Von Auschwitz nach Turin

IM KINO Francesco Rosi verfilmt Primo Levis Autobiographie »Die Atempause«

Wie ein apokalyptischer Reiter, ein tragischer Strich in der Landschaft, steht er da. Einen leeren Blechnapf hält er in der Hand mit ausgestrecktem Arm. Gackert. Schlägt mit den Ellbogen wie mit Flügeln. Wendet sich zur Seite und bewegt den Kopf, als wolle er nach etwas picken. - Ein Hühnchen! Ein Hühnchen möchte er, für sich und seine ausgemergelten Kameraden. Primo Levi, alias John Turturro, gelingt die Pantomime so umwerfend komisch, daß die russischen Bauern der kleinen Gruppe zerlumpter Italiener das Federvieh prompt übergeben.

In seinem autobiographischen Roman Die Atempause hat der Turiner Chemiker und Antifaschist Primo Levi die Odyssee seiner Heimkehr aus dem Konzentrationslager Auschwitz beschrieben. Neun Monate, von Januar bis Oktober 1945, irrte Primo Levi durch weißrussische und ukrainische Lager, bis zur umwegreichen Heimreise über Rumänien, Ungarn und Österreich. Das allmähliche Aufwachen und Zusichkommen, die allmähliche Wiederkehr der Lebensgeister und das Aufkeimen von Hoffnung ist das zentrale Motiv der literarischen Vorlage, das Francesco Rosi in seiner mit großem Aufwand an Originalschauplätzen in Lemberg und der Umgebung von Kiew gedrehten Filmadaption aufgreift und traumwandlerisch-realistisch umsetzt.

Zwei Häftlinge kippen die Leiche eines Mithäftlings in den grauen Schnee, während auf der anderen Seite des Stacheldrahts vier russische Kavalleristen auftauchen, die, wie Cowboys mit einem Lasso, die Türflügel des eisernen Tores umreißen. Im Augenblick der Freiheit klatscht das Tor mit einem Paukenschlag auf den gefrorenen Boden. »Wir kamen uns Angesichts der Befreier leer und ausgemergelt vor, ungeeignet für die Freiheit, die plötzlich vor uns stand«, sagt die Off-Stimme Primo Levis in der Anfangssequenz. Ein schmaler Häftlingsstrom bahnt sich seinen Weg durch die Öffnung aus dem Lager und sogleich wieder retour, vor den anrückenden Soldaten der Roten Armee zurückweichend. Mit den Russen kommt Betriebsamkeit in die zerlumpte Menge, die die Häftlingskleider ablegt; nur Primo behält die gestreifte Jacke mit der Nummer 174.517: »Um es nicht zu vergessen«, sagt er entkräftet, aber bestimmt.

So beginnt die Odyssee, deren erzählerischer Fluß lediglich durch drei kurze Rückblenden in schwarzweißen Bildern unterbrochen wird. Sie zeigen den grausamen Lagerappell, den Mißbrauch von Frauen und Kindern, von denen es heißt: »Sie waren wie Zugvögel, kaum waren sie angekommen, gingen sie in die Gaskammer.« Zur Wirkung der Filmerzählung trägt wesentlich John Turturros reduziertes Spiel bei. Der New Yorker Schauspieler, sonst ein Spezialist für exzentrische, neurotische Charaktere vor allem, hatte beispielsweise als Bernie Bernbaum in der Hinrichtungsszene in Miller's Crossing der Coen-Brüder gezeigt, wie facettenreich er die Abgründe menschlicher Seelen ausloten kann. Kein Geringener als Martin Scorsese stellt den Kontakt zwischen Rosi und Turturro her, der für Rosi die ideale Besetzung war. Nachdenklich, feinfühlig, distanziert, verletzlich und dennoch optimistisch, kreiert Turturro in Die Atempause einen Menschen, der nach außen fast gleichmütig durch die Abenteuer wie die tägliche Routine des Überlebens marschiert.

Politik, Verbrechen und der schmale Grat zwischen legaler und illegaler Macht sind die bevorzugten Themen des neapolitanischen Regisseurs, dessen Filmkarriere als Assistent von Luchino Visconti (La Terra Trema) begann. Von Visconti, an dem Rosi die »un-italienische Arbeitsweise« schätzte, hat er gelernt, immer streng an der Wirklichkeit zu bleiben und dennoch die neapolitanische Art, die Dinge zu sehen, nie aufgegeben. Seinen ersten Film drehte der heute 76jährige Rosi 1957. Mit subtilen Gangster-, Mafia- und Gesellschaftsstudien wie Die Macht und ihr Preis, Salvatore Giuliano und Luchy Luciano wurde er in den frühen 60er und späten 70er Jahren berühmt. Die Atempause trägt die unvermindert kraftvolle Handschrift des Realisten: eine Mischung aus quasi amerikanischer Erzähltechnik mit malerisch-plastischen Bildern. Die Kamera führte ein letztes Mal der auch von Visconti und Robert Bresson bevorzugte Operateur Pasqualino De Santis, der kurz vor Abschluß der Dreharbeiten starb.

Das Leben ist schön, tragisch und grotesk zugleich, so ließe sich ein Fazit zu Die Atempause ziehen. Ein überaus sehenswerter Film, der bereits 1997 in Cannes gezeigt wurde und offenbar angeregt durch Mahnmal-, Walser-Bubis-Debatten, den Publikums-Erfolg von Spielbergs »Schindlers Liste« und die Auszeichnungen für Benignis »Das Leben ist schön« jetzt auch hierzulande einen Verleih gefunden hat. Das Unvorstellbare beim Thema Holocaust hat der neapolitanische Realist in Die Atempause auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Denn der Nukleus bei Filmen wie diesem ist die Gewißheit, »daß die Wahrheit immer eine andere Wahrheit versteckt«. Nach seiner Art des Filmemachens befragt, antwortete Francesco Rosi einmal in einem Interview: »Man muß sich erinnern, damit man nicht vergißt. Man muß urteilen können über die Zeit und die Menschen, die Täter waren. Aber nicht aus Rache, sondern um zu verstehen.« Bemerkenswert sind auch Rosis Ansichten über den Zuschauer. Den hat sich Rosi immer »als aktiven Menschen« vorgestellt, »der im Kino zum Träumen angeregt wird und zugleich seine staatsbürgerliche Identität wiederfindet«.

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