Abgefüllt wie ein Köter

Interview Der Schriftsteller Liao Yiwu fühlt sich auch sieben Jahre nach seiner Flucht aus China nicht wirklich frei
Ausgabe 22/2018

Im Zuge der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 schrieb Liao Yiwu ein Gedicht, für das er zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Seine regimekritischen Werke dürfen in China auch seit dem Ende seiner Haftstrafe nicht erscheinen. Seit 2011 lebt er im deutschen Exil. In seinem neuen Buch Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass erinnert er sich an seine „lange Flucht aus China“.

der Freitag: Herr Liao, Ihnen wurde 15 Mal die Ausreise verweigert, Ihr Reisepass wurde annulliert, am Ende mussten Sie sich Ihre Freiheit für 40.000 Renminbi (damals 4.250 Euro) bei einem vietnamesischen Schlepper erkaufen. Hat Sie das wütend gemacht?

Liao Yiwu: Das war viel weniger Wut, als extreme Angst. Ich bin in meinem Leben zwei große Wagnisse eingegangen. Das eine war die Verbreitung meines Gedichts Massaker im Juni 1989, wofür ich ins Gefängnis musste. Das andere war diese Flucht. Ich war 53 Jahre alt und dachte: Wenn du jetzt nicht rauskommst, dann ist dein Leben vorbei. Zum Glück habe ich meinem Instinkt vertraut. Dass es auch anders kommen kann, hat man ja an Liu Xiaobo gesehen, der letztes Jahr mir nichts, dir nichts in der Haft gestorben ist.

In Ihrem Buch ist ein Brief abgedruckt, den Sie vor Ihrer Flucht an Angela Merkel geschickt haben. Darin schreiben Sie: „Ich muss unbedingt einmal durchatmen, den Geschmack der Freiheit auf der Zunge spüren.“ Fühlen Sie sich in Deutschland frei?

Als ich geflohen bin, dachte ich: Hauptsache weit weg von China.Nach meiner Ankunft in Deutschland bin ich um die ganze Welt gereist, nach Australien, Taiwan, in die USA. Der letzte Satz in meinem Buch ist: „Lebe wohl, China, den du immer eingesperrt hast, er wird nun über die Erde wandern.“ Trotzdem, ganz frei fühle ich mich nicht. Freunde wie die Künstlerin Liu Xia und der Autor Li Bifeng sitzen noch immer in China fest und leiden. Ihre Unfreiheit bedeutet auch meine Unfreiheit.

Zur Person

Liao Yiwu wurde 1958 in der chinesischen Provinz Sichuan geboren. 2012 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Sein jüngstes Buch Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass: Meine lange Flucht aus China ist im April bei S. Fischer erschienen. Seit 2011 lebt er in Berlin

Sie schreiben, China sei „die größte Müllhalde der Welt, aber nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Geschichten wie auf dieser Müllhalde.“ Wie meinen Sie das?

In China passieren Dinge, die jenseits der Fantasie des besten Schriftstellers sind. Nehmen wir das Wetter: In vielen Städten gibt es ein Smog-Problem, dauernd ist der Himmel bedeckt. Aber wenn eine wichtige Persönlichkeit aus dem Ausland zu Besuch kommt, sorgt die Regierung mithilfe von Chemikalien dafür, dass der Smog sich verzieht und die Sonne scheint. Wer kann sich sowas ausdenken? Oder ein anderes Beispiel: Vor ein paar Wochen sehe ich plötzlich ein Selfie, auf dem zwei Menschen sich herzen. Das waren Ai Weiwei und Alice Weidel. Hat der Kerl sich nicht gerade noch für Flüchtlinge eingesetzt? Als Schriftsteller beschreibe ich Figuren, die eine innere Entwicklung haben, aber wie kann jemand so unvermittelt von ganz links nach ganz rechts springen?

Ein Kapitel Ihres Buches heißt „Heimat in der Fremde“, nach einem Stoßseufzer von Friedrich Hölderlin. Ist Deutschland Ihre Fremde?

Wirklich zu Hause fühle ich mich nur in der Literatur. Ich bin es gewohnt, an einem Ort ein Fremder zu sein, aber wenn ich chinesische Bücher lese oder auf Chinesisch schreibe, ist es, als wäre ich wieder in meiner Heimat.

Und diese Heimat ist China?

Dieses von mir so verachtete China? Ich habe das schon 2012 bei meiner Friedenspreisrede gesagt: Dieses Imperium muss auseinanderbrechen. Meine Heimat, das ist eigentlich die Provinz Sichuan. Im Idealbild stelle ich sie mir als ein Land voller Köche und Schnapsbrenner vor. Wenn wir Sichuaner trinken, und wir trinken gerne, krakeelen wir plötzlich mutig herum, schimpfen auf die Regierung und sagen, was wir wirklich denken. Bestünde ganz China zu 70 Prozent aus Trinkern, hätten wir Demokratie im Land! (lacht)

Wie sieht das Leben aus, das Sie sich gewünscht hätten, wenn Sie nicht zur Flucht gezwungen gewesen wären?

Ich hatte eigentlich nie allzu große Ansprüche an das Leben. Nachdem ich 1994 aus dem Gefängnis frei kam, haben sich viele meiner Literatenfreunde nicht mehr getraut, mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich habe dann ein paar Jahre als Kneipenmusiker gearbeitet, hier gesungen, dort Flöte gespielt. Mit dieser Existenz war ich eigentlich ganz zufrieden. Ich bekam Getränke, und das Publikum war spendabel. Wenn ich heute an die Zeit denke, werde ich ein bisschen nostalgisch. Ich empfand sogar einen gewissen Stolz auf meinen Lebensstil. Viele Künstler, die mal politische Gefangene waren, sind nach ihrer Freilassung auf Stipendien von Stiftungen angewiesen. Als Kneipenmusiker konnte ich zwei, drei Jahre direkt von meiner Kunst leben.

Apropos Trinken: In ihrer Fluchtgeschichte erzählen Sie, wie ständig der Sicherheitsdienst vorbeikommt und „Tee trinken“ will.

„Tee trinken“, das heißt in China mittlerweile: Polizeiverhör. Einmal wurde ich in Yunnan von der Nationalen Sicherheit aufgegriffen und mit zum Anwesen eines bekannten Milliardärs geschleppt. Dieser Mann, so hörte man, unterhielt enge Beziehungen zu Wang Qishan, dem jetzigen Vizepräsidenten, und erstattete dem Sicherheitsdienst regelmäßig Berichte, vermutlich als informeller Mitarbeiter. Er trank wie ein Lebensmüder und bestand darauf, dass ich über Monate hinweg dreimal am Tag mit ihm soff. Es war zum Verzweifeln, er hat mich abgefüllt wie einen Köter. Nachdem wir getrunken hatten, wollte er mich dazu bringen, Geständnisse abzulegen und sagte: „Liao, erzähl von deinem Leben.“ Die Sicherheitsbeamten saßen daneben und schrieben Protokoll. Das war ihre Art, mich umzuerziehen.

Die Sicherheitsleute wollten Sie auch dazu bringen, ein regimekonformes Buch zu schreiben, quasi als Rehabilitationsangebot.

Ja, der Milliardär kam eines Tages an und meinte: „Hier ist dein Ausweg. Du musst dich ja nicht gleich beim Staat anbiedern, aber schreib doch mal einen Bestseller, was Leichteres. Wenn wir deinen Entwurf gut finden, kriegst du eine Anzahlung, ich bitte den Präsidenten der Universität Peking um ein Vorwort und du bist ein ganz neuer Mensch.“ Ich schrieb also den Anfang eines Schelmenromans, in dem ich einen dekorierten Veteranen aus dem Koreakrieg erfand, der in einem Rotlichtviertel in ein Missgeschick hineinstolpert und einen Medienskandal lostritt. Nach einer Weile machte mir das Schreiben sogar Spaß, und als ich fertig war, war ich wirklich zufrieden mit mir. Ich dachte ernsthaft, die Geschichte würde den Sicherheitsleuten zusagen. Aber der Chef las meinen Entwurf und brüllte mich an: „Was ist das schon wieder für reaktionäres Zeug? Was faselst du von einem Revolutionär, der zu Prostituierten geht? Dir kann man einfach nicht helfen!“

Und umgekehrt? Macht Ihnen noch etwas Hoffnung für China?

Als ich mir das letzte Mal Hoffnungen gemacht habe, hat sich das als großer Fehler herausgestellt. Das war vor meiner Flucht, ich hatte die Erlaubnis erhalten, einer Einladung zum Internationalen Literaturfestival Berlin zu folgen, und Herta Müller und Wolf Biermann sagten zu mir: „Wenn du jetzt zurückgehst, kommst du nie wieder raus.“ Ich wollte aber unbedingt, ich dachte, die Dinge bessern sich gerade. Liu Xiaobo hatte den Nobelpreis gewonnen, und Liu Xia durfte ihn im Gefängnis besuchen. Ich war kaum in Peking gelandet, da drehte sich mir der Magen um – am Ausgang warteten drei Polizisten auf mich und führten mich ab.

Liu Xia, die Witwe von Liu Xiaobo, steht seit 2010 ohne Anklage unter Hausarrest. Anfang Mai haben Sie einen Mitschnitt eines Telefonats mit ihr veröffentlicht, in dem sie unter Tränen sagt, dass Sterben für sie einfacher wäre als Leben. Vergangene Woche fragte ein deutscher Journalist während Angela Merkels Staatsbesuch nach Liu Xias Schicksal. Chinas Premier Li Keqiang sagte nur, Humanität liege China am Herzen.

Lis Antwort ist ein Fortschritt, aber Liu Xias Hausarrest beweist, dass genau das Gegenteil seiner Aussage der Fall ist. China tritt Menschenrechte und Humanität mit Füßen. Die Aufzeichnung des Telefonats, in dem Liu Xia so bitterlich weint, ist um die ganze Welt gegangen. Ich gehe davon aus, dass auch Angela Merkel sie gehört hat und weiß, dass sie jetzt mehr denn je für Liu Xia kämpfen muss. Die Welt heftet ihren Blick auf sie und sagt: „Habt ihr Deutschen nicht die ganze Zeit über Liu Xia und Liu Xiaobo geredet, als er den Friedensnobelpreis bekommen hat? Jetzt müsst ihr euch fragen, wie ihr zu Ergebnissen kommt.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden