Auf der Flucht (2)

Klagelied Droht Humanismus im 21ten Jahrhundert der Todesstoß? (Sprechgesang in fünf Versen mit Refrain; Bass und Trommel begleiten) Verse 4 und 5

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Eingebetteter MedieninhaltFoto: Wikimedia Commons, Auf der Flucht 1945, deutsche Flüchtlinge aus den Ostgebieten fliehen gen Westen (Bundesarchiv)

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Vierter Vers

(Flucht übers Meer)

Wo ist der Bruder, die Schwester, die helfende Hand?

Hat Gott gewollt, dass wir irren im fremden Land?

Sind wir Abfall, wohlfeiler Fraß fürs nimmersatte Tier,

das sich berauscht an unsrem Fleisch in ungestillter Gier?

Wer kann das wollen, Schicksal, Zufall oder Gott,

dass unsre Wanderung endet auf dem Schafott?

Brüder, Schwestern, wo seid Ihr denn hin?

Mit Eurer Hilfe hätte Zukunft doch wieder Sinn.

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Schergen des Todes lauern am Meeresstrand,

erzählen vom Paradies in deutschem Land.

Kassieren das letzte Gut, die letzte Hab.

Es bleibt nichts, nicht mal fürs Grab.

Flucht übers Meer beginnt mit verzweifeltem Fragen:

Wird brüchiges Boot die Menschenlast tragen,

eingepfercht wie Vieh auf wackligem Wagen?

„Mann, lass Frau und Kind an Land,

oder bleib Du in Schleppers Hand!

Irgendwann trefft Ihr Euch wieder im goldenen Abendland.“

Überlasteter Kahn quält sich auf offene See.

Noch ist die Küste schwach zu seh‘n.

Sie ist der Strohhalm, der langsam der Hand entgleitet.

Dann gibt’s keinen Halt mehr,

nur noch Meer, uferloses Meer.

Atemlose Stille tritt ein, dann Rauschen.

Wieder Stille, dann Jammern, Wimmern, dann Rauschen.

Abermals Stille, dann Weinen, dann tröstende Lieder.

Angst bohrt sich in Sinne, Herzen und Glieder.

Plötzlich reitet Sturm auf speienden Drachen heran.

„Schnell, legt Frauen und Kindern Schwimmwesten an!“

Totenschädel tanzen grinsend über den Fluten,

rufen die Lebenden, die Bösen wie die Guten.

Rastlose Geister-Meute

ist gierig auf Vertriebenen-Beute.

Wird das untüchtige Boot

hineingezogen in den Meeres-Sog?

Wieder setzt Stille ein.

Jeder ist mit sich allein.

Es ist die Stille vor dem Tod,

die Stille im Lärm äußerster Not.

Ein letztes Mal fragt sich Jeder:

„War es richtig, die Flucht zu wagen?

Ja, ich habe keine andere Wahl.

Will leben,

wie ein Mensch leben,

würdig, sicher in neuer Heimat leben.

Immer wieder werd‘ ich Flucht begehen.

In alter Heimat wartet der Tod,

manchmal der schnelle, manchmal der langsame Tod.

Flucht vor Tod ist mein Recht,

mein unveräußerliches Recht,

das niemand mir streitig machen kann

im gelobten Abendland.“

Es geschieht, was vorhersehbar war:

Eine riesige Welle schleudert das Boot empor,

dann saust es hinab an Orkus‘ weitoffenes Tor.

Schrille Panikschreie, tosendes Meer,

ertrinkende Leiber geben Götter selten her.

Ist jetzt das Ende der Flucht gekommen?

Hat der Himmel alle Hoffnung genommen?

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Fünfter Vers

(Ankunft im gelobten Land)

Wo ist der Bruder, die Schwester, die helfende Hand?

Hat Gott gewollt, dass wir irren im fremden Land?

Sind wir Abfall, wohlfeiler Fraß fürs nimmersatte Tier,

das sich berauscht an unsrem Fleisch in ungestillter Gier?

Wer kann das wollen, Schicksal, Zufall oder Gott,

dass unsre Wanderung endet auf dem Schafott?

Brüder, Schwestern, wo seid Ihr denn hin?

Mit Eurer Hilfe hätte Zukunft doch wieder Sinn.

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Millionen gelingt die Flucht bei Tage und in tiefer Nacht.

Abermillionen werden folgen, trotz Meereswall und NATO-Macht.

Vertriebene fürchten keine Macht.

Sie haben nichts zu verlieren.

Es geht um Leben, es geht um Lieben,

es geht um den Sieg über den Tod,

der sich laben will an ungezählter Not.

Zehntausende hat der Sensenmann schon dahingerafft.

Herrschende aus dem Norden haben mitleidslos gegafft.

Ihre Antwort auf unser Leid

ist Militär und Polizei.

Sie wollen nicht anerkennen, dass Not, Tod und Flucht,

die Folge ist von abendländischer Großmannssucht.

Wie seh’n uns Menschen in der reichen Hälfte der Welt,

uns Zugereiste mit schmutzigen Kleidern, ohne ‘nen Pfennig Geld?

Wir gehören nicht zum Einen Menschen.

Sind wir für sie überhaupt Menschen?.

Wir sind Fremde, wir sind nicht ihresgleichen.

Es gilt uns möglichst auszuweichen.

Bei den Einen wecken wir Neugier und Mitleid.

Sie wollen uns helfen und suchen uns zu versteh’n.

Bei den Anderen wecken wir Angst, pure Feindseligkeit.

Sie wollen uns zum Teufel jagen und sich an uns vergeh’n.

Bei den Mächtigen weckt ein Teil von uns Begierde auf billige Produktion,

und gehorchen wir willig, gewähren sie uns Bleibe und Integration.

Sogenannte Sozialschmarotzer sind unser anderer Teil.

Er wird abgeschoben wegen fehlender Bleibewahrscheinlichkeit.

Und wie sehen wir selbst das gelobte Land, wo angeblich Milch und Honig fließen?

Der erste Schritt auf gesegneter Erde nach schrecklicher Odyssee,

war erlösende Freude über das Überleben auf unbarmherziger See.

Helfer von allen Seiten geh’n uns zur Hand.

Reporter, Interviews, jetzt sind wir wichtig im neuen Land.

Wir sind Hauptdarsteller fürs Theater der Reichen.

Staatsmänner und -frauen benutzen uns für politische Weichen.

Wir wollen nur leben, trinken und essen,

wollen nur Schlaf und baldiges Vergessen.

Doch apokalyptische Träume von Leben und Tod foltern uns weiter.

Sie werden ab jetzt unsre ständigen Begleiter.

Auch überfallen uns Tagträume von abendländischen Fressgelagen.

In ihnen kristallisieren sich Ausbeutung aus kolonialen und neokolonialen Tagen.

Sie lassen erahnen, wie einst Sklaven-Peitschen auf unsre Ahnen niederknallten,

und wie sich globale Ausbeuter unsre Naturschätze krallten.

Die Plünderung der Heimat begegnet uns auf Schritt und Tritt

in den Götzentempeln der satten Mittel- und Oberschicht.

Was wird aus uns im gelobten Land?

Wird der kapitalistische Moloch auch unsre Seelen verschlingen?

Wird es ihm gelingen,

uns zu assimilierten Untertanen heranzubilden,

die nichts andres kennen als Maloche, Glotze und Bier?

Werden wir zu Verrätern an der alten Heimat im neuen Revier?

Wir könnten auch zu Rächern werden, die keine Menschlichkeit mehr in sich tragen.

Hat Flucht die Hoffnung auf humanistische Zukunft endgültig zerschlagen?

Ende

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PS: Vielleicht trägt die Trump-Wahl ja für eine Annäherung an Russland bei, was dem Weltfrieden und auch den Flüchtlingen dieser Welt zugute käme, eine Politik, zu der sich D und EU seit WK II-Ende nie aufraffen konnten. Verdammt noch mal! (verzeiht meinen Zorn)

LG zum Sonntag, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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