabei die kleinen Inseln von sitzenden und liegenden Familien, die auf ihre nächste Verbindung warten.

Die Fähigkeit überall ein günstiges Plätzchen für ein Nickerchen oder eine kleine Jause zu finden, ist eine uns Europäern fremde, den Indern gängige Tugend. Neben der dafür essentiellen Ruhe braucht es dafür die notwendigen Accessoires. Etwa ein großes Tuch, in das man sich gegen die kühle Nachtluft einwickelt oder das man sich ausladend gegen die Sonne um den Kopf schlägt. Ungeachtet des meist hochwertigen Stoffes wird es auf dem Boden ausgebreitet, um das Erholungs-Terrain abzustecken. Die Reisenden packen einfache, in Zeitungspapier und Plastikbeutel verpackte, Mahlzeiten aus – meist Idli (Reisklöße), Kokoscurry und marinierte Bohnen – und verspeisen diese seelenruhig.

Der Weg ist das Ziel

Wir finden endlich den Ticketschalter, reihen uns davor ein und scannen unsicher die Umgebung. Die Menschen vor uns werden nicht weniger, da sich ständig jemand in unsere – westliche – Anstandslücke zum Vordermann drängt. Da es uns zu diesem Zeitpunkt noch an Gleichgültigkeit und Fatalismus mangelt, tippen wir erst dem dritten Drängler ungehalten auf die Schulter.

Schließlich erreichen wir das vergitterte Fenster, wo wir um Auskunft für den morgigen Zug nach Allappy bitten. Der Schalterbeamte fragt zurück: „Where are you from?“ Eine Frage, die jedem Touristen in Indien ohne Umschweife täglich mindestens 25 Mal gestellt wird, da sie als höfliche Konversation westlicher Art missverstanden wird. „Ah, Deutschland, Adolf Hitler!“ nickt der Beamte aufmunternd auf meine Antwort. Denn der Zweite Weltkrieg schwächte die britische Vormacht, was unter anderem Indien 1947 in die Unabhängigkeit führte. Und offenbar einige Inder zur Annahme verleitet, Hitler hätte dazu beigetragen.

Wir erfahren, dass am nächsten Mittag um 14:15 Uhr der Nizamuddin Express/2643 nach Allappy fahre, die Strecke dorthin nur 149 Kilometer betrage, aber Tickets im Vorverkauf nur ab Strecken von 300 Kilometer und mehr ausgestellt werden können. Also sollten wir morgen wieder zu ihm, an den selben Schalter kommen. Um welche Uhrzeit? „Um 14:15 Uhr.“

Der Zug nach Neu Delhi fährt um 14:23 Uhr ein. Mindestens 25 Waggons halten an dem vorher sinnlos lang wirkenden Bahnsteig. Eine Armee von Tee- und Snackverkäufern erscheint aus dem Nichts. Sie gehen an den Waggons entlang, rufen mit kehligen Stimmen die Namen ihrer Köstlichkeiten und reichen ausgestreckten Händen Samosas auf aluminiumbeschichteten Papptellern, kunstvoll geschnittene, mit Chili bestreute Gurken oder kleine Becher mit Chai. Reisende hasten an uns vorbei, suchen ihre Abteilnummern, die an die Waggons gemalt sind und halten nach dem „Titti“, dem Ticketkontrolleur, Ausschau. Dieser – gekleidet nach einer Mischung von drittklassigem Gigolo und kroatischem Eisverkäufer – versteckt sich zwischen den Säulen des Bahnsteiges und wartet auf seinen großen Auftritt, das Clipboard mit den Computerauszügen fest in der Hand.

Hauptsache man ist drin

Vollends damit beschäftigt, unsere wurstigen Rucksäcke durch die Menge zu manövrieren, ohne dabei den Strohhut zu verlieren, steigen wir in irgendeinen Wagen – Hauptsache, man ist drin. Die geräumigen Abteile sind komplett in blauer Farbe gehalten. Menschen sitzen und liegen gelassen auf den Bänken und blicken uns freundlich, aber unaufgeregt an. Langsam kehrt Ruhe ein. Man sitzt zusammen, isst, redet miteinander, schweigt, schläft oder spielt mit den kleinen Mädchen in ihren billig schillernden Tanzkleidchen oder den kleinen Jungen mit den eulenhaft, Kajal-umzogenen Augen. Junge Männer finden zusammen, um zu musizieren und dabei eine geheimnisvolle Flasche mit irgendeinem Fusel herumzureichen. Das macht den Gesang rührseliger, lässt den einen dem anderen immer tiefer in die Augen schauen und die vorher noch beinahe lässig wirkende Umarmung nun immer häufiger neu positionieren – und dabei spielerisch lachend enger ziehen. Die Frage, was diese homoerotischen Spielchen zu bedeuten haben, beantwortet in Indien nur selten jemand. Fast jeder junge Mann wartet – traditionsgemäß – seine Hochzeitsnacht ab, bevor er seine Sexualität zum ersten Mal erprobt. Die Zeit davor ist eine Grauzone, in der die Gesellschaft die jugendlichen Spielereien toleriert, im Rahmen derer es (nur) den Knaben erlaubt ist, ihre aufblühenden Leidenschaften zu befriedigen.

Draußen zieht derweil das Bild des indischen Subkontinents vorbei. Hellgrüne Reisfelder liegen in rechtwinkligen Rastern aus Kanälen, Dörfer schmiegen sich ungeachtet der lärmenden, vorbeifahrenden Züge wohlig an die Bahnstrecke und lassen in die Haushalte ihrer Bewohner blicken.

Der Titti ist es dann, der die Ruhe stört. Wichtigtuerisch schreitet er durch das Abteil und blättert mit befeuchtetem Finger die Bögen des endlosen Computerausdrucks durch. Die Männer springen auf und zeigen theatralisch ihre Tickets. Unfähig die Hinweise auf unserem Ticket richtig zu deuten, hatten wir uns einfach auf irgendeinen freien Platz gesetzt, und uns von der allgemeinen Entspanntheit einlullen lassen. Wir sind nicht vorbereitet auf das Theater, bei dem es darum geht, den Platz, auf den man sich unberechtigter Weise setzte, zu verteidigen. Denn eine reguläre Fahrkarte zweiter Klasse beinhaltet keine Reservierung für den Schlafwagen – den man ja für eine dreistündige Fahrt auch nicht braucht. Doch die geräumigen Schlafwagenabteile machen beinahe den gesamten Zug aus. Die zwei, drei Waggons der zweiten Klasse, mit härteren Bänken und Neonlicht, sind am Ende des Zuges und bleiben den Nichtsahnenden so lange verborgen, bis der Titti auf sein Schmiergeld pocht.

Die Kunst des Schmierens

Die gängige Praxis in solchen Situationen heißt im hiesigen Sprachgebrauch „to grease the hand of the Titti“ – also mit vielen blumigen Worten seine missliche Situation vorzutragen. Etwa die Gründe, warum es einem nicht gelang, die rund fünfwöchige Vorlaufzeit einer Schlafplatzreservierung einzuhalten, und den dann ungünstig verlaufenden Weg des Schicksals zu illustrieren, das es einem nicht vergönnt hatte, auf der Warteliste auf Platz eins der Sitzplatzanwärter zu rücken. Die Kunst liegt darin, möglichst unterwürfig zu sein, ohne die Haltung zu verlieren. Charmant bis knapp anbiedernd-flirtend zu argumentieren – ohne dabei zu vergessen, dass der Flirt als Kommunikationsform einzig den Männern vorbehalten ist. Und es geht darum, pragmatisch zu argumentieren: Denn selbst im bürokratisch-verschrobensten Beamten steckt zu guter Letzt ein Inder, der die Dinge ergebnisorientiert sieht.

Doch das alles lernten wir erst viel später, so dass wir uns glücklich schätzten, dass uns offenbar die Abteilnachbarn lieb gewonnen hatten und die Verhandlungen mit dem Titti übernahmen. So kamen wir mit 100 Rupien „Greasemoney“ davon. Was, zusammen mit dem Preis für die Tickets zweiter Klasse, – auch wenn es ein ungültiger Vergleich ist – etwa 6 Euro sind.


Die kleine Schwester der Unendlichkeit: Die Indianrallye in Bildern

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