Abschied und Neuanfang (5)

Abschied von Mindelo Hier kommt die 5. Folge von Mindelo aus dem Roman "Abschied von Bissau" mit lieben Grüssen aus Panamá an die dFC

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Foto: Wikimedia Commons, Café Lisboa hätte in den 30er und 40er Jahren des 20. Jh. in Mindelo auch die "Pastilaria Meyer" sein können

Am späten Vormittag des Aschermittwochs hatte sich Joaquím mit einigen Klassenkameraden in der „Pastelaria Meyer“, die in einer Gasse nahe dem Hafen lag, verabredet. Die Pastelaria wurde von dem deutschen Bäckerehepaar Meyer betrieben, das nach dem Ersten Weltkrieg von Togo nach Mindelo gekommen war. Neben Kaffee und Kuchen, die man in einem kleinen Salon einnehmen konnte, gab es dort das beste Brot und die leckersten Brötchen der Stadt zu kaufen. „Meyer“, wie auch das nahegelegene „Casa Café“, direkt an der Uferstraße, waren beliebte Treffpunkte für die Schüler der Oberklassen aber auch für alle diejenigen Bürger Mindelos und anwesenden Ausländer, die in irgendeiner Weise in Spionagetätigkeit verwickelt waren.

Die Gruppe der sechs Schüler, vier Jungen und zwei Mädchen, die sich zum späten Frühstück nach den anstrengenden Karnevalstagen bei „Meyer“ einfanden, bestand ausschließlich aus weißen Portugiesen. Mit Ausnahme von Joaquím waren sie alle Kinder eingewanderter Familien der kolonialen Oberschicht. Paulo war so etwas wie der Wortführer der Gruppe. Er war der Sohn des örtlichen PVDE-Chefs und war aktiv in der „Mocidade“ tätig. Nicht ohne Stolz hatte er Joaquím einmal vertraulich gestanden, dass sein Vater das Privileg hatte, in Berlin von der GESTAPO ausgebildet worden zu sein. Auch er hoffte, später einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten zu können und seine Spionage-Ausbildung auf einer deutschen Akademie absolvieren zu dürfen. Paulo prahlte gegenüber seinen Schulkameraden, dass er genauestens über die unterschiedlichen Spionageaktivitäten und die Schiffsbewegungen in Mindelo Bescheid wüsste. So berichtete er von einem heimlichen Informationsaustausch zwischen Meyer und einer deutschen Familie in Guinea Bissau, die auf der Bijagos-Insel Bubaque eine Palmölfabrik besaß. Meyer unterhielt überdies regelmäßig Kontakte mit den Besatzungen der deutschen Unterseeboote, die vor Mindelo auf Anker lagen. Wenn immer es die Umstände erlaubten, ließen es sich die deutschen Marineoffiziere nicht nehmen, bei Meyer einzukehren und sich seine Backspezialitäten, besonders die Schweinsohren und die Nugattörtchen, schmecken zu lassen. Die Pastelaria Meyer war allgemein bevorzugtes Café für die Parteigänger der Achsenmächte Deutschland und Italien, doch auch der britische Konsul sowie amerikanische und englische Bewohner kauften deutschen Kuchen bei Meyer ein.

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Foto: Wikimedia Commons, Historischer Stadtkern von Mindelo

Von den Geschwistern hatte Paulo nur Joaquím eingeladen, da er Weißer war. Mit seinen farbigen Geschwistern wollte er dagegen nichts zu tun haben. Paulos Vater hatte seinem Sohn immer wieder eingeschärft, dass nur reinrassige Arier als koloniale Elite berufen seien, das portugiesische Imperium zu führen. Eine Vermischung zwischen den Rassen hätte unweigerlich eine Entartung der weißen Rasse zur Folge. Das Treffen bei „Meyer“ diente offensichtlich dem Bestreben, Joaquíms Kontakte mit den Schülern der kolonialen Oberschicht zu intensivieren.

Joaquím zögerte anfangs, der Einladung bei „Meyer“ Folge zu leisten. Insgeheim hegte er eine Aversion gegenüber dem arroganten Paulo und seinem unbedingten Eintreten für den elitären Charakter des „Estado Novo“. Darüber hinaus waren seine Familie wie auch die meisten Bewohner von Mindelo eingeschüchtert von den repressiven Methoden der verschiedenen Organe der Kolonialverwaltung. Aber Onkel Manuel hatte ihn umgestimmt und geraten, sich mit Paulo gutzustellen, um keine unnötigen Gerüchte über die Familie aufkommen zu lassen. Der Onkel wollte alles vermeiden, dass die Familie in die Nähe von möglichen Staatsfeinden gerückt würde.

Schon nach kurzer Zeit wurde sich Joaquím über den eigentlichen Zweck seiner Einladung mit den anderen weißen Schulkameraden, mit denen er ansonsten nur dürftigen Kontakt pflegte, bewusst. Er war der Einzige in der Gruppe, der kreolisch sprach und seinen Freundeskreis in der kapverdischen farbigen Mittelschicht hatte. Auch musste es Paulo nicht entgangen sein, dass sich Joaquím an Feiertagen ungeniert mit Zeca und dessen schwarzen Freunden traf. Paulo wollte Joaquím für die „Mocidade“ begeistern und ihn als Informanten für Auskünfte über die farbigen und schwarzen Jugendlichen gewinnen. Paulo beschrieb in rosigen Farben, welche Aufstiegsmöglichkeiten Joaquím innerhalb der portugiesischen Elite haben könnte, wenn er sich der Mocidade anschlösse. Denn diese hatte sich zur Aufgabe gemacht, getreu dem Motto des Kolonialreiches ‚Gott, Vaterland, Familie‘ und der Aufrechterhaltung der ‚weißen‘ portugiesischen Moral und der guten Sitten zu handeln. Sicher könnte sich die Einheitspartei „União Nacional“ später einmal dafür einsetzen, dass er im portugiesischen Mutterland studieren könnte, und dass er Zugang zur Kolonialelite bekommen würde.

Joaquím fühlte sich angewidert von Paulos Wichtigtuerei und dem unverhüllten Rassismus, der immer wieder aus dessen Worten und den Einwendungen der anderen Schulkameraden herausklang. Doch ließ er sich seine Abneigung nicht anmerken. Er meinte nur, er müsse sich alles gut überlegen und zeigte sich bereit, jederzeit Propagandaschriften der Mocidade und der União Nacional zu studieren. Mit einem Mal fühlte er sich müde. Er hatte ja nur ein paar Stunden geschlafen. Doch es war nicht nur seine körperliche Müdigkeit, die ihm zu schaffen machte. Die nächtliche Begegnung mit Zeca und seine Empfindungen gegenüber Teresa lasteten ebenfalls auf ihm. Er wollte so rasch wie möglich nach Hause und sich in seinem Zimmer einschließen. Oder war es nicht vielleicht besser, sich erst einmal Teresa anzuvertrauen?

Zuhause schienen alle noch von den Karnevalstagen gezeichnet zu sein. Gottseidank war Fernando bei Conceição, sodass Joaquím das Zimmer für sich allein hatte. Bevor er sich für eine Siesta auf sein Bett schmiss, machte er Teresa den Vorschlag, am Abend gemeinsam das „Cinema Éden“ zu besuchen. Dort spielte gerade der Hollywoodfilm ‚Früchte des Zorns‘ von John Ford. Teresa war einverstanden. Diesen Film dürften sich beide nicht entgehen lassen.

Tief beeindruckt vom Film verließen Teresa und Joaquím das Kino. Beide hatten das Bedürfnis nach Aussprache. Sie schlugen den Weg zur „Praia da Matiota“ ein. Sobald sie den Lichtern der Stadt entkamen, fassten sie sich bei der Hand. Das war für sie seit geraumer Zeit zu einer Geste des gegenseitigen Vertrauens geworden. Aber es war wohl auch das Zeichen einer ersten zarten Jugendliebe. Warum sonst fühlten sich Teresa und Joaquím mit aller Macht zueinander hingezogen, vor allem, wenn sie sich allein wähnten?

Bald hatten beide einen einsamen Platz am Strand gefunden. Wie in der Nacht zuvor beschien der Mond die umliegenden Berge, den „Monte Cara“ und die Bucht des Porto Grande, wo weit draußen ein U-Boot der deutschen Kriegsmarine ankern musste, wie Paulo noch am Vormittag erwähnt hatte. Der Ausblick vor ihnen bestand aus abgestuften Blautönen, in die sich der Mond am Horizont und seine Reflexe auf dem Wasser silbern einzeichneten. Der Wind, der beiden vom Meer ins Gesicht brauste, ließ sie eng zusammenrücken. Sie erfühlten den feinen Sand mit ihren nackten Füssen und malten Figuren in ihn hinein. Dabei kamen sich ihre Füße immer näher, bis sich schließlich ihre Zehen berührten und miteinander zu spielen begannen. Die beiden Geschwister hatten sich schon auf vielerlei Weise erspürt und kindliche Küsse ausgetauscht. Aber heute Nacht gab es keinen Halt mehr für sie, nicht nur die Lippen, sondern auch den Mund des Anderen zu suchen und sich dem gegenseitigen Verlangen hinzugeben. Dabei war ihnen, als würde das Meeresrauschen abermals die Morna „Hora di Bai, hora di dor“ herbeitragen und sie mit bittersüßer Sehnsucht erfüllen.

Zuerst waren die Geschwister überrascht von ihrem bisher intimsten Austausch von Zuneigung. Lange schwiegen sie und ließen die Empfindungen in sich nachwirken. Vor ihnen tat sich eine neue, unbekannte Landschaft auf, die sie gemeinsam erkunden wollten. Gleichzeitig wuchs der Wunsch nach noch größerer Nähe und gegenseitigem Versichertsein, als könne ihr langsames Zusammenwachsen sie vor feindlicher Umwelt schützen.

„Teresa, am liebsten würde ich mit Dir allein ganz weit aufs Meer hinausfahren, bis wir eine Insel erreichen, auf der der Tisch jederzeit mit ausreichenden Speisen gedeckt ist, und wo wir keiner Missgunst und Heimtücke von anderen ausgesetzt sind. Hast Du gesehen, wie Tom und seine Mutter im Film ‚Früchte des Zorns‘ ums Überleben kämpfen müssen? Glaubst Du, dass unsere Familie auch in eine ähnliche Situation hineinkommen könnte und wir alle auswandern müssen, ohne eine Zukunft zu haben? Was wird dann aus uns beiden?“

Anfang der vierziger Jahre hatte eine erbarmungslose Dürre auf den Kapverdischen Inseln die Ernten vollständig zerstört. Die Nahrungsmittelimporte aus dem portugiesischen Mutterland deckten kaum die Bedürfnisse des Expeditionskorps geschweige denn der übrigen Bevölkerung. Besonders die schwarzen Kapverdier, aber auch viele Angehörige der Mittelschicht, waren gezwungen auszuwandern. Die Emigranten machten sich vor allem auf den Weg zu den Kakaoplantagen auf den portugiesisch verwalteten Inseln São Tomé und Principe sowie zu den übrigen portugiesischen Kolonien auf dem afrikanischen Festland.

Doch mehr noch als die materielle Not bedrückte Joaquím und Teresa die politische Situation auf São Vicente, die direkt in ihr persönliches Leben eingriff. Die Geschwister stellten mit Erschrecken fest, dass ihre Beziehung, sowie die Beziehungen innerhalb der Familie und mit ihren Freunden unmittelbar bedroht und infrage gestellt wurden. São Vicente und Santo Antão waren ihre Heimat, ihr Zuhause, und hier hatten sie mit zunehmendem Alter ihre kapverdische Identität erworben, für die die Frage der Hautfarbe unwichtig war. Jetzt aber begannen sie zu begreifen, dass das Erwachsenwerden Entscheidungen von ihnen verlangen würde, die ihre gewachsene Geborgenheit aufbrechen könnte. Auch schien ihnen die Auseinandersetzung der Krieg führenden Parteien, von der sie nur indirekt betroffen waren, gegen ihre ureigensten Interessen gerichtet. Vor allem lehnten sie die faschistischen Mächte Deutschland und Italien ab, die die Herrschaftsstrukturen des portugiesischen Kolonialsystems ideologisch beeinflussten. Sie versprachen, sich gegenseitig noch stärker zu unterstützen und den Austausch mit Fernando, Conceição, den Eltern und den engsten Freunden zu intensivieren.

Der Karneval 1947 war der letzte, den Teresa und Joaquím gemeinsam erlebten. Vor zwei Jahren hatten sie ihre Oberschule erfolgreich abgeschlossen. Joaquím hatte danach in einer Bank in Mindelo eine Anstellung gefunden. Teresa kam in der Western Telegraph unter. Fernando und Conceição, die in der Kolonialverwaltung arbeiteten, trugen sich mit dem Gedanken, zu heiraten. Aber daran war wegen der erneuten Hungersnot, die seit Kriegsende über den Inseln hereingebrochen war, erst einmal nicht zu denken. Die Geschwister hätten gern ein Studium in der Metropole begonnen. Jedoch war dazu Onkel Manuels Einkommen beim Zoll zu bescheiden. Onkel Rui hatte seine Farm auf Santo Antão wegen Wassermangels aufgeben müssen und war 1946 mit seiner Familie nach São Tomé ausgewandert. Zeca stand unter ständiger Beobachtung vonseiten der PIDE, der Nachfolgerorganisation der PVDE. Sein väterlicher Freund und Förderer Francisco war kurz nach Kriegsende an den Folgen der grausamen Folter im Konzentrationslager Tarrafal verstorben. Um sein Leben nicht unnütz aufs Spiel zu setzen, hatte Zeca den Ratschlag von Joaquím und dessen Geschwistern befolgt und sich von der aktiven Unterstützung der Kommunistischen Partei zurückgezogen. Er war inzwischen ein versierter Mechaniker geworden und spielte mit dem Gedanken, Arbeit auf einer Werft in Lissabon zu suchen. Paulo begann 1945 ein Hochschulstudium in Lissabon. Sein Vater wurde in demselben Jahr nach Luanda in Angola versetzt, wo er den dortigen Chefposten der PIDE antrat.

Das Kriegsende hatte den Abzug des Expeditionskorps zur Folge gehabt. Die Bevölkerung von Mindelo verabschiedete die Soldaten mit einem lachenden aber auch mit einem weinenden Auge. Einerseits hatte die Repression in Mindelo nach dem Krieg spürbar nachgelassen, andererseits hatte die Stationierung des Expeditionskorps zur Belebung des Handels beigetragen und die Nahrungs- und Arzneimittelversorgung einigermaßen aufrechterhalten sowie die Gesundheitsversorgung durch die Anwesenheit des militärischen Sanitätspersonals gesichert. Nun aber schien es, als hätte das Mutterland seine Überseeprovinz Kapverde völlig im Stich gelassen, denn diese trug in keiner Weise mehr zum Reichtum des Kolonialimperiums bei. Die Bedeutung, die Mindelo und der Porto Grande für den Transatlantik-Verkehr hatten, wurde durch Häfen auf den Azoren und den Kanarischen Inseln sowie Dakar auf dem afrikanischen Festland ersetzt. Die Überlebensbedingungen auf São Vicente und den anderen Inseln waren derart zugespitzt, dass die Familien nur ein Gesprächsthema kannten: Auswanderung. Aber wohin? Onkel Manuel und Tante Fátima hatten sich schließlich für Boston in den Vereinigten Staaten entschieden. Dort lebten kapverdische Freunde, die schon zu Beginn der Vierziger Jahre ausgewandert waren, und die ihnen bei einem neuen Start behilflich sein könnten. Außerdem könnten sie so dem verhassten portugiesischen „Estado Novo“ entfliehen. Fernando und Teresa liebäugelten ebenfalls mit Boston. Einzig Joaquím war noch unschlüssig über das Land seiner Zukunft. Immer wieder suchte er besonders das Gespräch mit Teresa, um sich über seine Auswanderung Klarheit zu verschaffen. Dass er auf São Vicente oder Santo Antão verbliebe, war wegen der herrschenden Hungerkatastrophe ein für alle Mal ausgeschlossen.

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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