Mexiko Weil Regierung und staatliche Behörden nach der Katastrophe vom 19. September versagt haben, fühlt sich die Jugend des Landes wachgerüttelt – eine Selbstermächtigung
Es war ein sonniger Tag, dieser 19. September, die Mittagshitze lag über der Stadt. Da wurde der Alarm hörbar, dessen Klang beinahe jedem, der in Mexiko City aufgewachsen ist, Tränen in die Augen schießen lässt. Der Asphalt der dreispurigen Avenida de Revolución, auf der ich zu meinem Termin unterwegs war, begann zu beben. Zuerst in vertikalen, dann horizontalen Bewegungen durchströmten die seismischen Wellen den lehmigen Boden des alten Flussbettes, in das die Stadt hineingebaut wurde.
Umgeben von Bergen schließt das Tal die Wellen in sich ein und verstärkt so die Auswirkungen der Erdstöße, sogar wenn das Zentrum eines Bebens hunderte von Kilometern entfernt liegt. Alles vibrierte in der selben Frequenz, so spürte ich die Bewegun
equenz, so spürte ich die Bewegung zuerst gar nicht und lief noch ein paar Meter weiter. Plötzlich strömten Menschen auf die Straße, sich in den Armen haltend schauten sie ängstlich auf die Gebäude, und instinktiv ging ich in die Mitte der Straße, wo der Verkehr stillstand. Angst war in den Gesichtern der Menschen, einige weinten. Alle Bewohner dieser Stadt erinnern sich an das große Beben vom 19. September 1985, das vor 32 Jahren auf den Tag genau die Stadt zerstörte und 40.000 Menschen unter sich begrub. Diese Katastrophe wurde zum kollektiven Trauma. Jeder musste auf seine Weise lernen, damit umzugehen. Der tiefe Glaube an Gott ist es für die einen, die ständige Bereitschaft dem Moment der Katastrophe gewachsen zu sein, für die anderen. Letztere, das sind vor allem junge Mexikaner, die bereits Minuten nach dem Beben auf die Straßen strömten, um zu helfen. Modus der Totalverweigerung1985 geschah etwas, das die Intellektuellen des Landes später vollmundig als Erwachen einer Generation beschrieben, die zuvor als unsichtbar galt. Politikverdrossenheit war für diese mexikanische Jugend, die von den Führern des Landes nichts als Bigotterie und Korruption kannte, eine Untertreibung. Viele sind im Modus der Totalverweigerung herangewachsen und hatten sich von den Prozessen einer Politik komplett entfremdet, von der sie sich nicht vertreten fühlten. Heute findet die Kritik der Jugend eher kleinteilig und vor allem im Internet statt – im Gegensatz zu ihren Vätern, die sich nach dem Beben von 1985 in großen Bürgerverbänden organisierten und mit langem Atem eine Entmachtung der jahrzehntelangen Regierungspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) bewirkten. Sicher gab es Proteste, als der PRI-Kandidat Enrique Peña Nieto trotz eines offensichtlichen Stimmenkaufs im Dezember 2012 als Präsident vereidigt wurde. Auch als vor drei Jahren in der Stadt Iguala 43 Studenten der Universität von Ayotzinapa im Staat Guerrero verschwanden und die Spur zur Polizei und zum Staat führte, ging die Jugend wieder auf die Straßen. Mit bloßen HändenIch stieg am Tag des Bebens in einen Bus, der sich langsam durch den Verkehr quälte. Durch die Fenster sah ich eingestürzte Gebäude, vor denen sich Menschen sammelten. Ich stieg aus, um zu Fuß nach Hause zu laufen, und kam durch Viertel, die das Erdbeben schwer getroffen hatte. Viele standen mit versteinerten Gesichtern vor ihren Häusern, unsicher, ob sie es wagen sollten, hineinzugehen. Auch Tage nach einem Beben können Hauser noch einstürzen. Jemand eilte mit einem weinenden Schulkind an der Hand über den Bürgersteig, glücklich das Kind lebend bei sich zu haben. Es kursierte bereits die schreckliche Nachricht vom Einsturz der Enrique Rébsamen Schule, in deren Trümmern 20 Schüler starben. Es gab aber auch Menschen, denen wohl nichts Besseres einfiel, als mit dem Auto loszufahren, was den Verkehr schnell kollabieren ließ und Feuerwehr wie Krankenwagen ein Durchkommen unmöglich machte. Ein Umstand, der sich jedoch als eher unbedeutend herausstellte. Tausende von Helfer waren zumeist junge Millennials, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad kamen. Staunend lief ich an ihnen vorbei und sah, wie sie unbeirrt in die Apotheken strömten, Wasserflaschen und Medizin herausschleppten und zu den eingestürzten Gebäuden schafften. Andere regelten den Verkehr oder halfen beim Abtragen der Trümmer, was sie oft stundenlang mit bloßen Händen taten. Wieder andere organisierten Chatgruppen, die Ressourcen und Bedürfnisse erfassten, Hilfsgüter anforderten und via Fahrradboten an die verschiedenen Krisenherde der Stadt verteilten. Manche standen vor den Apotheken und sammelten Spenden. Diese spontane und unbedingte Solidarität jungen Mexikaner stellt eine Wiederholung dessen dar, was sich 1985 ereignet hat. Damals erwies sich die Regierung als unfähig, ihrer Bevölkerung zu helfen. Der damalige Präsident, Miguel de la Madrid, ließ mehr als 90 Stunden verstreichen, ehe er sich an die Öffentlichkeit wandte. Hilfe aus dem Ausland wurde stolz abgelehnt, obowohl sich Polizei und Militär als unfähig erwiesen, Herr der Lage zu sein. So war es das Volk, welches das Volk rettete. Es bildeten sich kleine Gruppen junger Menschen, die in Spalten zwischen Trümmern hinabstiegen, um zu den Opfern zu gelangen. Tausende wurden auf diese Art gerettet. Topos, Maulwürfe, nannte der Volksmund diese Helfer später. Es roch nach Tod Einige Tage nach dem jüngsten Beben sitze ich einem jungen Chefkoch gegenüber, der Tage und Nächte lang als freiwilliger Helfer an der Rettung von 40 Verschütteten in einem Bürogebäude an der Avenida Alvaro Obregón mithalf. „Ich musste einen Freund zu den Sanitätern bringen, nachdem er aus den Trümmern zurückgekehrt war. Vergeblich hatte er versucht, zu einer Gruppe Verschütteter zu gelangen. Er blickte von oben auf sie hinab, ein beißender Gestank trat ihm in die Nase, denn zwischen den Lebenden waren Leichen, die bereits verwesten. Er sah aus wie ein Zombie, als er wieder ans Tageslicht stieg und reagierte nicht auf meine Ansprache. Wir mussten ihm eine Atemschutzmaske aufsetzten und eine Injektion geben“, erzählte er, während ihm Tränen in die Augen stiegen. „Wie kann es sein, dass normale Bürger wie wir ohne jegliches Training mit derlei Aufgaben betraut werden?“ Nach drei Tagen und Nächten härtester Arbeit am Ort des Schreckens, sei er nach Hause gegangen. „Du weißt, wann du deine Grenze erreicht hast.“ sagt er „der ganze Ort roch nach Tod, wir hatten weder Duschen noch ein Waschbecken, und ich wusste, würde ich länger bleiben, wäre meine Gesundheit gefährdet.“ Atemschutzmasken hatte er selbst bei einem amerikanischen Hersteller bestellt und an seine Mithelfer verteilt. Ebenso organisierte er Pritschen für die Angehörigen, die auf dem Boden des mit Planen vom Regen abgeschirmten Bürgersteiges schliefen, um in der Nähe derer zu sein, die unter den Trümmern ausharrten. Psycho- und Physiotherapeuten boten unentgeltlich Gesprächstherapien bzw. Massagen an. Er hätte darauf gewartet, dass die Behörden die Helfer nach Hause schicken würden. Aber noch länge sei weiter in dem zusammengestürzten Gebäude gegraben worden. Auch die Angehörigen der Verschütteten harrten aus. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Schuldige bestrafen Seit einigen Tagen ist klar: Ohne den 100-prozentigen Einsatz der Bürger hätte die Katastrophe weitaus mehr Opfer gefordert. So wird erneut, 32 Jahre nach der letzten Erdbebenkatastrophe, die Frage laut: Wo waren die Behörden? Warum waren es Bürger und nicht Militärs oder Polizisten, die Hilfe organisierten? Warum war es an den Bürgern, vom Spaten bis zur Zeltplane, vom Dixi-Klo bis zu den Stühlen für Blutspenden alles zu besorgen? Und wie kann es sein, dass diese Hilfsmittel nach dem Beben nun vom Staat mit der Begründung, man habe sie ja gespendet, eingezogen werden? Die Gewohnheit des Bestechens und Bestochen-Werdens? Warum mussten die Bürger ein weiteres Mal die Arbeit von Behörden und Militär erledigen? – fragten sich Tage nach dem Erdbeben die Verificados19s, eine Gruppe unabhängiger Beobachter. Warum hat die Regierung auf allen Ebenen versagt? Warum hat sie es bis heute nicht geschafft, eine zentrale und verifizierte Liste der Vermissten zu erstellen?Warum wissen Hausbewohner immer noch nicht, ob ihre Gebäude sicher sind oder nicht? Man kann nur hoffen, dass die Mexikaner ihre Regierung diesmal nicht ohne Antwort auf ihre Fragen davonkommen lassen und die Versäumnisse der Behörden bestraft werden.
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