Man stelle sich zwei benachbarte Dörfer vor. Eines alt und in unwegsamen Bergen liegend, das andere neu erbaut, an der Schnellstraße im Tal. Die Bewohner beider Dörfer ziehen ihr Gemüse in denselben Gärten, sprechen dieselbe Sprache und teilen dieselben Götter. Und doch machen sie in dem einen Dorf die Dinge alle ein wenig anders als in dem anderen. Im Tal hören sie etwa oft laute Musik und haben kein Vieh mehr auf den Weiden stehen.
Ich bin vor zwei Jahren in das altmodischere Dorf in den Bergen gekommen, als mir ein Bekannter vom Ashtanga-Yoga erzählte. Anders als die Jivamukti-Yogis lieben es die Menschen in unserem Dorf, die Traditionen zu wahren. Sie mögen es, die Dinge mit derselben Einfachheit zu verrichten, wie es uns unser Urahn Krishnamashara vorgemacht hat, der zu Beginn des letzten Jahrtausends einen auf Palmblätter geschriebenen Text von seinem Guru anvertraut bekommen haben soll. Darauf sollen all jene Übungen aufgeführt gewesen sein, die die heiligen Männer Indiens, die Sadus, machen, um ihren Körper für Phasen der Meditation vorzubereiten.
Ich schätze die Klarheit des Ashtanga-Yogas, aber an diesem Abend habe ich mich entgegen der Warnungen meiner Lehrmeister davon gestohlen, um auf ein Fest im anderen Dorf zu gehen. Ich will eine Jivamukti-Session mitmachen, geleitet von den Gründern dieser Yoga-Richtung, von Sharon Gannon und David Life.
Ein Yogi ist pünktlich
Auf der elektronisch versandten Anmeldebestätigung steht die sicher gut gemeinte Warnung: Be a Yogi, be on Time! Also biege ich um genau 18:15 Uhr mit meinem Rennrad in den Hof eines ehemaligen Fabrikgeländes ein, fahre schnell am schnöden McFit vorbei und betrete die „Delight Studios“. Ich werde von drei jungen Frauen freudestrahlend begrüßt und zum Schuheausziehen aufgefordert, dann darf ich durch die Tür treten, an der eines der Plakate hängt, die seit Wochen in der Stadt für das Ereignis werben. Auf dem Plakat sieht man einen Mann, der einem in die Jahre gekommenen Ballettstar ähnelt. Die lächelnde Frau zu seiner Linken sieht aus wie ein älter gewordenes Schneewittchen, ihre dunklen Haare fallen in langen Wellen bis zur Taille. Das sind also Sharon und David.
Hinter der Tür betrete ich einen hell ausgeleuchteten Saal. Räucherstäbchen-Duft hängt in der Luft. Zirka 170 Yogaschüler sind gekommen, auf neun Frauen kommt vielleicht ein Mann. In den Unisex-Umkleiden lege ich meine Yogi-Uniform an: Body, Leggins, ein mit Sanskrit-Versen bedrucktes T-Shirt. Im Saal wird es langsam ruhiger, all die hübschen Frauen verlassen nach und nach ihre Gesprächszirkel, reißen sich vom Merchandising-Stand los und setzen sich auf ihre Matten.
Sharon und David kommen, leicht vornüber gebeugt wie ein altersschwaches Paar japanischer Touristen, in den Saal gelaufen. Die gefalteten Hände vor die Stirn haltend verbeugen sie sich minutenlang in alle Richtungen. Das Programm sieht heute nicht weniger vor, als die „Jivas“, die anwesenden Individuen, zur „Mukti“, zur Erlösung, zu führen. Auf dem auf drei Stunden angesetzten und 60 Euro teuren Weg dorthin gilt es den Körper durch etliche, mal von David, mal von Sharon angeleitete Übungen zu stählen und sich von der durch die Lautsprecher tönenden Musik inspirieren zu lassen.
Dabei ist Sharon und David eines besonders wichtig: die Rettung der Tiere. Als Yogi dürfe man keinem Wesen Leid zufügen, erfahre ich. "Animals are persons, too!", sagt Sharon immer wieder. Jivamukti hat sich verabschiedet von den konventionellen Formen, in denen sich Yoga seit Beginn der fünfziger Jahre in der westlichen Welt darstellt. Sowohl David als auch Sharon hatten sich in ihren ersten Yogastunden Ende der sechziger Jahre gelangweilt. Sie beschlossen, stattdessen zu Anti-Vietnam-Demos zu gehen, sich Vorträge über Gandhi anzuhören und psychedelische Lightshows zu besuchen – was man damals halt so machte als junger Mensch. 1989 trafen sie sich zum ersten Mal, als Sharon mit ihrer Band in Davids Café im East Village auftrat. Sie verliebten sich, Sharon blieb, und David spielte ein wenig bei ihrer Band mit.
Wilder Musikmix inklusive
Eine Kellnerin des Cafés begann ihnen Yogastunden zu geben. Schnell flossen die Bewegungen in ihre Bandauftritte ein. Heute zeigen David und Sharon regelmäßig über tausend Schülern in ihrem New Yorker Studio, wie man modernes Yoga macht, wilder Musikmix inklusive. Dazu Versatzstücke aus alten Sanskrit-Texten und der Tierschutz. Angezogen von diesem Hip-Hot-Holy-Gemisch werden auch Promis wie Madonna, Sting und Donna Karan.
In Berlin beginnt David, auf einem Harmonium die Begrüßungshymne anzustimmen. Wir singen den klassischen Sanskrit-Mantra. Ich setze ein und lasse meine Stimme im Stimmenmeer untergehen. Dann leitet uns David in die ersten Positionen. „Wild Horses“ von den Rolling Stones wird eingespielt, darauf folgt das Lied der 60er-Jahre-Pferdeserie Mr. Ed. Eine neue Position. Noch ein Tierlied, „Blackbird“ von den Beatles. Als das nächste Stück von der Intelligenz von Krähen handelt, wird die Intention langsam klar.
"Wisst Ihr, warum die Positionen im Yoga Tiernamen tragen?", fragt David. "Weil wir im Grunde wie Tiere sind. Fühlt ihr euch nicht so, als ob ihr mal bellen möchtet wie ein Hund? Bellt doch mal." 170 Köpfe erheben sich und bellen. Das Tierthema zieht sich durch den Abend, mal sind wir hungrige Wölfe, mal sind wir Pfauen, die auf den Unterarmen balancierend die Beine wie Federn in die Höhe recken. Es klingt seltsam, aber die Tier-Metapher wirkt. Ich traue mich zum ersten Mal, das ganze Gewicht meines Körpers in den Unterarmstand zu katapultieren, eine Brücke zu schlagen und dann wie ein Frosch hochzuspringen. Anschließend lege ich meine Füße einen nach dem anderen hinter meinen Kopf. Ohm-Shanti! Ich glaube, ich werde bald wieder ins Tal hinabsteigen und eine Runde mit den Freaks drehen.
von Krishnamshara
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