Irgendetwas fehlt

Alltag Methadonprogramme erlösen vom Heroin, nicht aber von der Sucht. Besuch in einer Praxis für Allgemeinmedizin

Ein Tablett. Plastikbecher darauf. Auf jedem steht ein Name. Punkt acht erscheint der erste Patient, Fahrrad-Helm unterm Arm, von der schwarzen, schweren Jacke tropft Regen. Er tritt an die Theke. Hinter einem Schutzwall aus großen Pflanzen sitzt die Sprechstundenhilfe, guckt ihm in die Augen, schiebt ihm seinen Plastikbecher hin. Er trinkt. Und geht. Der Tag kann beginnen, die Dosis reicht für die nächsten 24 Stunden.

Bald geht es Schlag auf Schlag: Menschen kommen, trinken, gehen. Ex-Junkies, denen man die Drogensucht ansieht. Und Ex-Junkies, denen man ein Leben als Bankangestellte durchaus zutraut. Manche gepflegt. Manche nuttig. Manche flippig. Manche fertig. Sie stellen sich an der Theke zu den Patienten, die wegen Rheuma, Blutdruck, Depressionen, Grippe kommen, warten bis sie dran sind und holen sich ihre Dosis. Dann verlassen sie die Praxis sofort wieder. Es sei denn, die Sprechstundenhilfe sagt: "Einen Moment, bitte, Frau Doktor möchte Sie sprechen."

Frau Doktor F., Allgemeinmedizinerin, war eine der ersten in der Stadt, die Drogensüchtige mit Methadon substituiert hat. In einem Hinterraum hat sie einen Tresor aufgestellt. Darin lagert sie ihre Schätze: Methadon. Polamidon. Subotex. "Auf dem Schwarzmarkt könnte man reich damit werden", sagt sie - eine gestandene Frau um die 60 in weich fließenden Designerkleidern. "Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, Menschen zu helfen."

Von den 120.000 bis 150.000 Opiatabhängigen in Deutschland werden heute etwa 50.000 mit Methadon substituiert. Seit 2002 ist Drogenabhängigkeit als Krankheit angesehen und seither ist nicht mehr - wie früher - eine Begleitkrankheit wie Hepathitis oder eine HIV-Infektion Bedingung für die Aufnahme in die Substitution. Sie erfolgt heute relativ unbürokratisch.

Dr. F. substituiert seit 1988. Damals kamen zwei Junkies zu ihr in die Praxis - ein junges Paar. Das Mädchen hatte sie schon als Kind behandelt. Der Junge hatte fürchterliche Abszesse. Er spritze Heroin, seine Adern gingen zu und das Gewebe war nicht mehr durchblutet. Auch das Mädchen nahm Drogen. Die beiden hatten von Methadon gehört und sagten: "Frau Doktor, Sie sind doch Ärztin, können Sie sich nicht mal darum kümmern?" Frau F. befragte ihr Gewissen. Und das sagte ja. "Ich dachte, das könnte der Königsweg sein. Man ersetzt das Heroin, dosiert dann langsam herunter, und der Patient kann drogenfrei leben."

"Ich war naiv", sagt Dr. F. heute. Wenn man Methadon-Patienten runterdosiert, sind sie zwar clean, aber das Verlangen nach Drogen, die Sucht ist noch da. Die Leute werden rückfällig, und der Kreislauf beginnt von Neuem. "Das Programm hat einen anderen Verlauf genommen", sagt Frau F. "Die Patienten bleiben. Wie die Zuckerkranken oder die Herzpatienten kriegen sie über Jahrzehnte ihre Medikation, um die Krankheit zu beherrschen." Wogegen im Grunde auch nichts einzuwenden ist. Das Medikament kostet rund einen Euro am Tag - plus die Honorare von Apothekern und Ärzten. Das ist wenig im Vergleich zu den Kosten, die durch den Konsum von illegalen Drogen und Beschaffungskriminalität entstehen. F.s erster Methadon-Patient kommt bis heute. "Er ist stabil in seiner Substitution", sagt sie, "mehr nicht. Aber immerhin das."

C. ist seit 1993 bei F. in Behandlung. Jetzt muss sie nur noch einmal in der Woche erscheinen. Sie trinkt eine Dosis Methadon vor den Augen der Sprechstundenhilfe und nimmt sechs weitere mit nach Hause, für jeden Tag eine: Die Wochenration ist das Privileg derer, die als stabil genug dafür gelten. Nach knapp einer Minute ist sie wieder draußen. C. ist eine hübsche Frau, 40, die Haare sorgsam getönt, die Füße in spitzen Stiefeln, die Hände kräftig. Sie kann Möbel restaurieren. Tut sie aber nicht. C. ist zur Zeit mal wieder ohne Arbeit, der Besuch in der Praxis ist einer der wenigen festen Termine, die sie hat. "Man hat ja jetzt praktisch alle Zeit der Welt", sagt sie. Seit sie Methadon nimmt, ist der ewige Kreislauf aus Geld beschaffen, Heroin besorgen, konsumieren, breit sein, runterkommen, Geld beschaffen, Heroin besorgen durchbrochen: Ein Kreislauf, der vorher ihre Tage ausgefüllt hat und keinen Raum ließ, sich um andere Dinge zu kümmern. Das fällt jetzt weg. Ein Problem ist damit gelöst. Viele andere bleiben.

Das größte: Irgendwas fehlt. "Man ist wie lahmgelegt, man lacht nicht spontan, man weint nicht spontan. Ich hab das Gefühl, dass man sein Leben verpennt." Manchmal überlegt sie, was passieren würde, wenn sie sich langsam runterdosieren ließe. Ob sie dann wieder Lust hätte auf Sex? Ob dann die Gefühle wieder kämen, die Aufs und Abs im Leben? Damals, als sie noch Heroin nahm, da war das Leben eine steile Zackenkurve. Man wusste nie, was passiert, die Wirkung war jedesmal anders. Mal war man breit. Mal spürte man eher wenig. Mal war man wach, mal ganz oben, mal wie zerstört. "Jetzt ist der Körper ständig abgefüllt. Die Rezeptoren im Gehirn sind noch voll, wenn ich die nächste Dosis nehme. Es stimmt nicht, dass Leute, die Methadon nehmen, keine anderen Drogen mehr wollen."

Für Frau F. ist klar: Drogensucht ist eine Zweiterkrankung, dahinter steckt fast immer etwas anderes: Eine beginnende Schizophrenie, eine Depression, eine starke emotionale Störung, die macht, dass es im Kopf wühlt und rumort, und die man ohne Drogen nur schwer ertragen würde. "Wenn am Anfang der Sucht die Erstkrankheit schon beherrschbar gewesen wäre, würden die meisten wahrscheinlich nicht süchtig", so F. Aber das ist selten der Fall. "Bei vielen Patienten reicht Methadon allein nicht", sagt sie. "Erst, wenn es durch ein Antidepressivum oder ein Neuroleptikum ergänzt wird, sind die Leute stabil."

An Heroin hat, wer Methadon nimmt, meist kein Vergnügen mehr. Das Medikament dockt an den Nervenenden an und sorgt dafür, dass Opiate dort nicht wirken können. Aber es gibt ja noch anderes: Tabletten, Alkohol, Kokain. In den Substitutionsanweisungen steht, dass Beikonsum nicht zu dulden sei. F. schließt mit ihren Patienten einen Vertrag: Beikonsum, heißt es da, kann zum Beenden der Substitution führen. Das müssen alle Beteiligten unterschreiben. Ungefähr die Hälfte der Patienten, schätzt Dr. F., halten sich nicht dran. C. geht sogar noch weiter. "Ich kenne keinen, der nicht nebenbei was konsumiert hat", sagt sie, "außer vielleicht Leute, die gerade erst neu dabei sind."

Die Sprechstundenhilfen sind geschult. Sie sind ja die einzigen, die täglich mit den Methadon-Patienten umgehen. Wenn sie sehen, dass einer gesoffen hat oder breit ist, bremsen sie ihn und schicken ihn ins Sprechzimmer zu Frau Doktor. Die entscheidet, wie es weitergeht: Urinprobe? Reduzierte Dosis, weil mehr gefährlich werden könnte? Rausschmiss? Der Ärztin fällt es schwer, diesen letzten Schritt anzuordnen. "Es geht ihnen dann nur noch schlechter", sagt sie. Solange sie ihr Methadon holen kommen, hätten sie immerhin eine Anlaufstelle. Urinproben, der tägliche, prüfende Blick durch die Sprechstundenhilfen, regelmäßig einmal im Monat ein Gespräch mit der Ärztin. Das bietet einen gewissen Rahmen für ihren Alltag. "Sonst vegetieren sie nur noch vor sich hin."

Andererseits lebt, wer sich andere Drogen dazu besorgt, gefährlich. Neulich zum Beispiel kam einer am Sonnabend schon breit in die Praxis. "Ich habe es dummerweise nicht gemerkt", sagt Frau F. Der hat seine Dosis geschluckt und die für Sonntag gleich hinterher. Im Treppenhaus ist er zusammengesackt. Die Nachbarn haben ihn gefunden. Ich war wütend", sagt sie, "der kriegt jetzt keine Wochenendration mehr, sondern muss sonntags zu einem Kollegen. Und wenn er frech wird, kann er sehen, wo er bleibt."

Appropos frech. Frau F. kann noch ganz andere Geschichten erzählen. Ein Patient zum Beispiel hatte sich einen speziellen Kragen gebaut. Darin war ein Becher. Statt das Methadon zu trinken, schüttete er es heimlich da hinein. Aufgeflogen ist dieser Schwindel, weil schräg gegenüber in der Behörde die Toiletten immer so blutverschmiert waren: Da hat er das Methadon aus dem Becher in eine Spritze gefüllt und sich einen Schuss gesetzt. Das verändert die Wirkung, ihm gefiel das. Andere Patienten versuchen, sich Methadon zu erschwindeln, um es auf der Straße teuer zu verkaufen. Um das zu verhindern, müssen die Patienten jeweils ihre ganze Tagesration vor den Augen der Sprechstundenhilfe trinken. Damit ist ein Level gesetzt - würden sie von ihren Take-Home-Rationen etwas abzweigen, um damit zu dealen, würde ihnen die Menge fehlen. "Wenn ich merke, dass die Leute das Methadon weiterverkaufen, fliegen sie raus", sagt Frau F. entschieden. Aber das sei noch nie vorgekommen.

Es ist nicht einfach, einen Methadon-Patienten vor die Tür zu setzen. Auch das ist in dem Vertrag geregelt, den F. mit ihren Patienten abschließt. "Wer Methadon bekommt, ist auf ein Suchtmittel programmiert. Wenn man ihm das wegnimmt, ist mit schweren Entzugserscheinungen zu rechnen. Und bevor ein anderer Arzt ihn aufnehmen kann, vergeht Zeit." Deswegen kann ein Rausschmiss nur geregelt stattfinden - erst runterdosieren, dann entlassen.

C. spürt diese Abhängigkeit deutlich. "Als ich noch Heroin nahm", sagt sie, "habe ich manchmal meine Sachen gepackt, bin rausgefahren aufs Land und hab entzogen. Das war hart. Aber es war möglich. Bei Methadon kann das lebensgefährlich werden." Denn die körperlichen Reaktionen bei Methadonentzug sind wesentlich drastischer. So ist die eine Sucht ist durch eine andere ersetzt. Im Grunde ist Methadon die stärkere Droge - nur eben legal. "Jetzt ist praktisch mein Arzt mein Dealer", sagt C., "und ich kann nicht von ihm weg. Wenn Krieg kommt und die Versorgung zusammenbricht, werden wir Substituierten jämmerlich krepieren."

Diese Abhängigkeit hat vor allem in den Anfangsjahren das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten stark belastet. "Inzwischen ist es in der Szene ruhiger geworden", sagt Frau F.. Es gibt genügend Ärzte, die subsituieren, die Leute wissen, dass sie ihre Substanz kriegen. "Das ist ein Gottesgeschenk", sagt die Ärztin. "Sonst müssen sie von morgens bis abends rumgehen, gucken, wo sie ihren Stoff herbekommen, klauen gehen, anschaffen, dealen - und jetzt kriegen sie das umsonst, indem sie einmal am Tag hier erscheinen. Das ändert das Leben total."

"Na ja", dämpft C. den Optimismus. "So einfach ist das nicht. Denn bloß weil ich clean bin, habe ich noch keine neuen Freunde. Und schon gar keinen Job. Wenn ich im Einstellungsgespräch sage, dass ich zwischen 15 und 30 in Sachen Drogen unterwegs war, interessiert niemanden, dass ich heute clean bin und keinen Beikonsum mehr habe. Obwohl ich stolz drauf bin." Viele fangen wieder an zu saufen oder irgendwelche Drogen zu nehmen, anschaffen zu gehen, zu klauen - aus reiner Langeweile und weil es das Leben ist, das sie kennen. Eine unendliche Geschichte? Nein, sagt Frau F. Sie beobachtet, dass oft mit dem Alter der Suchtdruck aufhört. Manchmal ganz spontan. C. hat da Zweifel. Sie vermutet eher, dass sie auch als "Oma am Krückstock" noch einmal in der Woche ihre Ration abholen wird. Keine sehr erbauliche Aussicht - "aber", sagt sie, "besser, als mit 65 auf der Straße einen Dealer anzusprechen."


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