Am Tag nach der Wahl

Costa Esmeralda Impressionen am Pazifik-Strand von Costa Esmeralda, Punta Barco und Coronada in Panamá

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3f/El_morro.JPG

Foto: Wikimedia Commons, Insel Taboga, Panamá, von Costa Esmeralda aus gut zu erkennen. Am Horizont Schiffe, die auf die Einfahrt in den Panamá-Kanal warten.

Der Tag nach der Wahl

Impressionen beim Strandlauf von Costa Esmeralda nach Punta Barco, Coronado und zurück

Heute begann mein Strandlauf gegen 12 Uhr mittags. Normalerweise laufe ich entweder am frühen Morgen oder vor Sonnenuntergang. Aber die Ebbe diktierte mir die Mittagszeit, ich wollte ja die Klippe von „Punta Barco“ (so genannt nach dem wie ein Schiffsbug ausgewaschenen Felsen) nach „Coronado“ umlaufen, und das geht nur bei Ebbe.

Der Himmel war einigermaßen bewölkt, sodass ich keinen Sonnenbrand fürchten musste. Der Ozean gab sich heute wegen der Himmelsreflexion nicht esmeraldafarben, mehr blaugrau. Einmal auf dem 200 Meter breiten, festsandigen Wattenstreifen angelangt, konnte ich die Taboga-Insel, etwa 20 Kilometer vor der Einfahrt in den Panamakanal gut erkennen.

Ich liebe es da zu laufen, wo die letzten Wellenausläufer den Sand benetzen. Das ist auch bevorzugtes Jagdgebiet der Strandläufer und ihrer kükengroßen Brut. Sie lassen mich nie näher als fünf Meter an ihnen vorbeilaufen. Mit ihren langen, spitzen Schnäbeln picken sie die winzigen Sandkrebse heraus, deren Versteck sich beim Zurückziehen des Wassers durch kleine Luftbläschen verrät. Die Vogeleltern begleiten ihre Kleinen etwa ein bis zwei Monate, bis diese sich selbstständig machen.

Auf dem Weg nach „Punta Barco“, das durch den kleinen Fluss „Teta“ von Costa Esmeralda getrennt ist, sah ich die Silhouette eines Pelikans direkt am Wasser. Er schien sich nicht zu bewegen, sondern nur auf das offene Meer hinauszublicken. Ich verfiel in Schritttempo. Wollte den Pelikan nicht erschrecken. Beim langsamen Näherkommen flog er nicht auf und ließ mich ganz nah an sich heran.

Es war ein alter Pelikan, der sich auf sein Sterben vorbereitete. Schon ein paar Mal hatte ich ähnliche Szenen erlebt. Der Pelikan war etwa so groß wie ein Schwan und grau gefiedert. Sein langer Schnabel reichte bis auf den Sand. Langsam tappte er im seichten Wasser vorwärts, als ich zwei Meter vor ihm stand. Selbst hopste er noch über den ersten Wellenschaum und blickte mich vorwurfsvoll von der Seite an. An ein Auffliegen war nicht mehr zu denken, und zum Schwimmen hatte er kaum noch Kraft.

Ich begann, mit ihm zu sprechen. Er hatte ja seine Freunde nicht mehr um sich. Die waren jetzt weit weg, bei ihren täglich wechselnden Fischgründen. Vielleicht suchte er mit seinen Augen den Horizont nach ihnen ab und ging in Gedanken sein vergangenes Leben durch: Von der Geburt als kleines Küken, bis zum Jugendalter, Erwachsenenreife und der Zeugung von Nachkommen. Jetzt war die Zeit des Sterbens gekommen. Nur die Strandläufer waren in einiger Entfernung um ihn herum. Sicher wartete er auf die kommende Flut, die ihn mit aller Kraft auf den Strand schleudern würde, wo er dann die Besinnung verlöre und die schwarzen Geier mit ihren kurzen Hälsen und harten Schnäbeln auf ihn zu warten nicht müde würden.

Ich fragte mich, ob die Pelikane wie die Shuar-Indianer und früheren Schrumpfkopfindianer im Amazonas-Grenzgebiet zwischen Ecuador und Peru die Vorstellung entwickelt haben könnten, dass es nur leiblichen Tod gibt, aber keinen seelischen. „Arutam“, der ewige Geist der Vorfahren nimmt die Seele des Toten mit und vereinigt sie beim Initiations-Ritus mit der Seele des jungen Mannes zu einer Lebenskraft, die nie gebrochen werden kann.

Der alte Pelikan hörte mir zu mit halb geöffneten Augen. Ich versprach, auf dem Nachhauseweg noch einmal bei ihm vorbeizukommen. Als ich mich langsam entfernte, wendete er sein müdes Haupt und den schwerer werdenden Schnabel in Richtung offenes Meer.

Mit diesen Gedanken um Leben und Tod durchwatete ich die Einmündung des Tetaflusses und bog kurz darauf um den Bug von „Punta Barco“. Von hier an legt die Ebbe unzählige kleine und große Steinbrocken frei, in denen die Familien der Hausangestellten der Ufervillen nach Muscheln suchen. Mit einem Hammer und einem Leinensack bewaffnet sind je nach Abkömmlichkeit Männer, Frauen und Kinder sowie ihre Hunde auf der Muschelsuche. Heute, am Montagmittag waren nur wenige Menschen auf Muschelsuche. Nur ab und zu grüßte ich vom höher gelegenen Sandstrand zu ihnen hinunter. Normalerweise schaue ich beim Laufen mehr auf die Uferböschung, auf der die unterschiedlichsten prächtigen Villen der Reichen zumeist durch Anhäufung von Granitblöcken geschützt werden.

Nach „Punta Barco“ folgt der lange Strand von „Coronado“, dem exklusivsten Resort weit und breit, mit Golfplatz, Reitklub, Hochhäusern, Einkaufzentren und zahlreichen begüterten Immigranten sowie Angehörigen der Nationalen Oligarchie. Unter letzterer fallen viele Abstämmige aus dem Nahen Osten auf (Libanesen, Palästinenser, Juden), die noch vor dem Ende des Ottomanischen Reiches in Panama eine neue Heimat und Reichtum fanden.

Als ich nach etwa 6 Kilometern den Weg zurück antrat, gesellten sich zu mir zwei etwa zwölfjährige Burschen. Der eine war ein Farbiger, der andere Weißer. Sie mussten in der ersten Klasse der „secundaria“ (Oberstufe, 7. Klasse) sein. Sie wollten ihr Englisch bei mir ausprobieren und stuften mich sogleich als „gringo“ (US-Amerikaner) ein. Als ich mich mit ihnen auf Spanisch unterhielt und meinte, ich sei ein „gringo alemán“, verfielen sie erleichtert ebenfalls ins Spanische, und es ergab sich eine muntere Unterhaltung beim Laufen.

Plötzlich fragte mich der Eine, ob ich das Tagebuch der Anne Frank kennte. Ich war verblüfft. Alles hätte ich erwartet: Deutscher Fußball, Formel 1-Fahrer Vettel oder weiß der Teufel was. Aber Anne Frank und danach Hitler (ok, der ist ja als Weltbösewicht wohl die bekannteste deutsche Persönlichkeit in der „Dritten Welt“), darauf war ich nun gar nicht gefasst. So kam unser Gespräch auf die deutschen Konzentrationslager und die Vernichtungsmaschinerie des Faschismus. Die Wörter „malo“ (böse, schlecht) und „maldito“ (Verdammter) wiederholten sich auf den nächsten 1000 Metern einige Male, und sie fragten nach dem heutigen Leben in Deutschland. Ja, musste denn das sein, dass mich diese beiden aufgeweckten Jungen auch noch dazu brachten, über die gestrige Wahl zu sprechen, die ja alles andere als ein Zeichen von blühender Demokratie und Volkssouveränität war? Hätte ich bekennen sollen, dass meine Landsleute heute noch mehrheitlich Untertanenverhalten an den Tag legten und unhinterfragt Mutti ihr Schicksal anvertrauten? Das wäre nun doch zu viel der lebhaften Unterhaltung. So war ich froh, dass die beiden Burschen mir noch einen guten Nachmittag wünschten und zurück zum Schwimmen ins Meer aufbrachen.

Einige 500 Meter weiter dann drei Männer, offensichtlich Arbeiter, die ihre Mittagspause zum Fischen ausgenutzt hatten. Auf meine Frage nach einem guten Fang, kam nur ein verlegenes Lächeln. Kein Fisch hatte sich erbarmt, anzubeißen. Dann kam die Überlegung auf, wie viel Geld wohl Präsident Martinelli heute von 8 Uhr bis 13 Uhr verdient haben könnte. Ich meinte, wenn er einen Bauvertrag für die neue U-Bahn in Panama-City unterschrieben hätte, von 100 Millionen US$, dann hätte er mit seiner Unterschrift glatte 10 Millionen kassiert. Und das in 10 Sekunden. „Mein Gott! Das müsste Unsereinem auch einmal passieren. Aber wenn er in einigen Monaten sein Amt abgibt, wird er wohl der reichste Mann von ganz Zentralamerika sein.“ Da konnte ich nur zustimmen. Ob denn in Deutschland der Regierungschef auch so erfolgreich Knete machen würde?

Autsch, diese Frage tat mir weh! Diesen etwa 40jährigen Männern das bundesdeutsche Korruptionsmodell in der Bundestags-Parteien-Diktatur zu erklären, das würde mehr als nur einige Minuten bedürfen. Ich hatte schließlich mein Mittagessen noch vor mir. Ich stahl mich rasch davon mit den Worten, dass auch in Deutschland eine „Heilige Allianz“ zwischen Reichen und Politikern bestünde, die Korruption aber nicht „Cash“ über oder unter dem Tisch bedeutet, sondern in Form eines fetten Monatsgehaltes von etwa 50 bis 100 Mal von dem, was ein Arbeiter in Panama erhält, daherkommt. „Nada mal!“ (Nicht schlecht!) war das Letzte, was sie mir zum Abschied zuriefen.

Als ich wieder auf dem Strand von Costa Esmeralda ankam, war mein Pelikan, wie von mir vorausgesehen, immer noch traurig am Strand, in Begleitung von zwei Strandläuferpaaren mit ihren Kleinen. Und immer noch ging sein Blick gen Horizont, dort wo sich Meer und Himmel treffen.

Dieses Mal sprach ich nur einige Abschiedsworte zum Pelikan. Ich hätte bei längerem Verweilen sonst noch begonnen darüber nachzudenken, wie es mir in einer solchen schweren Abschiedsstunde von der Welt ergehen würde. Oder gäbe es gar keinen Seelen-Abschied?

Liebe Grüße aus Panamá, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden