Der konzentrierte Blick auf ein übersichtliches Stück Jammer, die mikroskopische Analyse der kleinbürgerlichen Gallertmasse, in der der Mensch als Wurm mit peinvollen Bewegungen seinem Schicksal zu entkommen sucht." Das war der Kammerspielfilm, ein Genre, das Friedrich Wilhelm Murnau mit Der letzte Mann einst zur Vollendung brachte. Das "deutsche Frust-Kino par exellence", wie ein Kritiker das Genre einmal beschrieben hat. Mit seinem Spielfilmdebüt Karakter eifert der Niederländer Mike van Diem ganz offensichtlich solchen Vorbildern nach. Reminiszenzen an den Film der zwanziger Jahre werden allenthalben wach. Wie im Kammerspielfilm und im Straßenfilm dreht sich alles um die Psychologie des Alltags. Wandte sich der Kammerspielfilm programmatisch gegen die subjektiven Verzerrungen des Studio-Expressionismus, so lenkt der Straßenfilm auch durch die bewegliche Kamera den Blick des Zuschauers auf das soziale Milieu. An Schauplätzen in Hamburg und in Polen lässt van Diem das Rotterdam der Inflationszeit zwischen den Weltkriegen noch einmal lebendig werden. Rogier Stoffers Kamera ist unentwegt in Bewegung; schwenkt, fährt und zoomt sich durch eine in ein gleichförmig dunkles Licht getauchte Szenerie.
Van Diems Film basiert auf Ferdinand Bordewijks 1938 veröffentlichtem Roman Karakter, einem im deutschsprachigem Raum nahezu unbekannten Werk, und erzählt von einer schwierigen Jugend in schwerer Zeit. Jacob Katadreuffe (Fedja van Huet) wird als unehelicher Sohn des tyrannischen Gerichtsvollziehers und Geldverleihers Arend Barend Dreverhaven (Jan Decleir) und dessen Haushälterin Joba Katadreuffe (Betty Schuurman) geboren. Joba, eine stolze und wortkarge Frau, hat sich über Jahre Dreverhavens beharrlich vorgetragenen Heiratswünschen widersetzt und auch Dreverhavens Geld zurückgewiesen. Zwei unbeugsamen Charaktere, Außenseiter, die dem Sohn das Leben schwer machen.
Jacob wird vom geschäftigen Treiben einer Anwaltskanzlei angezogen und gegen alle Widrigkeiten Anwalt. Eine merkwürdige Hassliebe verbindet Jacob mit seinem Vater, der die Entwicklung seines Sohnes nur aus der Ferne beobachtet. Am Tag seiner Zulassung ist der junge Katadreuffe ein einsamer Mann. Ein emotionaler Habenichts, der seine Karriere, die er dem Geld des ungeliebten Vaters verdankt, mit dem Preis der Einsamkeit bezahlt.
Surreale Figuren bevölkern diese dunkle, an Charles Dickens erinnernde soziale Welt. Wie der reiche Ausbeuter Scrooge in Dickens' A Christmas Carol in Prose ("Ein Weihnachtslied in Prosa") wandelt sich der mitleidslose Dreverhaven erst im Angesicht des Todes zu einem privaten Wohltäter, der schlussendlich dem Sohn sein Vermögen vermacht. Der Gerichtsvollzieher ist eine grausame Gestalt, die das Gesetz unbarmherzig wie ein Despot verkörpert. Einer, der im Vollzug einer Räumungsklage das Bett einer sterbenden Frau auf die Straße zerrt und auskippt. Oder ungerührt von einem Schusswechsel zwischen Polizei und aufständischen Arbeitern einen Räumungsbescheid vollstreckt. Jan Decleir spielt den unmenschlichen Bürokraten mit nachdrücklicher Körperlichkeit. Ähnlich überzeichnet wirkt Joba Katadreuffe. Stoisch verrichtet die Mutter ihre Hausarbeit, nahezu stumm zieht sie Jacob auf, der sie mehr und mehr an den ungeliebten Mann erinnert. Und stumm verdient sie an der Nähmaschine den kargen Unterhalt für sich und ihr Kind. Nur einmal erwacht sie zum Leben, als sie Jacob klar macht, wie dumm es war, die Liebe seines Lebens gehen zu lassen.
Das geschäftige Treiben in der Anwaltskanzlei, in der Katadreuffe in dem skurrilen Anwalt De Gankelaar (Victor Löw) einen Mentor findet, erinnert an den Betrieb in der Halle des Hotel Atlantik in Murnaus Der letzte Mann. Wie der degradierte Portier, den ein komödiantisches Happy End zum Kapitalisten macht, steht Katadreuffe in einer der letzten Szenen in einem Toilettenraum seinem gehetzten Spiegelbild gegenüber. Mit seiner Zulassungsurkunde als Anwalt hält er die Eintrittskarte zu einer anderen sozialen Welt in Händen. Wie Gespenster durchziehen Arbeiter und Kommunisten den Film von Anfang bis Ende. Jobas Untermieter und Kostgänger Jan Maan (Hans Kesting) ist allerdings zu einer Art supportingactor verdammt. Ob Katadreuffe tatsächlich in die Fußstapfen seines ausbeuterischen Vaters tritt, wie van Maan es befürchtet, spart der Film aus.
Karakter erhielt 1998 einen Oscar als bester fremdsprachiger Film. Die Quintessenz von Karakter, schrieb damals ein amerikanischer Kritiker, sei ein öder, aber nützlicher Gedanke: Die Probleme des Lebens sind nicht unerheblich, und wir müssen sie uns irgendwie versüßen. Vielleicht hilft uns der Film dabei, den Babyspeck loszuwerden.
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