Abschied und Neuanfang (1)

Abschied von Mindelo Auf dass POOR ON RUHR und andere Blogger heil über den Winter kommen, setze ich hier das Kapitel Mindelo meines Romans "Abschied von Bissau" in 6 Folgen ein

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http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e4/Sao_Vicente.jpg

Foto: Wikimedia Commons, Mindelo, Insel Sao Vicente, Republik Cabo Verde (im Hintergrund der Bergrücken "Monte Cara" - Gesichts-Berg)

Liebe dFC und vor allem lieber por,

ich wollte jetzt eigentlich kürzer treten mit Beiträgen und Kommentaren in der dFC. Der Herbst neigt sich dem Ende zu. Zeit des Abschieds, die der Jan im Ruhrpott unter "Schmerzen" erlebt (Poor on Ruhr). Um die Stimmung über den Winter nicht vollends in den Keller rauschen zu lassen, findet Ihr hier Abwechslung aus Cabo Verde, der ehemaligen portugiesischen Kolonie. Sie ist Teil des Romans: "Abschied von Bissau". Ansonsten haltet die Ohren steif in der Heimat. Die Politik macht unser aller Leben nicht einfacher. CE

Mindelo (1)

Joaquím war als Zwanzigjähriger von den Kapverdischen Inseln nach Bissau gekommen. Seine Kinder- und Jugendzeit hatte er in Mindelo auf der Insel São Vicente verbracht. Diese wichtigste Hafenstadt des Archipels vulkanischer Herkunft war seit den Dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts von großer Bedeutung für den Handel zwischen den Kontinenten Europa, Afrika und Amerika. Mit Beginn der Dampfschifffahrt errichteten englische Unternehmen Kohlelager in unmittelbarer Nähe des Hafens „Porto Grande“, die die Energieversorgung der Schiffe sicherstellten und so den raschen Aufschwung des Transatlantikhandels begünstigten. Mindelo entwickelte sich zwischen 1850 und 1880 zu einer kosmopolitisch geprägten Stadt, in der englische Einwanderer, Matrosen und Passagiere aus aller Herren Länder Kontakte zur lokalen Bevölkerung aufnahmen. Die Einwohnerpyramide Mindelos bestand im Wesentlichen aus drei sozialen Schichten: eine Unterschicht, bestehend aus ehemaligen Sklaven Westafrikas, sowie eine Mittelschicht, die sich aus schon lange eingewanderten Portugiesen und der farbigen Mischbevölkerung zusammensetzte. Und schließlich war da die kleine Oberschicht, die zum einen durch die weiße Elite aus dem portugiesischen Mutterland verkörpert wurde, die die Schaltstellen der Kolonialverwaltung kontrollierte. Des Weiteren zählten die englischen Direktoren und Angestellten der Kohlefirmen und der „Western Telegraph Company“ sowie die ausländischen Diplomaten zur Oberschicht. Die Western Telegraph, in der mehr als hundert Angestellte die telegrafische Kommunikation zwischen den Kontinenten sicherstellte, verdankte ihre Niederlassung der Verlegung der Unterseekabel in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts.

Landwirtschaft war seit jeher auf den wüstenähnlichen Böden von São Vicente kaum möglich; auch die übrigen Inseln sind wegen der geringen Niederschläge nur in begrenztem Maß für die Erzeugung agrarischer Produkte geeignet. Der Archipel wurde seit der Besiedlung durch Portugiesen und Sklaven aus Westafrika immer wieder von Hungerkatastrophen heimgesucht, die vor allem die Nachfahren der Sklaven und die farbige Bevölkerung zur Auswanderung zwangen.

Die Eltern hatte Joaquím schon früh verloren. Die Mutter starb an den Folgen der schwierigen Geburt. Sein Vater, der Schiffsmechaniker war, kam durch einen Arbeitsunfall an Bord eines Schiffes zu Tode, als der Sohn gerade zwei Jahre alt war. Beide Eltern waren im Jahr 1925, zwei Jahre vor Joaquíms Geburt, als jungverheiratetes Paar aus Lissabon in der Hoffnung abgereist, in Mindelo ein besseres Leben aufbauen zu können, als es das Mutterland bieten konnte. In der damals etwa dreißigtausend Einwohner zählenden Hafenstadt lebte bereits ein entfernter Verwandter seines Vaters, der in der Zollverwaltung tätig war. Onkel Manuel war Buchhalter und als Junggeselle Anfang der zwanziger Jahre nach Mindelo gekommen. Ein Jahr nach seiner Ankunft hatte er Fátima kennengelernt und sie ein halbes Jahr später geheiratet. Fátima war die Tochter eines älteren Kollegen beim Zoll, der mit einer Schwarzen verheiratet war. Onkel Manuel und Tante Fátima hatten bereits zwei Kinder, als Joaquím in ihrer Familie aufgenommen wurde: den zwei Jahre älteren Fernando und die gleichaltrige Teresa.

Die Familie bewohnte ein zweistöckiges geräumiges Haus nicht weit vom Hafen Porto Grande und dem Zentrum der Stadt entfernt. Das Haus hatte einen Balkon zur Straße hin und hinter dem Haus einen Hof, der vor allem den Kindern als Spielplatz diente. In einer Ecke des Hofes stand ein großer Mangobaum, in dessen Schatten die Familie zu essen pflegte. Einmal im Jahr, für zwei Monate, waren die süßen Mangofrüchte für die Kinder das am meisten geschätzte Nahrungsmittel. Die Mangos waren nicht sehr groß und das orangenfarbige Fruchtfleisch faserig, aber sie hatten ein unverwechselbares Aroma und waren wie geschaffen zum Auslutschen. Um diesen Baum, den die Eltern durch jahrelanges Bewässern herangezogen hatten, wurden sie von den Nachbarkindern beneidet. Insgesamt war der Pflanzenbewuchs auf São Vicente äußerst spärlich. Nur wenige Familien besaßen einen Gemüse- und Obstgarten. Die Nahrungsmittelversorgung der Menschen in Mindelo wurde hauptsächlich durch die Landwirtschaft auf der Nachbarinsel Santo Antão sowie durch Importe aus dem Mutterland sichergestellt.

Als Angehöriger der kolonialen Verwaltung hatte Onkel Manuel ein gesichertes Einkommen, das ihm die Anstellung einer schwarzen Köchin und einer farbigen Haushaltshilfe, die sich auch um die Kinder kümmerte, erlaubte. In dieser Zusammensetzung entsprach die Familie dem Durchschnitt der typisch ‚portugiesisch-kapverdischen‘ Mittelschicht von Mindelo, in der weniger rassistisch als sozial geprägte Vorurteile gegenüber den rein schwarzen ‚afrikanisch-kapverdischen‘ Familien bestanden. Letztere wohnten in notdürftigen Behausungen am Rande der Stadt, ohne Licht und Wasseranschluss. Die Männer dieser Familien waren zumeist als Hafenarbeiter und ihre Frauen als Hausangestellte tätig.

Die drei ‚unzertrennlichen‘ Geschwister verlebten eine glückliche Kindheit. Ihre kleine Gruppe wurde vervollständigt durch Conceição, Fernandos gleichaltrige Freundin aus der Nachbarschaft. Wenn die Kinder nicht im Hof herumtollten, so spielten sie meist mit anderen Nachbarkindern auf der Straße vor dem Elternhaus oder vergnügten sich in der Umgebung des Porto Grande und dem zugehörigen Strand „Praia de Bote“. Joaquím war der einzige ‚Weiße‘ in der Gruppe, doch er konnte gar nicht verstehen, warum Fernando, Teresa und Conceição neidisch auf seine weiße Haut waren. Für ihn war die braungelbe Haut seiner Freunde viel schöner als seine eigene, und er ließ sich, so oft er konnte, in der Sonne bräunen, um sich so wenig wie möglich von seinen Geschwistern und Conceição zu unterscheiden.

Mit zehn Jahren war Joaquím zu einem hübschen und für sein Alter großen Jungen herangewachsen. Er hatte die hellblonden, welligen Haare und das feine Gesicht seiner Mutter geerbt, während er die sportliche Statur seinem Vater verdankte. In seiner Schulklasse auf der Grundschule gab es nahezu ausschließlich farbige Schüler. Der Unterricht fand in Portugiesisch statt. Jedoch war die Umgangssprache der Kinder und auch die der Unter- und Mittelschicht insgesamt das kapverdische Kreolisch. Die wenigen weißen Kinder, die der kleinen kolonialen Oberschicht angehörten, und die gemeinsam mit Joaquím die Schulbank drückten, waren des Kreolischen nicht mächtig. Sie, die mit ihren Eltern aus der Metropole eingewandert waren und später dorthin zurückkehren würden, mieden den Umgang mit Joaquím, der sich in der Gesellschaft mit den farbigen Schulkameraden viel wohler fühlte. Es kam vor, dass Joaquím von den Kindern der obersten Kolonialbeamten wegen seines Umgangs mit den farbigen Mitschülern gehänselt wurde: „Du bist ein „branco de segunda“ (Weißer zweiter Klasse). Wenn Du Dich nicht von Deinen kapverdischen Freunden und ihrer Sprache, der „lingua de preto“ (Sprache der Schwarzen) lossagst, dann wirst Du nie einer der Unsrigen sein. Schließlich gehören wir Weißen aus der Metropole zur Elite des portugiesischen Kolonialreiches.“

Joaquím waren Anfeindungen dieser Art einerlei. Er fühlte sich wohl in seiner Familie und in der Nachbarschaft. Er kannte keine Dünkel gegenüber Andersfarbigen. Es gab in seinem bisherigen Leben nur eine Sache, die ihn sehr betrübte. Das war die Trauer über seine toten Eltern. Onkel Manuel und Tante Fátima hatten ein paar Fotos von ihnen aufbewahrt, die Joaquím, wenn er sich allein in dem geteilten Zimmer mit Fernando wähnte, aus der Schublade seines Nachttischchens hervorholte, auf seinem Bett ausbreitete, und eines nach dem anderen an seinen Mund drückte. Dabei kamen ihm regelmäßig die Tränen, und in seiner kindlichen Fantasie malte er sich ein gemeinsames Leben mit seinen Eltern aus.

Einmal überraschte ihn Teresa in seinem Zimmer, als sie nach ihm suchte. Sie ahnte nicht, dass Joaquím immer noch so stark unter dem Verlust seiner Eltern litt. Sie, Fernando, Onkel Manuel und Tante Fátima gaben sich die größte Mühe, ihm ein Zuhause zu geben, in dem es ihm an nichts mangeln sollte. Im ersten Augenblick war Teresa zutiefst betroffen, als sie Joaquím weinend auf seinem Bett liegen sah, die Fotos um ihn herum ausgebreitet. Sie setzte sich zu ihm und versuchte ihn zu trösten: „Joaquím, fühlst Du Dich nicht wohl bei uns? Du bist für mich wie ein Bruder, und ich habe Dich genauso lieb wie Fernando. Du wirst immer zu unserer Familie gehören.“

Joaquím versuchte, rasch seine Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Er schämte sich, dass Teresa ihn in dieser Verfassung sah. Er wollte für sie, mit der ihn eine besondere Freundschaft verband, immer der Starke sein, der sie beschützte, wenn sie Ärger mit Kindern aus der Nachbarschaft oder der Schule hatte.

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Die nächste Folge folgt sogleich. CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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