Fuffzehn Uhr Feierabend

Protest Beim „Kampf- und Feiertag der Arbeitslosen“ erscheinen erstaunlich viele Menschen mit Arbeit. Die Aktivisten demonstrieren gegen sinnlose und unterbezahlte Jobs

„Ich möchte lieber nicht“, sagt Bartleby in Herman Melvilles berühmter Novelle. Bartleby ist als Kopist bei einer Kanzlei an der New Yorker Wall Street angestellt. Ein rätselhafter Mann, der das Geschäftstreiben der Manhattaner Finanzwelt bestenfalls zur Kenntnis nimmt. Als ihm sein Vorgesetzter eines Tages abwesend ein Dokument zum Abgleichen hinhält, erwidert Bartleby lakonisch: Nun, eigentlich habe er keine Lust. Sein Chef, ungläubig und außer sich, meint sich verhört zu haben. Wie bitte? „Ich möchte lieber nicht.“

Diesen Spruch, nebst einer aufblasbaren Gummipalme, hat sich am 2. Mai auch Bernd Seufert vorn an sein Doppelsitz-Dreirad geklebt: „I would prefer not to“ steht da, in schwarz auf ein Blatt Papier gedruckt. Er ist hier, um am „Internationalen Kampf- und Feiertag der Arbeitslosen“ teilzunehmen. Auf Initiative des Lesebühnenkollektivs „Die Surfpoeten“ zieht die Demonstration seit 2004 jedes Jahr am Tag nach dem Maifeiertag vom Berliner Senefelderplatz aus durch die Straßen des Prenzlauer Bergs und streitet, mit viel Selbstironie und ein bisschen Ernst, „gegen den Zwang zur Lohnarbeit“.

Bernd Seufert, der sich auf seinem Gefährt sitzend eine Zigarette anzündet, ist gekommen um sich, wie er sagt, „der Leistungsgesellschaft zu verweigern“. Ob er selber arbeitslos sei? Nein, Sozialarbeiter, in Teilzeit – und das sei auch gut so: Er könne sich nie vorstellen, eine volle Stelle zu besetzen, schon weil dann kaum Zeit für ihn selbst übrig bliebe. Um heute dabei zu sein, hat er sich freigenommen. Wenn er nicht „müsste“, würde er seinen Job zwar auch weiterhin machen wollen, aber eben nicht als 40-Stunden-Woche. „Der wahre Luxus in unserer Gesellschaft ist Freizeit“, meint er, der Begriff der Faulheit sei zu negativ konnotiert. Bevor sich die Demonstration in Gang setzt, holt er noch eine Reclam-Ausgabe von Bartleby heraus und steckt sie sich für alle sichtbar in die Umschlagfalte seiner Wollmütze. Er habe das Buch – ehrlich gesagt – noch nicht gelesen, aber mit dem Gedanken wolle er sich solidarisieren.

Tatsächlich sind für einen „Tag der Arbeitslosen“ erstaunlich wenige Arbeitslose unter den Demonstranten. Auch Arne Seidel, Co-Organisator des Umzugs, ist als Schriftsteller und Bühnenkünstler erwerbstätig. Warum dann diese Veranstaltung? „Weil ich gerne arbeitslos sein können würde.“ Seidel veröffentlicht unter dem Künstlernamen Ahne und berlinert so stark wie sein Pseudonym es vermuten lässt. Trotz des vermeintlich albernen Formats der Veranstaltung spricht er aber mit unironischer Leidenschaft über ihr durchaus ernstes Anliegen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen sei nötig, sagt er, ein Ende der „Spaltung zwischen Arbeitslosen und Arbeitern“.

Also richtet sich das Ganze nicht gegen das Konzept der Arbeit an sich? Nein, gar nicht – nur gegen sinnlose oder unterbezahlte Arbeit. „Aber die Menschen sollen genauso auf unserer Seite sein, wenn sie Lohnarbeit lieben und gerne machen. Es ist ja auch in ihrem Interesse, wenn sie besser bezahlt werden.“ Auf die Frage, wie lange die Veranstaltung gehen soll, fügt er dann aber hinzu: „Fuffzehn Uhr wolln wa fertich sein, wall es soll nich in Arbeit ausahten.“

Diese paar Kaputten

Was im Kern ein ernsthaftes Thema anspricht – prekäre Arbeitsbedingungen und Unterbezahlung –, kleidet sich auf der Demonstration mitunter leider in einen Mantel zufriedener Schmunzelei. „Nie wieder Arbeit“ wird skandiert, „Prosit statt Profit“ steht auf einem Schild, dazu fließen Flaschenbier und Mate. Auch „die Partei“ ist mit Fahnen zugegen, auf denen das Wappen der FDJ abgebildet ist. Wofür das stehe? „Freie Deutsche Jewerkschaft.“ Dass das zweckgebundene Satire ist, scheint nicht immer durch. Als vor den Schönhauser Allee Arcaden, dem Einkaufszentrum, das zum Schauplatz der Zwischenkundgebung erkoren worden ist, über Lautsprecher das „Gebet gegen die Arbeit“ intoniert wird, schimpft eine Passantin, die sich über den unterbrochenen Straßenbahnverkehr ärgert: „Wir haben ein Leben lang gearbeitet, und jetzt diese paar Kaputten hier!“

Dabei sind es gar nicht nur Spaßgesellschaftler, die mitlaufen, sondern Menschen aus ganz verschiedenen Lebenssituationen. Die 36-jährige Franka, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat in Berlin Kunst studiert und ist mit ihrem vier Monate alten Kind da, das sie auf dem Arm hält. Sie selbst trägt kein Schild à la „Arbeit kann tödlich sein“. Eine Freundin habe sie mit auf die Demonstration genommen, aber die hier verkündeten Forderungen – auch sie erwähnt zuerst das bedingungslose Grundeinkommen – seien in ihrem Sinne. Während des Mutterschutzes, vier Wochen vor der Geburt, sei ihr befristeter Vertrag bei einer Bäckerei gekündigt worden, statt wie erhofft in eine Festanstellung zu münden. Wie es für sie weitergehen soll, weiß sie noch nicht, zunächst müsse das Elterngeld reichen.

Die Gespräche mit den Demonstranten, das wird im Laufe des Nachmittags klar, sind deutlich erkenntnisreicher als das Hauptprogramm, dem etwa der musikalische Beitrag „Eisenhüttenstadt ist schön / Niemand muss zur Arbeit geh’n“ entstammt. Trotzdem, erklärt Arne Seidel, hätten seine Mitstreiter und er bewusst ein spaßbetontes Format gewählt: „Wir kommen ja von der Lesebühnenszene her, wo wir in unseren Texten ernste Themen immer so verpacken, dass es eben ankommt. Und das Outfit, in dem wir daherkommen, spricht die Leute an.“ Mit Blick auf die Anzahl der Demonstranten ist das tatsächlich wirksam: Rund 200 haben sich am Ende mobilisieren lassen.

Wirklich nur einen Moment

Auf der Zielgeraden der Route gesellt sich dann sogar ein Essenslieferant zu der Prozession. Der ist nicht nur nicht arbeitslos, sondern justament im Dienst. Bei einigen Demonstranten herrscht zunächst Unsicherheit, ob nun die Antipathie gegen das Franchise überwiegt – der Kurier steckt in voller Foodora-Tracht: rosa Thermo-Rucksack, rosa Fahrradhandschuhe – oder die Solidarität mit dem Arbeitenden, der augenscheinlich gerade sein eigenes bartlebyeskes „Ich möchte lieber nicht“ performiert.

Ob er einen Moment hat? „Ja, aber wirklich nur einen Moment“, lächelt der 21-Jährige. „Ich muss in minus 15 Minuten bei meinem nächsten Restaurant sein.“ Und warum ist er dann seit plus 15 Minuten hier? „Ich hab gesehen, wie die Demo vorhin gestartet ist, bin dann zwei Aufträge gefahren und wollte das letzte Stück noch selber mitmachen.“ Mit seinem Namen möchte er nicht zitiert werden, vielleicht auch wegen möglicher Konsequenzen aus der Chefetage. „Der Job selbst ist großartig, aber aus dem Büro heraus wird man schlecht behandelt. Wir versuchen deshalb auch gerade, Betriebsräte zu gründen.“ Dann piept sein Smartphone, er nimmt mit schnellen Fingern einen Auftrag an und hält mir den Bildschirm hin. Auf einer App steht sein zeitliches Soll: minus 22 Minuten. „Heute ist das okay“, meint er. Schließlich gibt er mir freundlich die Hand, schwingt sich auf den Sattel und ist schon wieder auf dem Weg zurück an die Arbeit. Er wollte dann lieber doch.

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