Blühende Ersatzfamilien

IM KINO "Alles über meine Mutter" von Pedro Almodóvar plädiert für mehr Solidarität

Im Korridor eines Krankenhauses sitzen zwei Frauen und warten. Die eine weinend, die andere anteilnehmend gespannt. Zwei Männer in weißen Kitteln treten zu ihnen. Mit gemessenen Bewegungen greifen sie hinter sich nach Stühlen und setzten sich den Frauen gegenüber. "Leider...", beginnt der eine. Schluchzend bäumt sich Manuela (Cecilia Roth), die Weinende, auf und wirft Kopf und Hände in den Schoß. Bei einem Autounfall wurde ihr Sohn schwer verletzt, jetzt ist er tot. Diskret wendet sich die Kamera in den Schatten des Korridors und blendet ab. Im Rollenspiel ihrer Ausbildungsseminare hat Manuela diese Ausnahmesituation - in umgekehrter Rollenverteilung - geprobt. Sie ist Krankenschwester und zudem eine hervorragende Amateurschauspielerin, doch urplötzlich ist die Extremsituation für sie selbst zur bitteren Erfahrung geworden.

Die Handlung in Pedro Almodòvars neuem Spielfilm Todo sobre mi madre, zu deutsch Alles über meine Mutter, lässt sich kaum nacherzählen, schon wegen der vielen Nebenschauplätze, die der Spanier eingebaut hat. Auf den ersten Blick wirkt Alles über meine Mutter wie eine Versuchsanordnung. Auch die Szene im Flur des Krankenhauses macht dies deutlich. Eine Schauspielerin spielt eine Krankenschwester, die eine Hobbyschauspielerin spielt. Im Verlauf der gewohnt tempo reich inszenierten 105 Filmminuten drängen sich Fragen auf. Etwa die, ob Frauen vor allem großartige Schauspielerinnen sind, Frauen die besseren Männer oder gar Männer die besseren Frauen? - Manuela lebt seit 18 Jahren in Madrid und hat es nie fertig gebracht, ihrem 17jährigen Sohn von seinem Vater zu erzählen. Esteban wollte Schriftsteller werden und alles über seine Mutter erfahren, doch bevor Manuela ihm endlich alles erzählen konnte, geschah der Unfall. Auch der Vater wusste nichts von seinem Sohn. Manuela beschließt, nach Barcelona zurückzukehren, um in der Transsexuellenszene der Stadt ihren Ex, der sich seit Jahren "Lola" nennt, zu suchen.

Alles über meine Mutter ist eine Tragikomödie aus dem Spanien der späten 90er Jahre. Ein überdrehter Film über Mütter, Nonnen, Schauspielerinnen und Transsexuelle. Alles dreht sich um ein mehr oder minder biologisch determiniertes Frauenquintett, dessen Problematik Manuelas Trauer auf geheimnisvolle Art absorbiert. Kein Wunder, dass Manuela kaum Zeit zum Weinen hat. Das Personal in Alles über meine Mutter ist so bunt und schillernd, wie Almodóvars Anhänger es erwarten. Da ist die alternde Diva Huma Rojo (Marisa Paredes), die mit Nina (Candela Pena), ihrer Drogenabhängigen Geliebten, zusammenlebt, die junge Nonne Rosa (Penélope Cruz), die schwanger ist, und La Agrado ("die Angenehme", Antonia San Juan), ein Transsexueller, der seine Schönheits operationen durch Prostitution finanziert. Und je mehr um die grundsolide Manuela herum die Welt aus den Fugen gerät, umso stärker wirkt sie. Von der argentinischen Schauspielerin Cecilia Roth wird der Part der ›normalen‹ Frau als in sich selbst ruhender Pol nachdrücklich verkörpert. Ohne ihre Stärke würde der Film vermutlich auseinander brechen. Almodóvar wäre nicht Almo dóvar, hätte er nicht eine Reminiszenz an ein Stück in den Mittelpunkt gestellt, in dem es ebenfalls um das Schicksal einer Frau geht. Huma spielt im Theater die Rolle der Blanche du Bois in Tennessee Williams Endstation Sehnsucht. Immer wieder sind Ausschnitte aus der Bühnenproduktion zu sehen, und Zuweilen geht es zu wie in einem Spiegelkabinett. Huma und ihr Bühnencharakter Blanche sind "auf die Hilfe gütiger Fremder angewiesen", nur dass in Alles über meine Mutter die Frauen die gütigen Fremden sind. Und so erweist sich der Film als eine Hymne auf Ersatzfamilien. Schicksalsschläge haben eine reinigende Wirkung und trotz unterdrückter Tränen, Trauer, Verlusten, trotz AIDS und der sieben Todsünden schillert dieses Kino farbenfroh und kitschig bunt wie die Pop-Art. Zweifellos ist es ein besonderes Vergnügen zuzusehen, wie Almodóvar Subkultur, Künstlermilieu, Kirche und Gesellschaft durch die subversive Kraft der Liebe und mit hintersinnigem Witz miteinander versöhnt. Lebensmut und Spielfreude setzt der Meister der Tragikomik gegen Genregrenzen und anspielungsreiche Bilder, Filmzitate und Reminiszenzen an die Stelle von langatmigen Analysen. Einen Schlüsselsatz des Films legt Almodóvar der schönen Agrado in den Mund, die eine einsame Schlacht um weibliche Identität führt. In einem bewegend vorgetragenen Bühnenmonolog bringt sie ihrem Publikum eine besondere Philosophie der Authentizität nahe: Man sei umso authentischer, je ähnlicher man dem Traum wird, den man von sich selber hat. Mit dem Titel des Films spielt Almodóvar indessen auf John Mankiewitz' All about Eve an, einen Film aus dem Hollywood der frühen 50er Jahre, in dem es um Frauen im Filmgeschäft geht. Manuela und ihr Sohn Esteban hatten sich den Film an dessen 17. Geburtstag angesehen. Mit der eleganten Verbeugung vor seinen Vorbildern verweist Almodóvar auf die Kälte und Herzlosigkeit des amerikanischen Filmgeschäfts und zugleich auf die Stärke der Frauen. Seit Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs haftet dem Spanier der Ruf als Magier des "Frauenfilms" an, und bei aller professioneller Glätte seiner Filme ist er sich selbst und seinen Themen treu geblieben: Liebe, Leidenschaft, unterdrückte Minderheiten, sexuelle Obsessionen, und unvermindert emphatisch widersetzt er sich Verlogenheit und verkrampfter Doppelmoral.

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