Wir sind dann mal so frei

Bildband „Wait Until the Night is Silent“ von Iris Andraschek zeigt weibliches Leben in einer Kommune in der kanadischen Provinz
Ausgabe 15/2016

Frauen drängen im kulturellen Betrieb mit aller Kraft nach vorne, und es sind nicht mehr die, die Dita von Teese nacheiferten und mit Hackenschuhen im Bambigang durch die Stadt staksten, Pole-Dancing-Klassen nahmen und 50 Shades of Grey auf dem Nachttisch liegen hatten, sondern starke, freie Frauen. Frauen, wie sie in extremer Form in dem Band Wait Until the Night is Silent der österreichischen Künstlerin Iris Andraschek auftachen. Die Bilder entstanden zwischen 2002 und 2010 in einer alternativen Kommune in Kanada und wirken wie Kirchenfenster, poetisch sakral, teilweise unscharf. Durch die Sommersonne hindurch ist manche Abbildung vom Licht verschwommen. Da sind Frauen in einer undurchdringlichen Szenerie aus blumenbemusterten Decken, persischen Teppichen und abgetragenen Chiffonkleidern, die dem Nichtstun frönen. Mal sieht man sie umgeben von Verkleidungskisten, Katzen und Hunden, mal im stillen Wasser eines Sees (herum-)stehen.

Komplizenschaft der Mädchen

Die Motive selbst sind nicht neu, jedes Bild scheint gleich mehrere Urbilder zu haben. Man assoziiert Skulpturengruppen wie die Athena und ihre Göttergeschwisterinnen, Raffael, Botticelli, Klimt. Andrascheks Bildern eigen ist die, zugegeben, romantisierte Darstellung der Komplizenschaft unter „gefallenen Mädchen“, den Huren der Wild-West-Saloons – Frauen ohne richtigen Namen, ohne Familie, ohne Ring am Finger, die auszogen in die „große Freiheit“. Ihre Körper sind nicht mehr in Geiselhaft, sie gehören ihnen. Die Frauen, die Andraschek dort abgelichtet hat, scheinen aus einer anderen Welt zu kommen, aus einer anderen Zeit, ja die Zeit scheint ihnen nichts zu bedeuten. Wie präraffaelitische Sirenen schauen sie an der Kamera vorbei in ein Konzept von Ewigkeit. Mindestens aber erahnt man die Biografien dahinter. Ihre Gesichter und Körper, wenngleich schön, sind ungeschminkt, gezeichnet vom Leben in der Natur, von Sonne, Wind und Kälte. Die Falten zeigen ein prekäres Leben, ist doch egal, sagt ein Blick.

Ich will mehr wissen. Iris Andraschek schmunzelt in die Kamera ihres Laptops, den sie in ihrer Istanbuler Wohnung vor sich aufgestellt hat, um mit mir über den Atlantik hinweg zu sprechen. Auch wenn die kantige Hornbrille etwas anderes vermuten lässt, wirkt die 52-Jährige nicht kühl, sondern zugewandt. Andraschek ist eine Frau, mit der man sofort befreundet sein möchte, eine Mary Poppins, deren uneitles Lächeln sagt, dass zu viel Aufhebens um Dinge albern ist. Sie ist das, was man in Künstlerkreisen mitunter abfällig eine „Stipendiumskünstlerin“ nennt – eine Künstlerin also, die sich von einem Aufenthaltsstipendium zum nächsten hangelt. Diese mitunter kräftezehrende Ortlosigkeit, denkt man, hat aus dieser Frau einen unkomplizierten Menschen gemacht, der beinahe überall seinen Koffer hinstellen würde. 2002 nahm Andraschek einen Stipendiumsplatz in Durham an, einer Provinzstadt in Ontario, Kanada. Dort angekommen, wohnte sie in einer ehemaligen Mühle am Stadtrand.

„Ich dachte, oh je“, sagt Andraschek: „Eigentlich liebe ich solche Un-Orte, doch bei der Ankunft in dieser Stadt, die im Grunde aus nur einer Straße bestand, habe ich zuerst geschluckt.“ Doch das get away in der kanadischen Einöde wird für Iris Andraschek bald zu einem Ort, an dem sich leben lässt, an dem sie leben wollte. Das GarNichts barg die Chance, etwas Eigenes zu kreieren, und der Wille, diese Chance auch zu nutzen, verband sie mit etwa 70 anderen Leuten. Neben ökologischem Landbau, Kunst, Musik und Praktiken der Körper- und Seelenpflege wird hier vor allem Freiheit „produziert“, und das tagtäglich.

Die Bilder zeigen es: Dort, wo das Materielle knapp ist, bekommt die Fantasie wie immer ihren Raum. Bunte Plastiktüten verwandeln die nackte Tänzerin in einen Schmetterling. Die Lampe, die unter den Rock der Stehenden geschoben ist, verwandelt die Frau in eine seltsame Lichtgestalt mit eindringlichem Blick. Ein Ledergürtel wird zur Schlange, die sich über einen nackten Leib schlängelt, und die leuchtend blau ummalten Augen der Blauäugigen mit dem florentinischen Gesicht lassen deren Blick irisieren. Oder das junge Punkmädchen mit ihren pinkfarbenen, zu einem Doppel-Iro frisierten Haaren. Da ist viel „gelebte Differenz“ im Mikrokosmos.

Andrascheks „Hauptdarstellerinnen“ sind zwei aus Europa stammende, junge Mütter, die vor ein paar Jahren aus Deutschland und Polen gekommen sind, mit ihren Kindern, ohne die Männer. Hier, in der kargen Version von Welt, in der Konsumobjekte wie Fremdkörper herumliegen oder wie ein Zitat aus der Parallelwelt, haben sich die beiden ein Leben aufgebaut, obwohl „aufbauen“ eigentlich fehl klingt. Denn auch dies wird sichtbar in den Bildern: Es ist ein Leben ohne Konsum, letztlich ein armes Leben.

Kein Diktat der Zeit

Die Fotokünstlerin wird bald zur Komplizin dieser beider Frauen, sie adaptiert den Rhythmus, den sie vorleben. So vermittelt Wait Until the Night is Silent eine Gelassenheit, ein in den Tag Hinein- und wieder Hinausbummeln, ein zielloses Treiben, dass das Diktat der Zeit, geschweige eines Gesellschaftssystems nicht kennt, oder besser gesagt: Die gängigen „Rahmenbedingungen“ der globalen Tretmühle werden schlichtweg ignoriert. Auch der Sprung von einer Dekade in der aus zwei Zyklen bestehenden Serie scheint irrelevant. Iris Andraschek ist zum Abschluss diesr Bildserie noch einmal zurück an diesen Ort gekommen. Nichts scheint sich merklich ge- oder verändert zu haben, höchstens die Kinder, die gewachsen sind.

Eigentlich wirft Andrascheks Bildband die Grundfrage auf: Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Die Antwort auf diese Frage ist bekanntlich einem ständigen Wandel ausgesetzt, ganz so wie die Welt, oder besser Welten, in denen wir leben. Wo sich die Anthropologie einst mit den Leben sogenannter „primitiver Menschen“ befasste, umfasst sie heute die Betrachtung aller Menschen. Lebende und Tote, Menschen, die uns fremd sind, sowie Menschen, die wir als uns selbst nah und verwandt empfinden. So erinnern unsere heutigen Realitäten – gleich ob real oder virtuell – vielmehr an lose Geflechte subjektiver Wahrnehmungen und kollektiver Erinnerungen, die sich im Limbo der Gegenwart immer wieder neu arrangieren.

„Eines muss ich dir noch erzählen“, sagt Iris Andraschek noch zum Schluss, nämlich, wie es dazu kam, dass die Schriftstellerin Esther Kinsky ihren Text Mississauga zum Buch beisteuerte. „Nachdem ich sie ahnungslos angefragt hatte, einen Text für mein Buch zu schreiben, erzählte sie mir bei einem Treffen in Wien, dass sie als 20-Jährige mit ihrem kleinen Baby in Kanada gestrandet war.“ So wurden Andrascheks Bilder zum Anlass für die Autorin, ihre Erinnerungen für When the Night is Silent aufzuschreiben. Sie klingen wie die Stimme einer Schwester der drei Frauen aus dem Fotoband.

Info

Wait Until the Night is Silent Iris Andraschek Esther Kinsky, deutsche Ausgabe Fotohof Edition 2015, 126 S., 33 €

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