Auf der Suche nach dem wahren Peru

Conchucos (Prolog) "En la búsqueda del Perú profundo", Geschichte aus dem heutigen Peru in Folgen

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Foto: Landkarte: Departement Ancash mit ‘Callejón de Huaylas’ (Conococha bis Huaylas) und ‘Callejón de Conchucos’ (Chavin bis Pomabamba), Autor: Traficoperu.com

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Conchucos (Prolog)

“Ich will wissen, was Peru bewegt!“

„ Da könntest Du ebenso gut sagen: Ich will wissen, was die Welt bewegt,“ antwortete Rubén lachend auf die Aussage von Walther, seinem Freund auf dem Gymnasium in Chorillos, wo beide unterrichteten.

„Rubén, sicher hast Du recht. Schließlich werden alle Zivilgesellschaften dieser Welt von ihren nationalen Eliten oder autoritären Regimen und dem globalen Kapitalismus verschaukelt. Trotzdem will ich in diesen Schulferien im Januar und Februar in den ‚Callejón de Conchucos‘ (Conchucos-Tal) reisen, um zu sehen, ob ich dort das wahre Peru entdecke. Wie Du weißt, stammen meine Eltern von dort und sind nach der Landreform 1969 nach Chorrillos in den Süden Limas gekommen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich seit meinem 20ten Lebensjahr bis heute nie wieder auf den Weg dorthin begeben habe. Im Jahr 2000, als der ‚chino‘ (Präsident Fujimori 1990 bis 2000) aus dem Amt gejagt wurde, besuchte ich das letzte Mal den Callejón de Conchucos. Du wirst Dich sicher erinnern, dass in jenem Jahr auch ‚Antamina‘, eine der größten Kupferminen der Welt in der ‚Puna‘ (Hochanden zwischen 4000 und 5000 m Höhe) von Huari, erbaut wurde. Ich bin gespannt, was sich seit damals getan hat.“

„Na, da bin ich neugierig, was Du mir erzählst, wenn Du nach Lima zurückkommst. Walther, ich hoffe, Du machst Dir nicht selbst etwas vor, wenn Du glaubst, aus der Provinz könnte irgendwann einmal eine Erneuerung Perus kommen. Das hatte der ‚Sendero Luminoso‘ (‚Scheinender Pfad‘, maoistische Guerilla in den 80er und 90er Jahren des letzten Jh., Reste kämpfen bis heute im Amazonasgebiet, der ‚selva central‘ von Peru) auch vor, und mehr als 70.000 Tote und unendliches Leid im ganzen Land waren die Konsequenz. Was meine Ferien anbetreffen, so bin ich da bescheidener. Ich werde mit meiner Familie zwei Wochen nach Ancón ans Meer fahren. Zu mehr reicht das Geld nicht. Aber Du bist ja Junggeselle und kannst Dir die Tour ins Departement Ancash zum Callejón de Conchucos leisten. Gib aber Acht, dass Du Dich unterwegs nicht verliebst und unserer Schule anschließend Ade sagst.“

Rubén konnte es sich nicht verkneifen, seinen Freund wieder einmal auf sein Junggesellendasein anzusprechen. Aber ab und zu war er auch neidisch auf Walther, da dieser trotz des schmalen Lehrergehaltes viel mehr Möglichkeiten zum Reisen hatte als er selbst. Als beide noch studierten, hatten sie sich oft geschworen, erst spät zu heiraten und eine Familie zu gründen. Das Lehrergehalt reichte vor allem in Lima nicht, um einer Familie mit mehreren Kindern einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.

„Mit dem Verlieben ist das so eine Sache, Rubén. Allerdings habe ich in letzter Zeit auch öfter darüber nachgedacht, ob ich mich mit meinen 33 Jahren nicht langsam nach einer festen Beziehung umsehen sollte. Es muss ja nicht gleich eine Heirat sein. Kinder könnten sowieso noch warten. Heute ist es verdammt teuer, Kindern eine gute Ausbildung und ein Studium zu ermöglichen. Das siehst Du ja an Deiner eigenen Familie. Und wie viele Schüler oder Schülerinnen geben vor dem Abitur oder spätestens bei der Vorbereitung aufs Studium auf, weil das Geld hinten und vorn nicht reicht. Die ‚pitucos‘ (reiche Oberschicht von Lima) haben mit der Ausbildung ihrer Kinder kein Problem. Da sind die besten Privatschulen und Privat-Unis in Peru oder den USA gerade gut genug dafür, während unsereiner durch die Röhre gucken muss.“

„Nimm mir das mit dem Verlieben nicht übel. Ich rede da aus eigener Erfahrung. Auch wenn ich Dich manchmal wegen Deiner Ungebundenheit beneide, kann ich Dir doch versichern, dass eine eigene Familie zu haben ungemein bereichern kann. Aber um das allen Peruanern zu ermöglichen, müssen auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Die Tatsache, dass etwa ein Drittel der Familien einen weiblichen Haushaltsvorstand haben, spricht Bände.“

„Genau, das ist es ja eben. Vielleicht finde ich im Callejón de Conchucos Antworten auf die Zukunft von Peru. Ich gestehe, dass ich von Lima restlos enttäuscht bin. Hier regiert immer noch die Nationale Oligarchie im Verein mit dem ausländischen Kapital. Korruption, Vetternwirtschaft, Kriminalität und Drogenhandel sowie zunehmende Auflösung familiärer Strukturen und weitverbreitete Armut sind die Konsequenzen fehlender Verantwortung von Politik und Wirtschaft. Zwar wächst langsam die Mittelschicht, an deren unterem Ende wir uns befinden, aber die Unterschicht bildet bei Weitem die Mehrheit und ist bettelarm. Du weißt, dass ich ein unverbesserlicher Optimist bin und trotz allem die Hoffnung nicht aufgegeben habe, es könnte eines Tages eine grundlegende Erneuerung unseres geliebten Peru geben. Das müsste von einer neuen Generation innerhalb der Zivilgesellschaft ausgehen, die sich auf die peruanische Tradition und Stärke besinnt. Politik und Wirtschaft sind unfähig und nicht Willens dazu. Was meinst Du?“

„Du hast sicher recht. Ich würde auch gern mit Dir eine ausgedehnte Tour nach Ancash und zum ‚Callejón de Conchucos‘ machen um zu sehen, was sich in der Provinz tut. Aber meine Familie würde mir die Hölle heiß machen.“

Die beiden Freunde saßen an einem Samstagmittag, wenige Tage vor Heiligabend 2012, im bekannten ‚Restaurant Sonia‘ nahe dem Regatta Klub in Chorrillos, wo sie regelmäßig einmal im Monat zusammen aßen. Sie würden sich erst Ende Februar wieder treffen, um das neue Schuljahr zu planen. Zur Feier des Tages hatten sie sich das typische peruanische ‚Cebiche de corvina‘ (rohe Seebarsch-Stückchen in Limonen-Saft ‚gekocht‘ und mit scharfen Pfefferschoten und frischem Koriander angerichtet) mit einem ‚Pisco Sour‘ auftischen lassen. Sonia und Fredy, das Wirts-Ehepaar, erfreuten ihre Gäste zusätzlich zu ihren hervorragenden ‚Marisco‘-Gerichten (Meeresfrüchte) mit einer Live-Kreol-Musikgruppe.

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Foto: Peruanisches Corvina-Cebiche mit gekochter Süsskartoffel, weissem Mais und Salatblatt, Autor: ‚Recetas Gratis.net‘

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Foto: Typisches Trio der peruanischen Criollo-Musik mit Gitarre und ‚cajón peruano‘, Autor: Peruanische National-Bibliothek

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„Rubén, von was für einer Zukunft träumen Deine Schüler? Du hattest wie ich auch eine Abschlussklasse. Habt Ihr da über gewünschte Berufskarrieren gesprochen?“

„Ich muss Dir ehrlich sagen, Walther, dass ich reichlich enttäuscht über meine Schüler und Schülerinnen bin. Was ihnen vorschwebt ist das genaue aktuelle gesellschaftliche Abbild von Lima. Da die Jugendlichen ausnahmslos aus armen und unteren Mittelschichtfamilien kommen, will die überwiegende Mehrheit einfach nur einen Angestellten- oder Techniker-Job erlernen, der ausreicht, um später sich selbst und eine kleine Familie zu ernähren. Ziel ist allgemein: raus aus der Armut und rein in einen bescheiden Konsum. Daneben gibt es die seltene Ausnahme: der Traum vom sozialen Aufstieg in die ‚Pituco-Schicht‘, um später Geld zu scheffeln, entweder im künstlerischen oder im wirtschaftlichen Bereich.“

„Bei meinen Schülern sieht es nicht anders aus. Meine Hoffnung setze ich auf die Schülerinnen. Seit der Jahrtausendwende sind sie im Vormarsch und sehr viel ambitionierter als die Schüler. Die meisten jungen Frauen verlassen sich nicht mehr auf den alleinigen männlichen Verdiener. Sie wollen finanziell unabhängig sein und notfalls auch eine Familie allein ernähren können. Im Übrigen: Niemand träumt von einem anderen Peru, einem sozial gerechteren, demokratischeren. Das vorherrschende Gefühl ist die Ohnmacht gegenüber Veränderungen. Der ‚cholo‘ (Präsident Toledo von 2000 bis 2005) stammte aus ärmsten Verhältnissen und ist vom ersten Tag seiner Präsidentschaft an vom Großkapital korrumpiert worden. Auch die anderen Präsidenten haben sich vom Neoliberalismus einkaufen lassen und die natürlichen Ressourcen Perus, besonders die mineralischen, zur Plünderung ans ausländische Kapital freigegeben, sodass die Jugendlichen nur noch erpicht darauf sind, so gut es geht, später materiell über die Runden zu kommen und ein wenig von dem zu erhaschen, was ihnen die ‚Pitucos‘ und das internationale Kapital übriglassen. Wir beide sind da die besten Beispiele. Zur Zeit des ‚Sendero Luminoso‘ (maoistisch) oder des ‚MRTA‘ (Movimiento Revolucionario Tupác Amaro – marxistisch/leninistisch) in den 80er und Beginn 90er Jahren war das anders. Es gab vor allem unter Schülern und Studenten eine starke sozialistische Bewegung, die ein besseres und gerechteres Peru anstrebte. Diese Bewegung hatte ihre Ursachen in der fürchterlichen Armut, und die jungen Leute fielen auf die sozialistischen Parolen herein ohne zu ahnen, welch desaströse Folgen eine sozialistische Bewegung haben könnte, sollte sie tatsächlich siegreich sein. Aber es gab jedenfalls Träume von einem sozial gerechteren Peru. Wer heute noch solche Träume äußert, wird auf völliges Unverständnis stoßen.“

„Lieber Walther, was bleibt uns in dieser misslichen Lage zu tun? Ich bin einfach nur froh, wenn ich meine Familie über Wasser halten kann. Im Unterricht versuche ich, wenigstens grundlegende ethische Verhaltensweisen zu übermitteln. Ich bin mir nicht sicher, ob das fruchtet. Lima platzt seit dem unrühmlichen Abgang vom ‚chino‘ in jeder Beziehung aus den Fugen. Jetzt haben wir zehn Millionen Einwohner, ein Drittel mehr als zur Zeit der Militärdiktatur Ende der 60er und 70er Jahre. Aber das Sozialprodukt hat sich seit 1990 durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die unverschämte Ausplünderung unserer natürlichen Ressourcen durch transnationales Kapital verfünffacht. Dieser plötzliche Reichtum landet hauptsächlich in den Händen der Nationalen Oligarchie in Lima und in den Großbanken der Welt. Wir brauchen uns nur hier im Gartenrestaurant von Sonia und Fredy umzugucken, um unsere ‚Pitucos‘, die mit ihren dicken Fahrzeugen vorfahren, auszumachen. Die mischen sich mit Vorliebe unters Volk, wenn das Ambiente und die Sicherheit stimmen. Aber wir sollten nicht zu laut sprechen, sonst könnten auch Sonia und Fredy sauer auf uns werden. Komm, lass uns noch einen Pisco Sour trinken, bevor wir gehen. Wir können uns dann mit dem Taxi auf den ‚Morro Solar‘ zum Denkmal des Unbekannten Soldaten fahren lassen, um vor Weihnachten noch einen letzten Blick auf Chorrillos und die ‚Costa Verde‘ zu genießen. Mein Gott, wenn ich daran denke, dass während des Pazifik-Krieges zwischen Chile und Peru Chorrillos von den Chilenen im Januar 1881 dem Erdboden gleich gemacht wurde und Tausende von Toten beklagen musste, können wir uns heute beglückwünschen, dass kriegerische Auseinandersetzungen auf peruanischem Boden und auf unserem Kontinent insgesamt wohl endgültig der Vergangenheit angehören.“

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Foto: Wikimedia Commons (2002), Blick vom ‚Morro Solar‘ über Chorrillos und die ‚Costa Verde‘ der Meeresbucht von Lima. Das ‚Restaurant Sonia‘ befindet sich nahe dem grünen Gebäude in der Mitte des Fotos. Autor: xauxa (Hakan Svensson)

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Schluss des Prologs

Folge 1 wird beizeiten erscheinen

Noch einen schönen Sonntag und einen "fröhlichen" Einstieg ins kommende Vierteljahrhundert der globalen Wanderungen in Richtung Europa, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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