Auf der Suche nach dem wahren Peru

Conchucos (4) (En la búsqueda del Perú profundo) Geschichte aus dem heutigen Peru in Folgen

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Foto: Junge Frauen der peruanischen Sierra in typischen Trachten. (So könnten Sonia und Paty an einem der zahlreichen Volksfeste in Ancash teilgenommen haben), Credits: trajes tipicos del peru

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Foto: Junge Frauen mit typischer Tracht auf dem Karneval von Ayacucho, der ursprünglichen Heimat von Sonia und Paty, Credits: trajes tipicos del peru

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Bisherige Folgen sind hier einzusehen:

Prolog , Folge 1 , Folge 2 , Folge 3

Conchucos

Folge 4

Während Walther in seinem Hotelzimmer unter der Dusche stand, um sich für das Abendessen mit Sonia, Paty und Ricardo frisch zu machen, gingen ihm unterschiedlichste Frauenbilder durch den Kopf. Er meinte, dass sich trotz aller ‚mestizaje‘ (Durchmischung) und Wanderungsbewegungen innerhalb Perus die Menschen in der Selva (peruanisches Amazonasgebiet), der Sierra und der Costa unterscheiden. Und das im Aussehen wie auch in der ‚idiosincrasia‘ (einer Menschengruppe eigenes Temperament). Sonia und Paty schienen ihm vom ersten Augenblick an fesselnd und sympathisch zu sein. Er würde sicher herausfinden, ob beide noch das typische Sierra-Temperament besäßen, oder ob sie sich dem Lebensstil der jungen Frauen aus Lima angepasst hätten. Als er sich anzog, ertappte er sich in seiner Eitelkeit, die immer dann bei ihm durchbrach, wenn er auf Frauen traf, die ihn anzogen und auf die er einen guten Eindruck zu machen gedachte.

Ricardo holte ihn gegen 20 Uhr ab und versprach ihm, ein heimeliges Restaurant mit guter regionaler Küche zu besuchen. Er würde sich dort sicher wohlfühlen und könnte auch ‚cuy‘ (ein etwa hamster-großes Nagetier der Anden, das schon im ‚Peru Antiguo‘ wichtiger Bestandteil der Sierra-Küche war) bestellen, was er sich gewünscht hatte. Die Frauen hielten bereits einen Tisch frei.

Das zweistöckige Restaurant am Rande der Stadt war nach dem großen Erdbeben erbaut und äußerlich wahrlich kein sehenswerter Bau, was auf fast alle Gebäude in Huaraz zutrifft. Das Besitzerehepaar stammte aus Huari im Callejón de Conchucos, das gleich nach der Erdbeben-Katastrophe den Sprung in die Stadt gewagt und wegen des dort zu erwartenden Tourismus auf bessere Verdienstmöglichkeiten gesetzt hatte. Das Restaurant war bekannt für seine regionale Küche. Selbst Gerichte der Prä-Inkazeit fanden ihren gebührenden Platz in seiner Menüauswahl. Die Besitzerin hieß die Gäste persönlich willkommen und geleitete sie zu dem vorbestellten Tisch. Erfreut stellte Walther fest, dass dieses Wirtshaus nichts gemein hatte mit den zahlreichen lärmerfüllten Touristenrestaurants in Huaraz. Das Interieur war im Gegensatz zur Außenfassade des Gebäudes in spanischem Kolonialstil gehalten und war in mehrere ‚Salons‘ unterteilt, von denen jeder über einen eigenen Kamin verfügte. Typische unaufdringliche Andenmusik versetzte die Gäste in die Welt der Berge, in die Welt des harten Lebens, der Einsamkeit, der unerfüllten Liebe und des immer wieder kehrenden Abschieds.

Wohltuendes, gedämpftes Licht begleitete Ricardo und Walther vom Eingang her bis zu ihrem ‚Salon‘, in dem sie an einem der wenigen mit Kerze und handbemalter Blumenvase geschmückten Tisch bereits von Sonia und Paty erwartet wurden.

Das Ambiente und die neue Bekanntschaft mit den Dreien versetzten Walther in eine eigentümliche Steifheit, die er besonders bei der mit dem üblichen ‚beso‘ verbundenen Begrüßungs-Umarmung der beiden Frauen empfand. Er erlaubte sich nicht, wie es ihm eigen war, den persönlichen Duft der Frauen still zu genießen. Dazu war er zu aufgeregt. Ähnlich musste es den Frauen ergehen, die erwartungsvoll der Bekanntschaft aus Lima entgegensahen. Doch diese allseits empfundene scheue Erwartungshaltung wurde rasch durch die vom Kaminfeuer ausgestrahlte Wärme des Raumes, die hölzerne Möblierung, die Kerzen und Blumen auf den Tischen sowie die freundliche Bedienung im traditionellen Kostüm von den Besuchern abgelegt. Dazu trug auch das Anstoßen mit dem zur Begrüßung servierten unvermeidlichen Pisco Sour bei, dessen Genuss bei den Sierra-Bewohnern schnell die bereitwillige Aufgabe des äußerlich zurückhaltenden Temperamentes zu bewirken imstande ist. Die Einheimischen der Costa und besonders der Selva hingegen verfügen über genügend angeborene ‚chispa‘ (Feuer), die kein zusätzliches Stimulans erfordert, um einen ungezwungenen Umgang herzustellen.

Sonia und Paty saßen Walther und Ricardo gegenüber. Die drei ‚Ancashiner‘ waren neugierig auf ihren Gast aus Lima. Und dieser war neugierig auf seine Gastgeber. Bei ihrem Anblick hatte Walther unwillkürlich den Eindruck, etwas Verschwörerisches ginge von diesen Dreien aus. Oder sollte er sich da täuschen? Doch darüber nachzudenken war jetzt nicht am Platze. Jeder studierte eifrig die Menü-Karte und fragte außerdem die Bedienung um Rat. Nach einigem Hin und Her hatten alle Vier ihre Wahl getroffen. Walther bestellte ‚Cuy con papas doradas y ensalada‘ (Cuy mit gebackenen Kartoffeln und Salat), während die anderen Drei ‚Chicharrón ancashino servido con Mote y Salsa Criolla‘ (gebratene Schweinefleischstückchen mit weißem Mais und lokaler Soße) orderten. Ein vollmundiger Rotwein aus dem chilenischen Maipo-Tal sollte dafür sorgen, diese deftigen Speisen am Abend entsprechend genießen zu können.

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Foto: Wikimedia Commons: im Ofen gebackener cuy mit ‘goldenen’ Kartoffeln und Salat

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Foto: Wikimedia Commons, Chicharrón ancashino serviert mit Mote (weißer Mais) und salsa criolla, Autor: Dtarazona (2010)

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Als der ‚cuy‘ serviert wurde, mussten alle Vier herzlich lachen. Das im Ofen gebackene ‚arme‘ Tier machte einen reichlich ‚exotischen‘ Eindruck. Aber es schmeckte lecker, und das war die Hauptsache.

Während des Essens kommentierte Sonia ihre Nachrichtensendung zur Korruption in Huaraz und Ancash. Der durch den Minen-Boom verursachte Geldsegen brachte Mafia-ähnliche Strukturen zwischen öffentlichen Mandatsträgern und Baufirmen sowie gewöhnlichen Kriminellen hervor, die sich krebsartig über die ganze Region hin ausbreiteten. Für Sonia war eine schonungslose Aufdeckung dieser Machenschaften nicht ungefährlich. Die Redaktion ihres Senders griff immer wieder ein, um ihren Reportagen die letzte Schärfe zu nehmen. Dann wurde die morgige Exkursion zum Gletscher Pastoruri ausführlich besprochen. Sonia hatte ihren Sender von der Notwendigkeit der Sensibilisierung vor allem der städtischen Bevölkerung über die Klima-Veränderung und die Erderwärmung überzeugt. Ihre Reportagen wurden oft auch an die nationalen Sender weitergegeben. Zusammen mit Paty erstellte sie eigene Programme für junge Menschen, die für den Unterricht genutzt wurden. In Pastoruri wollte sie noch Material für die Fertigstellung ihrer jüngsten Reportage zusammentragen, die sie vor den Weihnachtsferien begonnen hatte.

Dann war Walther an der Reihe, um von sich und seinem Interesse an Ancash zu berichten. Im Gegensatz zu den Dreien, die aus der Region Ayacucho stammten, kamen seine Eltern aus Ancash. Jedoch kannte er die Region nur flüchtig und wollte vor allem den Callejón de Conchucos besuchen und sich eine Vorstellung vom entbehrungsreichen Leben seiner Eltern auf einer Hazienda im Mosna-Tal machen und der Frage nachgehen, ob eine Landflucht auch heute noch unumgänglich sei. Sollten die Menschen in der Sierra, welche so reich an Bodenschätzen, pflanzlichen und tierischen Ressourcen ist sowie ungezählte Tourismus-Möglichkeiten bietet, auf ewige Zeiten als nützliche und billige Arbeitskräfte für die peruanische Oberschicht und das internationale Kapital herhalten? Seine Eltern hatten während der Militärdiktatur und noch vor dem Großen Erdbeben die Flucht ergriffen und sich in Chorrillos im Süden Limas niedergelassen. Er selbst wurde zehn Jahre später geboren, als die Eltern im bedeutungsvollsten handwerklichen Textilsektor Perus und Lateinamerikas im Stadtteil Gamarra so viel Geld verdienten, dass sie sich zwei kleine Kinder ‚leisten‘ konnten, eine Schwester und ihn selbst. Die beiden Kinder verdankten dem aufopferungsvollen Leben der Eltern den Schulbesuch und das spätere Studium. Walther und seine Schwester waren mit der Vorstellung groß geworden, den Eltern im Alter das zurückzugeben, wovon sie in der Jugendzeit profitiert hatten. Doch leider starben Vater und Mutter kurz hintereinander schon vor Erreichen ihres 60ten Lebensjahres.

Walther wurde am Ende seiner Erzählung, die von den Anderen kaum unterbrochen wurde, von einer plötzlichen traurigen Stimmung erfasst. Sonia ergriff über den Tisch hinweg seine Hand und versicherte ihm, alle Drei könnten ihn gut verstehen. Auch ihre Eltern lebten ja nicht mehr. Das Vermächtnis für die heutige Generation sei, die Verantwortung für eigenes Leben in die Hand zu nehmen und ein gutes Leben anzustreben. Walther war dankbar für den warmen Zuspruch. Sonia, Paty und Ricardo, die er ja kaum kannte, schienen so viel ernsthafter und warmherziger zu sein, als die jungen Menschen seines Bekanntenkreises in Lima. Die Generation der aus der Sierra eingewanderten Eltern hatten in Lima wie die Löwen ums Überleben kämpfen müssen. Die Generation der Kinder profitierte davon, beschränkte ihren Lebenskampf jedoch zumeist auf die Jagd nach den Brosamen, die ihnen ‚pitucos‘ und ausländisches Kapital scheinbar großzügig hinwarfen. Für dieses Verhalten seiner Generation schämte sich Walther schon seit Langem. Noch wagte er es den Dreien gegenüber nicht zu gestehen, dass sein Ferienbesuch in der Sierra in erster Linie eine Suche nach Antworten auf viele für ihn wesentliche Fragen sei.

Eine dieser Fragen war die nach seiner Heimat, nach seinen Wurzeln und seiner Verantwortung als Peruaner. Wie die anderen Drei hatte er Kinder-, Jugend- und Ausbildungszeit in Lima verbracht. Doch immer wieder sträubte er sich innerlich, sich als typischen ‚Limeñer‘ zu fühlen. Ihm schien es so, als ob Paty, Ricardo und Sonia, die als Kinder aus ihrer dörflichen Heimat in Ayacucho gewaltsam entwurzelt wurden und danach in Lima groß geworden waren, jetzt in Ancash ihre eigentliche Heimat und ihren Lebenssinn gefunden hätten. Fast beneidete er sie darum. Wäre es ihm selbst auch möglich, sich eines Tages mit einer regionalen Heimat inmitten von Peru zu identifizieren? Peruaner empfinden mehrheitlich den Stolz auf das gemeinsame Erbe des Peru Antiguo. Auf die Kolonisierung durch die spanischen Conquistadores sind sie weniger stolz, auch nicht auf die Geschichte der Unabhängigkeit Perus, die bis zum heutigen Tag hauptsächlich geprägt wurde durch eine im Verein mit ausländischen Mächten ausbeuterische Nationale Oligarchie. Das Ergebnis dieser Ära der Unabhängigkeit ist eine fortdauernde allseitige Rückständigkeit der armen Mehrheit der Bevölkerung in Stadt und Land. Doch die meisten Peruaner empfinden eine tiefe Verbundenheit mit ihrer Region, mit ihrer Heimatstadt oder ihrem Heimatdorf. Gerade das fehlte Walther. Lima ist Heimat für ‚pitucos', für die reiche Oberschicht und die Parvenüs der Zugereisten, die die übrige peruanische Bevölkerung nach Belieben manipuliert. Im Gegensatz dazu ist Lima vor allem für die zugewanderte arme Mittelschicht und die Unterschicht schlicht der Ort des materiellen Überlebens. Der an sich selbst oft gestellten Frage nach seiner Identität, die ihm nach den Besuchen von ‚El Pinar‘, Willkawain und Yungay wiederum deutlich wurde, würde Walther sicher im Verlaufe seiner Reise weiter nachgehen.

„Walther, bist Du verheiratet oder lebst Du in einer festen Beziehung?“ Paty überraschte ihn mit dieser Frage wie aus heiterem Himmel.

„Keines von beiden. Ich bin weder verheiratet, noch lebe ich mit einer Partnerin.“ Walther hatte das Gefühl, sein Gesicht liefe vor Verlegenheit rot an. Diese immer wieder offen ausgesprochene Frage unter Menschen, die sich gerade kennenlernen, kannte er ja zur Genüge. Aber jetzt hatte sie ihn doch für einen Augenblick aus der Fassung gebracht. Rasch rettete er sich mit der Gegenfrage: „Wie steht es denn mit Euch?“

Mit Erstaunen vernahm er die offenen Bekenntnisse von Ricardo und Paty, dass sie seit zwei Jahren ein Paar seien, dass Paty sich neben ihrer Arbeit um ihre 14jährige Tochter kümmerte, dass sie aber nicht an eine Heirat mit Ricardo dächte. Beide hätten andere vorrangige Interessen. Und Sonia gestand ihm unumwunden, dass sie bisher noch keine feste Beziehung in Betracht gezogen hätte. Für sie sei erst einmal die Berufskarriere wichtig. Alles andere könnte warten.

Walther hatte an diesem Abend zu wenig Einzelheiten aus den Lebensgeschichten seiner Gastgeber herausgehört, um sich einen genauen Eindruck von ihnen machen zu können. Eines aber stand für ihn fest. Die Drei waren gesellschaftlich äußerst engagierte Menschen. Sie strahlten eine Kraft aus, deren Grund er erst einmal nicht erraten konnte. Was sie einte, war die Abstammung aus Ayacucho, war eine schwierige Kinder- und Jugendzeit ohne Eltern in Lima und schließlich ein neues Leben in Ancash, das ihnen Sinn gab. Walther hoffte, sie während seiner Ferienreise, eventuell vor der Rückkehr nach Lima, noch einmal zu treffen. Auf die Fahrt nach Pastoruri am morgigen Tag an der Seite von Sonia freute er sich ganz besonders. Als er den Gletscher im Jahre 2000 besuchte, konnte er auf Schnee und Eis noch herumtollen. Heute soll das aufgrund der Klima-Veränderung nicht mehr möglich sein. Er würde sich überraschen lassen.

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Foto: Wiki Sumaq Peru: Nevado Pastoruri (5.200 m. ü. d. M.) in der 2. Hälfte des 20ten Jh., als der Gletscher noch ein beliebtes Ausflugsziel für Wintersportler war.

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Ende der 4. Folge

Noch schöne Weihnachtsfeiertage!

LG, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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