Er ist einer der wenigen, der es überlebt hat, und fast als Einziger noch immer dabei – auch wenn Tommy Labeija die Familie des Hauses, dessen Vater er noch immer ist, nicht mehr ganz zu überblicken vermag. Auf einem Ball in Detroit kam ein wildfremder Junge auf ihn zu und grüßte ihn „Hi Poppa“. „Wer zum Teufel ist das?“, fragte sich Labeija, Veteran der New Yorker Ballroom-Szene und Vater des legendären Drag Hauses Labeija, und sagte nichts. Von seinen Weggefährten wurden im Laufe der neunziger- und nuller Jahre fast alle von Aids hingerafft.
Die jüngste Generation seines Milieus nennt Vater Labeija die Youtube-Babies. Selbst ihr Outing vollzieht sich im Netz. Auf verschwommenen iPhone-Videos präsentieren sich die junge
die jungen Queens in ihren recht hilflos aufgedragten Schul-Outfits. Sie sprechen kurz in die Kamera, werfen sich in einem „Dip“ rücklings auf den Teppichboden, ziehen sich in einer schlangenartigen Bewegung wieder in den Stand, recken die Arme in die Höhe und schreiten mit stelzenden Schritten, ihre Hände schwingend über den imaginären Laufsteg des elterlichen Wohnzimmers. Der Tanzstil nennt sich „Femme Vogue“. Er gehört den jungen Dragqueens. Innerhalb ihres Milieus werden sie nach immer weiteren Differenzierungen zu Drag-Frauen, Drag-Männern, Femme-Queens und Butch Queens.Femme Vouge stellt die letzte Entwicklungsstufe eines Tanzes dar, der zum Markenzeichen einer in Harlem geborenen, subkulturellen Bewegung wurde. Ihre distinkte Sprache wie ihr ausgefeiltes gestisches Vokabular ähneln der Symbolik einer überentwickelten Hochkultur, deren Stern im Moment ihres Triumphes bereits wieder zu sinken beginnt. Ein Fotoband der französisch-haitianischen Fotografin Chantal Regnault dokumentiert nun die drei Jahre, in denen die Szene ihr Coming Out hatte.Ein Ort zum EchtseinIn einer Reihe schillernder Momentaufnahmen und Porträts zeigt Regnault die heimlichen Stars des Harlemer Ballrooms in ihrer gebrochenen Schönheit. Die Wettbewerbe wurden abseits der Öffentlichkeit in den alten Ballsälen der Harlemer Renaissance ausgetragen. Für viele homosexuelle Afroamerikaner waren sie der einzige Ort, an dem sie „real“ sein konnten.Madonnas Musikvideo Vogue und Jenny Livingstons Dokumentarfilm Paris is Burning lüfteten das Geheimnis um die bis dahin drei Jahrzehnte lang streng behütete Szene. Seitdem hält der Ballroom Einzug in das Bewusstsein des Mainstreams. Die großen Femme Queens in der Blütezeit der Harlemer Ballkultur waren Homosexuelle, die, anders als Drag Queens, nicht nur für ein paar Stunden vorgaben, eine Frau zu sein. Vielmehr erinnerten sie in ihrer Identität an einen Hermaphroditen, dessen zwei Tendenzen vereinendes Geschlecht nicht von der Natur vorbestimmt, sondern als eigene Idenität aktiv gewählt ist. Anstatt sich teure Implantate einsetzen zu lassen, ließen sie sich das Silikon unter die Haut spritzen, so dass ihre Brüste nur ganz langsam zu wachsen begannen und das Frauwerden den quälenden Jahren der Pubertät ähnelte. Sie waren echter als echte Frauen; in ihrer milden Trauer und wärmenden Kameradschaft wahrhaftig „real“. So wurden sie Ende der Siebziger zu den Müttern der Drag-Häuser. Dort fanden sich Homo- und Transsexuelle in Lebensgemeinschaften zusammen, die nach dem Vorbild eines Familienclans funktionierten. Diese Gemeinschaften wurden zum Hafen für all jene, deren Homosexualität nicht in das stereotype Bild einer latino- oder afroamerikanischen Familie passte.Für die Jungs vom anderen Ufer blieb zu dieser Zeit nur die Straße, der Pier des West Village und die Gegend um die Christopher Street. Dort traf man seinesgleichen – und andere: vorgeblich heterosexuelle Männer, denen es einen Kick gab, sich von den oft nicht einmal pubertierenden Jungen in Mädchenkleidern befriedigen zu lassen. So wuchsen sie in einer Art Mikrokosmos am westlichen Ende New Yorks heran – liegen gelassen und zugleich befreit von den Reglementierungen einer konservativen Gesellschaft. Im Augenblick ihrer Verbrüderung mit ihresgleichen wurde ihre Verletzung zu einer Stärke, die ihre Kraft aus dem Anderssein schöpfte. Moral und Stil wurden zu den Eckpunkten. Sie verliehen den Jungen von der Westside eine geistige Stärke, die ihnen niemand nehmen konnte – auch kein noch so brutaler Freier oder Gesetzeshüter. Weg in den MainstreamDie Xtravaganzas waren das erste Haus der Ballroom-Szene, in dem schwarze Latinos zusammenkamen. Bis sie ihr eigenes Haus eröffneten, waren sie wegen des gebrochenen Schwarzes ihrer Hautfarbe ins Abseits gedrängt worden. In der Szene zählten sie zu den besten Voguetänzern. Und wenn sie nicht gerade anschaffen gingen oder versuchten, an Drogen zu kommen, feilten sie an ihrem Tanzstil – in Clubs wie dem „Paradise Garage“. Dort entdeckte Madonna 1990 zwei von ihnen, als sie auf der Suche nach Tänzern für ihr Vogue-Video die Clubs der Szene durchstreifte. Das Lied wurde ein Riesenerfolg. In Madonnas Video bleibt eines allerdings unsichtbar: das Spiel mit den Gesten, zu dem sich das Voguing auf den Laufstegen der Bälle und den Tanzflächen der Clubs zu entfächern beginnt. Der Tanz im aufblitzenden Licht der imaginierten Scheinwerfer – eine stockende Choreografie, zusammengesetzt aus Modelposen – ist tatsächlich ein Duell, bei dem zwei rivalisierende Tänzer versuchen, sich mit gestischen Attacken auszustechen. Dabei gilt es, den anderen nicht zu berühren oder zu imitieren, sondern lediglich durch erhabenes Posieren, das Licht der Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und den anderen so in den Schatten zu stellen. So spricht man auch von „throwing shade“. Über die Genesis des Tanzes sind sich die Zeitzeugen, die Regnault in den vergangenen zwei Jahren für ihr Buch interviewte, nicht sicher. Manche sagen, es sei Paris Dupree gewesen: Als sie in einem Club von der Seite angequatscht wurde, soll sie ein Vogue-Magazin hervorgezogen und die dort abgebildeten Modelposen eine nach der anderen nachgebildet haben, um so ihren Gegner in den Schatten zu stellen. Andere sagen, das Voguing sei in einem New Yorker Gefängnis entstanden; als eine Art gestischer Kampf, der über die Gitterstäbe hinweg ausgetragen wurde. Tommy Labeija wiederum behauptet, es sei die Mutter seines Hauses, Peppa Labeija, gewesen, die sich bei ihren Auftritten als Femme Queen vor der Jury in die gekonnt imitierten Modelposen schmiss. Welche Überlieferung nun der Wahrheit entspricht – wer weiß?