Die Zurückgebliebenen

Soziologie Warum wütet die rassistische Gewalt besonders im Osten? Weil die Menschen dort als Rassisten geboren werden? Nein, bestimmt nicht
Ausgabe 35/2015
Der braune Mob in Heidenau
Der braune Mob in Heidenau

Foto: epd/Imago

Schon vor Freital und Heidenau entlud sich der Hass auf Asylbewerber und Flüchtlinge in Ostdeutschland häufiger und heftiger als in den westlichen Bundesländern. Nicht nur ist die Zahl der rassistisch motivierten Gewalttaten im Jahre 2014 um 40 Prozent gestiegen – fast die Hälfte davon ist in den neuen Ländern, die nur knapp 17 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, verübt worden. Vor allem Sachsen hat sich zur Hochburg der Angriffe auf Flüchtlinge und Asylbewerberheime entwickelt. Dass diese Taten ausschließlich mit den Tätern und keineswegs, wie oft behauptet, mit der großen Anzahl der Flüchtlinge oder gar deren Verhalten zu tun hat, kann man allein daran erkennen, dass Sachsen deutlich weniger Flüchtlinge aufnimmt als andere Bundesländer.

Doch warum sind die Aggressionen in den neuen Ländern besonders heftig? In gewisser Weise muss der Osten als ein Laboratorium für die Folgen von gesellschaftlichen Problemlagen unter dem Vorzeichen des Neoliberalismus betrachtet werden. Nach der Wende dachte man, dass die Ostdeutschen weitgehend immun gegen Rechtsextremismus seien. Schließlich galt die DDR als antifaschistische und weitgehend egalitäre Staatsform. Während der kapitalistische Westen einen beträchtlichen Konkurrenzdruck aufgebaut und gravierende Ungleichheiten hervorgebracht hatte, schien das Leben unter planwirtschaftlichen Bedingungen in der Nischengesellschaft halbwegs solidarisch und durch staatliche Fürsorge geprägt.

Spätestens heute wissen wir aber, dass der verordnete Antifaschismus fatale Konsequenzen hatte, ja er verkehrte sich beinahe in sein Gegenteil. Wie die Soziologen Peter Alheit, Kerstin Bast-Haider und Petra Drauschke in einer viel beachteten Studie zeigen konnten, haben sich rechtes Gedankengut und autoritäre Denkmuster über die Generationen hinweg erhalten. Diese wurden, nicht offiziell, aber doch als Familien-tradition weiter vermittelt.

Diese Besonderheiten ostdeutscher Mentalitäten bilden den psychischen Nährboden für eine stärkere Aggressionsbereitschaft gegenüber Fremden wie auch eine größere Toleranz gegenüber fremdenfeindlicher Gewalt. Sie können allerdings nicht hinreichend erklären, warum es in den letzten Jahren zu einem Anstieg der Gewalt gegen Fremde gekommen ist. Man muss wissen, dass im Osten Deutschlands die soziale Deprivation – Armut, prekäre Lebenslagen und soziale Abstiege – tatsächlich viel größer ist als im Westen Deutschlands. Nicht nur die Arbeitsplätze, nahezu alle gesellschaftlichen Bindekräfte haben sich aus dem Gesellschaftskörper zurückgezogen. Dies zeigt sich vor allem in Sachsen, wo das Kollektiv viel zählte und wo Heimatgefühle und Traditionen bis heute eine große Rolle spielen. Fast eine Million Menschen haben das Land seit 1990 verlassen. Schulen, Läden und Arztpraxen müssen schließen. Häuserzüge verwaisen und Dörfer werden zu Geisterstätten. Zurück bleiben oft nur die Alten, die Sozialhilfeempfänger und diejenigen, die sich im Westen keine Zukunft erhoffen. Die Rückkehr der Wölfe ist nur ein Symbol des Prozesses, der im Amtsdeutsch treffenderweise auch als Renaturalisierung bezeichnet wird.

Die Gebliebenen fragen sich, was aus ihnen wird. Sie fühlen sich von den politischen Autoritäten verlassen, lieber – so die Meinung – kümmern die sich um die Flüchtlinge. Das Gefühl der Vernachlässigung wird noch dadurch bestärkt, dass das Land nach der Wende in Windeseile durch Westeliten überschichtet worden ist, welche die wichtigsten Ämter in der Verwaltung, in Universitäten und Krankenhäusern, besetzen. Diese neuen Eliten sind weitgehend unter sich geblieben. Gefühle der Unterlegenheit und der Fremdheit im eigenen Land kamen auf. Man muss es deutlich sagen: Das Problem sind nicht die Asylbewerber, das Problem liegt vielmehr darin, dass viele Menschen das Gefühl haben, die Kontrolle über ihr gemeinsames Leben zu verlieren und in der Politik keine Resonanz für ihre Sorgen zu finden. Die schwache Wahlbeteiligung wie auch die Gewalttaten gegen Fremde sind dann wie verzweifelte Hilferufe, „von denen da oben“ wahrgenommen zu werden.

Doch wer glaubt, der Westen Deutschlands sei gegen solche Entwicklungen gefeit, täuscht sich. Auch im Westen hat sich der Staat weitgehend zurückgezogen – insbesondere aus der Funktion der sozialen Absicherung. Wohlfahrt, Bildung, Gesundheit und selbst Arbeit sind inzwischen zu Gütern geworden, die der Staat nicht mehr fraglos zur Verfügung stellt, sondern von den Einzelnen erkämpft werden müssen. Dabei schneiden jene besonders schlecht ab, die Hilfe am dringendsten benötigen. Der westliche Staat genoss nur deswegen eine breite Zustimmung, weil er in der Vergangenheit immer wieder als Wohlfahrtsstaat auftrat. Viele Menschen wissen heute nicht mehr, warum sie einen Staat unterstützen sollen, der Wohlfahrtsgüter nicht halbwegs gerecht zur Verfügung stellt. Besonders gravierend scheint es da, wenn nun Leute mit Zuwendungen versehen werden, die vermeintlich nicht dazu gehören: Flüchtlinge und Migranten. Flüchtlingspolitik ist eben auch Sozialpolitik.

Cornelia Koppetsch lehrt Soziologie an der TU Darmstadt. Von ihr stammt das Buch Die Wiederkehr der Konformität (Campus)

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