Auschwitz ist überall und immer wieder

Völkermord Eine Begebenheit aus dem Bürgerkrieg in Mosambik (1978 -1992)

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Foto: Befreite Flüchtlinge aus den von der RENAMO besetzten Gebieten während des Bürgerkrieges in Mosambik (1978 – 1992). Eigenes Archiv, Autor unbekannt

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27. Januar 2015: Gedenken an die Befreiung von Auschwitz vor 70 Jahren

Auschwitz, Holocaust, Rassenideologie des Hitler-Faschismus waren für viele meiner Nachkriegs-Generation die ersten seelischen Narben im Kinder- und Jugendalter, die zwar äußerlich verheilten, innerlich aber unauslöschlich fortdauern bis auf den heutigen Tag.

Am 27. Januar 1945 war ich gerade einmal ein und ein halbes Jahr alt. 1948, als Fünfjähriger, hörte ich zum ersten Mal das Wort Auschwitz als einen hysterisch ausgestoßenen Schrei aus dem Munde einer jungen Frau, die aus dem Osten Deutschland geflohen war und in unserer Familie auf dem Weg ins Ruhrgebiet vorübergehend Unterschlupf gefunden hatte. Die Erzählung eines jungen Soldaten, ebenfalls auf dem Weg nach Westen, der die Gräuel von Auschwitz persönlich gekannt haben musste, hatte diese Frau in fürchterliche Angst und Schrecken versetzt. Da sie auf mich aufpasste, übertrug sich ihr Entsetzen auf mich, ohne dass ich wusste, was es mit Auschwitz auf sich hatte.

Später in der Schule, als wir zehn Jahre alt waren, sahen wir zum ersten Mal Dokumentaraufnahmen aus befreiten Konzentrationslagern. Ich begann, mir ein Bild zu machen, was diese junge Frau damals erlitten haben musste. Vielleicht war sie auf der Suche nach Familienmitgliedern oder Freunden, die sie in Ausschwitz vermutete. Ich weiß es nicht. Jedenfalls ließ mich Auschwitz von da an nicht mehr los und war mit ein Grund meiner späteren Arbeit in der „Dritten Welt“.

In Mosambik, dem dritten afrikanischen Staat nach Guinea Bissau und Äquatorial-Guinea, in dem ich zwischen Januar 1986 und Juli 1992 arbeitete, erlebte ich einen Bürgerkrieg, der sein unmenschliches Grauen mit vielen anderen Völkermorden der Welt teilt. Persönlich schätze ich, aufgrund einer mit Hilfe der EU finanzierten Enquête, dass der Krieg etwa zwei Millionen zivile Todesopfer forderte, davon 300.000 direkt Ermordete und die übrigen Verstorbenen indirekt durch Hunger und Krankheit verursacht. Während dieses Bürgerkrieges flog ich jede Woche mit kleinen Flugzeugen kreuz und quer durchs Land, das etwa dreimal so groß ist wie die damalige BRD. Es galt, Menschenleben zu retten, so viele, wie nur irgend möglich. Ewa fünf Millionen Menschen irrten als sogenannte interne Flüchtlinge im Lande umher, mal als Sklaven der Guerilla (RENAMO), mal in von Regierungstruppen (FRELIMO) notdürftig beschützten Lagern, die wie Inseln im weiten Meer der von der Guerilla heimgesuchten Gebiete lagen.

In diesen Bürgerkriegsjahren mit Millionen von hilflos ausgelieferten Menschen, die von grausamen, blutrünstigen Guerilla-Verbänden gejagt wurden und andererseits unter der Herrschaft von rücksichtslosen FRELIMO-Militärs litten, kamen mir immer wieder Assoziationen zu Auschwitz in den Kopf, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Es war mir, als sei ich ein hilfloser Spielball inmitten eines Völkermordszenariums, das während des Kalten Krieges von den antagonistischen sozialistischen und kapitalistischen auswärtigen Mächten nach Kräften geschürt wurde. In dieser Zeit lernte ich faschistisches Verhalten zur Genüge kennen, das Völkermord kaltblütig begeht, so wie er auch in Deutschland im Dritten Reich in unvorstellbarem Masse begangen worden war. Mehr als deutlich wurde auch die indirekte Beteiligung der auswärtigen Mächte am Völkermord sowie ihr Interesse daran, mit Waffenlieferungen und sogenannter Katastrophen-Hilfe die Bürgerkriegsbarone zu immer neuen Gräueltaten anzufeuern.

Für mich war der Bürgerkrieg in Mosambik sinnbildliche Anschauung von Auschwitz, Holocaust und Völkermord. Auch wenn Auschwitz eine spezifische deutsche Angelegenheit war, so ist nach meiner Auffassung Auschwitz nach 1945 nicht aus der Welt. Ausschwitz geschieht überall auf der Erde und Auschwitz geschieht immer und immer wieder, als könnten Menschen ohne Auschwitz nicht existieren, als könnten Menschen aus der Geschichte nicht lernen, als könnten Zivilgesellschaften sich nie aus der Unterdrückung der Herrschenden befreien, um ihr Schicksal selbstbestimmt in die eigenen Hände zu nehmen und um Auschwitz ein für alle Mal abgrundtief in der Erde zu vergraben.

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Eine von mir erlebte Begebenheit aus diesem Bürgerkrieg soll an dieser Stelle ein typisch menschliches Verhalten beleuchten, das, obwohl es keinesfalls ein faschistisches ist, doch mitverantwortlich sein kann für das Ausmaß und die Existenz von immer wiederkehrendem Völkermord. Dieses Verhalten ist die Indifferenz dem Leiden und Sterben von Menschen gegenüber. Diese Indifferenz kann verschiedenste Gründe haben und ist gerade heute in den von Kriegen nicht betroffenen Staaten massenhaft anzutreffen. Eigentlich müsste gerade in Deutschland, das Auschwitz gemacht, erlebt und erlitten hat, Völkermord wo auch immer in der Welt nicht nur verbal verurteilt werden, sondern ihm mit besonnener Tat entgegnet werden. Aber die Tatsache, selbst nicht betroffen zu sein, fördert eine tödliche Indifferenz, die versucht, sich hinter verbalem Protest zu verstecken.

Warum schreit deutsche Politik und Zivilgesellschaft nicht laut auf bei allen derzeitigen Völkermorden und tut etwas dagegen? Es gäbe tausend Dinge zu tun, um wenigstens zu versuchen, Völkermord zu verhindern. Liegt Auschwitz schon zu lange zurück? Sind 70 Jahre eine einlullende Friedens-Ewigkeit, die allenfalls durch von Politikern angeführte Pflicht-Gedenken unterbrochen werden darf?

Die Neuigkeit von der Befreiung des Distriktes Memba in der nördlichen Provinz Nampula verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Maputo. Die Hauptstadt Mosambiks im äußersten Süden des Landes quoll im Jahre 1989 über von Flüchtlingen aus dem ganzen Land und war in wenigen Bürgerkriegsjahren von einer Million Einwohner auf etwa zwei Millionen angewachsen. Diese Nachricht wie so viele vorher bombardierten beinahe täglich die Bevölkerung, die FRELIMO-Regierung und die Vertreter der Internationalen Gemeinschaft und spiegelten den ständig wechselnden Bürgerkriegsverlauf im gesamten Land wider. Regierung und Gebergemeinschaft trafen sich jeden Montagmorgen zur Koordination der Hilfsaktionen, bei Bedarf auch ad hoc, um umgehend auf bestehende oder neu aufgetretene Notfälle reagieren zu können. Ich war damals als verantwortlicher Berater für die nationale Nahrungsmittelsicherung bei der Regierung angestellt und war gleichzeitig Berater für die EU-Delegation. Als solcher wurde ich auch von der EU finanziert.

Es hieß, in Memba hätten die FRELIMO-Kämpfer etwa 20.000 Flüchtlinge aus der Gewalt der RENAMO-REBELLEN, die vom damaligen weißen Apartheidssystem aus Südafrika unterstützt wurden, befreit. Ein Journalist hatte erste Fotos der Flüchtlinge aus dem Norden mitgebracht, die sogleich in der Regierungszeitung veröffentlicht wurden. Die Gebergemeinschaft wurde zusammengetrommelt, und der Journalist gab eine erste Beschreibung über den Zustand der Flüchtlinge in Memba. Die Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen und Kinder, die jahrelang als Sklaven der RENAMO-Rebellen gehalten wurden, sollten sich in einem bejammernswerten Zustand befinden: Ohne Kleidung, völlig ausgehungert, übersät mit Hautkrankheiten, mit bis zu 10 Hungertoten am Tag. Die Männer waren umgebracht worden, sofern sie nicht in die Wälder flüchten konnten. Die männlichen Heranwachsenden wurden zu Kindersoldaten ausgebildet und die jungen Mädchen dienten zu Vergewaltigungsorgien nach jedem Kriegszug und wurden schließlich mit Gewalt zu Ehefrauen der Rebellen gemacht. Was in Memba geschah, was jedoch im gesamten Land an der Tagesordnung war, war Völkermord an einer Zivilbevölkerung, die bereits zehn Jahre grausamsten Bürgerkriegsbedingungen hilflos ausgeliefert war.

Die Fotos aus Memba waren geeignet, die diplomatischen Vertreter der Gebergemeinschaft in ihren luxuriösen Botschaften und Büros zu schockieren und aufzuscheuchen. Internationale Helfer, die wie ich in tägliche Hilfsaktionen eingebunden waren und die Realität des Krieges gut kannten, taten sich umgehend zusammen und mobilisierten die Botschafter mit dem Ziel, eine sofortige Rettungsaktion für die Flüchtlinge in Memba zu starten, die völlig isoliert und ohne jegliche Nahrung in der zerstörten Distrikthauptstadt den täglichen Angriffen der RENAMO zur Rückeroberung der Stadt ausgesetzt waren.

Die EU lieferte damals etwa für 50 Mio ECUS (ungefährer Wert des heutigen Euro) pro Jahr Nahrungsmittel nach Mosambik, die etwa 20% der gesamten Nahrungsmittelversorgung sicherstellten. Ein großer Teil dieser Nahrungsmittel sollte von staatlichen Stellen in den von der FRELIMO gehaltenen Städten zu einem festgelegten niedrigen Preis verkauft werden. Die sogenannten „Gegenwertmittel“ dieser Verkäufe in einheimischer Währung waren dann zur Finanzierung von Entwicklungsprojekten vorgesehen. Es war das gleiche System vertraglich zwischen der FRELIMO-Regierung und der EU ausgemacht, wie beim Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen den USA und der damaligen BRD. Die gelieferten Waren, in diesem Falle Nahrungsmittel für städtische Bevölkerung, sollten monetäre Erträge für Entwicklung bereitstellen. Das Geldaufkommen sollte im Finanzministerium konzentriert werden. Ich war u.a. zuständig für die Überwachung der Einhaltung dieser vertraglichen Abmachungen und auch zusammen mit den einheimischen Behörden zuständig für die Planung der Entwicklungsprojekte. Jährlich hätten die Gegenwertmittel etwa dem Wert von 30 Mio US$ entsprechen müssen. In der Regel war ich froh, wenn ein bis zwei Mio US$ im Finanzministerium zusammen kamen. Das lag daran, dass die FRELIMO-Regierung gleich nach Eintreffen der Nahrungsmittel in den drei Häfen des Landes, Maputo im Süden, Beira im Zentrum und Nacala im Norden, diese Nahrungsmittel auf Schwarzmärkte kanalisierte und zu weit überhöhten Preisen an eine verarmte Stadtbevölkerung veräußerte, die dadurch gezwungen war, ihr gesamtes kärgliches Einkommen für die importierten Nahrungsmittel auszugeben und nichts mehr für zusätzliche Nahrungsmittel wie lokalen Fisch, Obst und Gemüse übrig zu haben. So litt die Bevölkerung an chronischem Hunger mit der Folge der höchsten Kinder- und Müttersterblichkeitsrate in der Welt. Auf diese Weise eignete sich die FRELIMO-Nomenklatura etwa 50 Mio US$ pro Jahr illegal an. Ein US-Vertreter meinte vertraulich zu mir: Die Nomenklatura muss fett gemacht werden, damit die US nach dem Zusammenbruch des sozialistischen System sogleich eine kapitalistische Elite in den Startlöchern vorfindet. Ich entgegnete ihm, solange ich für die EU arbeite, wird es ein solches Vorgehen mit mir nicht geben.

[Einschub zum besseren Verständnis: Ich versuchte mit allen Mitteln der Überzeugung diese Machenschaften der FRELIMO-Verantwortlichen zu unterbinden. Aber nicht nur die EU, auch die USA, das World Food Programme und andere Geber zeigten mir die kalte Schulter und mischten sich nicht in die Korruptionspraktiken der mosambikanischen Regierung ein. Sie empfahlen mir, schlicht die Augen zuzumachen. 1990 wurde mir das unverschämte Treiben der Nomenklatura auf Kosten ungezählter Hungertote zu bunt. Ich schrieb einen vertraulichen, detaillierten Bericht über diesen Sachverhalt an die Europäische Kommission mit dem Zusatz: Mit europäischen Steuergeldern könnte kein Sterben der Zivilbevölkerung finanziert und parallel dazu eine Nomenklatura dick gefüttert werden. Kurz zuvor hatte ich die Enquête über die Lebensbedingungen der Bevölkerung im Krieg in Gang gesetzt, die bestätigte, dass bereits weit über eine Million Hungertote zu beklagen waren. Unglücklicherweise gelangte mein vertraulicher Bericht über die schwedische Botschaft an die einheimische Presse. Und das in der Zeit der Auflösung des Warschauer Paktes und der nachlassenden Unterstützung der sozialistischen Länder für Mosambik. Der Skandal war perfekt. Die sozialistische FRELIMO wurde der Korruption und Bereicherung auf Kosten seiner geschundenen Bevölkerung bezichtigt. Sie leugnete selbstverständlich meine Behauptungen, und ich war gezwungen, von heute auf morgen unterzutauchen.]

Es gelang, die Botschafter der damaligen Sowjetunion und der USA, den damaligen Delegierten der EU (heute wird der Delegierte Botschafter genannt), den UN-und den Weltbank-Chef sowie den verantwortlichen mosambikanischen Minister zu mobilisieren, um sofort nach Nampula zu fliegen. Dort wollten die Sowjets einen Helikopter zur Verfügung stellen, um nach Memba zu gelangen. Die hochrangige Delegation wollte sich von der Internationalen Gemeinschaft nicht vorhalten lassen, untätig einem Massaker an der mosambikanischen Zivilbevölkerung beizuwohnen. Stattdessen hatten sie vor, Flagge zu zeigen und entsprechende Hilfsmaßnahmen einzuleiten.

Leider kam die Delegation nach zwei Tagen unverrichteter Dinge wieder zurück. Gründe: Die Helikopterreise sei zu gefährlich wegen anhaltender Guerillatätigkeit. Außerdem gäbe es keine Transportmöglichkeit für die Hilfsmaßnahmen. Das mosambikanische Militär sei zu schwach, um einen Konvoi nach Memba auf den Weg zu schicken. Daraufhin bekniete ich den EU-Delegierten (Botschafter), nicht aufzugeben und alle Möglichkeiten für eine Rettungsaktion für die 20.000 Flüchtlinge auszuloten. Ich machte ihm den Vorschlag, selbst in die Krisenregion, die ich gut kannte, zu fliegen, mit den Sowjets zu verhandeln und außerdem mit den noch vorhandenen wenigen privaten Transportunternehmern zu sprechen, ob sie gewillt wären, gegen gutes Entgelt und unter militärischem Geleitschutz nach Memba mit den ersten 200 Tonnen Nahrungsmittel aufzubrechen. Eventuell könnten die in Nampula stationierten jungen FRELIMO-Offiziersanwärter mit zwei drei Panzern die zivilen Lastwagen begleiten. Der EU-Delegierte stimmte nach Austausch mit der EU-Kommission in Brüssel zu, auch, dass ich für diese Aktion die Gegenwertmittel zur Bezahlung des Konvois benutzen könnte.

In Nampula waren die Verhandlungen mit allen Beteiligten schon nach zwei Tagen erfolgreich: Die privaten Transportunternehmer waren froh, im Kriege einen gut bezahlten Job leisten zu können. Die Offiziersanwärter wollten ihren Patriotismus zeigen. Die Sowjets waren bereit, mit mir einen Erkundungsflug nach Memba zu starten. Ein Journalist begleitete mich. Wir beluden den Helikopter außerdem mit einer Tonne Mais. Früh am Morgen starteten wir von Nampula aus und flogen etwa 40 Minuten ganz dicht über den Bäumen in Richtung Memba, immer darauf bedacht, eventuellem Beschuss vonseiten der RENAMO aus dem Wege zu gehen. Tatsächlich kamen wir heil über Memba an. Es war ausgemacht, dass der Journalist und ich zusammen mit dem Mais abgesetzt werden sollten. Nach zwei Stunden würde der Helikopter wieder kommen, um uns zurück nach Nampula zu transportieren. In der Zwischenzeit hätte ich die Möglichkeit, um die Einzelheiten der Rettungsaktion mit den Verantwortlichen der Flüchtlinge zu besprechen.

Als wir etwa 20 bis 30 Meter über dem Flüchtlingslager in Memba schwebten, konnten wir bereits das menschliche Drama der Flüchtlinge erahnen. Das Lager bestand lediglich aus notdürftig zusammengeflickten Palmhütten, die wenigen Steinhäuser der kleinen Distrikthauptstadt waren dem Erdboden gleichgemacht. Die nackten oder notdürftig mit Sackresten bekleideten Menschen begannen eine wilde Hatz in Richtung auf den Helikopter. Sie waren benachrichtigt worden, dass wir nach Memba unterwegs waren. Der Pilot sah keine Möglichkeit zur Landung, da die Flüchtlinge keinen Platz gaben. So flogen wir hin und her, um eine freie Stelle zu finden, was dann auch gelang. Der Journalist und ich sprangen hinaus. Gleich nach uns wurden in aller Eile die Mais-Säcke hinausgeschmissen. Bevor die Menge den Helikopter erreichte, war dieser schon wieder in der Luft. Gottseidank! Der Pilot erzählte uns vorher, dass der Hunger die Menschen soweit antriebe, dass sie keine Vorsicht auf die Rotorblätter des Helikopters nähmen und Gefahr liefen, von diesen geköpft zu werden.

Die ausgemergelten Flüchtlinge fielen wie wild über den Mais her. Die kleinen Kinder grabschten sich die harten Körner, die aus den Säcken herausgefallen waren und versuchten diese zu zerkauen. Eine verzweifelte Menge aus Haut, Knochen und Kleiderfetzen war zu einem einzigen riesigen Knäuel zusammengewachsen und balgte um die Nahrung. Einige Verantwortliche versuchten vergebens, eine Ordnung herzustellen. Ich wandte mich ab, da ich den Anblick dieses Elends nicht lange ertrug. Zusammen mit einem Offizier und zwei zivilen Verantwortlichen suchte ich einen ungestörten Platz in einem zerstörten Haus, dessen vier Wände noch standen. Eine Stunde lang sprachen wir über den geplanten Konvoi und die Sicherheitslage. Danach hatte ich noch eine Stunde Zeit, um mit einigen Flüchtlingen zu reden. Diese hatten sich inzwischen auf eine einigermaßen gerechte Verteilung des Mais‘ geeinigt. Für jede Familie blieben nur einige Hände voll. Das reichte gerade für eine einzige bescheidene Mahlzeit. Sie waren seit ihrer Befreiung darauf angewiesen, die süßlichen Wurzeln eines Strauches zu kauen und auszulutschen. Auch wurden alle Insekten, derer sie habhaft werden konnten, in den Speiseplan aufgenommen. Etliche Frauen und Kinder waren zu todmüde, um überhaupt essen zu können. Apathisch lagen sie auf dem Boden und erwarteten ihren Tod. Mein Anblick entlockte einigen Kindern und Müttern ein Lächeln. Vielleicht bedeutete ich ihnen Hoffnung, dass das Leben weiter ginge. Aber selbst zum Sprechen waren die meisten zu müde, wohl auch von der Anstrengung, dem Helikopter hinterher gehetzt zu sein.

Wieder zurück in Maputo stellte ich dem Delegierten den Rettungsplan für die Flüchtlinge vor. Er war mit allem einverstanden. Was sollte er auch sagen? Und auf dem EU-Konto im Finanzministerium gab es genügend Geld, um die Aktion zu finanzieren. Er kabelte alles sogleich nach Brüssel.

Am nächsten Morgen in meinem Büro im Ministerium gab es eine dicke Überraschung. Der Minister eröffnete mir, dass der Delegierte ihn zu früher Stunde gebeten hätte, mich aus dem Ministerium zu entlassen und meinen Vertrag aufzukündigen. Der Delegierte sei fuchsteufelswild und bestünde auf meiner Verabschiedung. Außerdem würde er die Finanzierung der Aktion vonseiten der EU nicht zulassen.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war geschehen? Der junge Journalist hatte stolz und eifrig, selbstverständlich ohne mich zu fragen, auf der ersten Seite einen Artikel veröffentlich, der besagte, die EU würde mit Gegenwertmitteln die Rettungsaktion in Memba finanzieren. Das hätte der „representante“ der EU versichert. Dazu muss man wissen, dass im Portugiesischen jeder Angehörige einer Organisation als „representante“ bezeichnet wird. Ob die Funktion eine Cheffunktion oder eine nachgeordnete Funktion ist, ist gleich. Der Delegierte hatte jedoch den Bericht dahingehend interpretiert, ich wollte mir eine Funktion anmaßen, die er innehätte. Vielleicht wollte er auch ein eigenes Statement veröffentlichen, um offiziell die Rettungsaktion der EU anzukündigen. Ich weiß es nicht, aber er muss in seine Eitelkeit tief getroffen worden sein. Natürlich fand der Minister das Verhalten des Delegierten inakzeptabel und kündigte meinen Vertrag nicht. Im Gegenteil schrieb er nach Brüssel, dass ich sein vollstes Vertrauen besäße. Von da an sprach der Delegierte nicht mehr mit mir und ich nicht mehr mit ihm. So weit so gut. Aber die Rettungsaktion wurde abgeblasen. Erst nach weiteren drei Wochen fand die Regierung einen Weg, um den ersten Nahrungsmitteltransport nach Memba auf den Weg zu bringen. In der Zwischenzeit waren wohl mehr als hundert Frauen und Kinder in Memba vor Hunger gestorben. Mir gingen in dieser Zeit immer wieder die Bilder von deutschen Konzentrationslagern durch den Kopf. An was der Delegierte dachte, weiß ich nicht.

Ich traf den Delegierten zufällig elf Jahre später in der EU-Kommission wieder. Da war er inzwischen ein hohes Tier und zuständig für Lateinamerika. Ich war von Peru und Ecuador als Exekutivsekretär eines binationalen Plans zur Versöhnung beider Länder nach einem kriegerischen Grenzkonflikt berufen worden. Mit den Botschaftern dieser beiden Länder machte ich dem aufgestiegenen Ex-Delegierten die Aufwartung, um über einen eventuellen Friedensbeitrag der EU zu sprechen. Ich weiß nicht, ob meine Anwesenheit Gewissensbisse bei ihm hervorgerufen hat. Warum auch? Mächtige Behörden haben Indifferenz gegenüber menschlichem Leid zu wahren. Wo kämen hohe Funktionäre und vor allem Politiker hin, wenn sie sich mit den Elenden der Welt solidarisieren würden, um Auschwitz gestern, heute und morgen zu verhindern? Diese Frage ist für mich angesichts der vielen Auschwitze in der heutigen Welt zweitrangig. Mögen die Mächtigen dieser Welt Gedenktage feiern wie sie wollen. Es ist für sie eine lästige Pflichtübung von vermeintlicher Empathie-Bezeugung. Wäre diese echt, dann würden sie noch am selbigen Gedenktag aufstehen, um den Worten Taten folgen zu lassen. Nein, erstrangig ist die Frage:

Wann wird die Zivilgesellschaft mehrheitlich Auschwitze bekämpfen - wo und wann sie auftreten mögen? Tritt dieser Zeitpunkt ein, werden die Mächtigen dieser Welt zu Randfiguren.

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Foto: Wikimedia Commons, Bundesarchiv, KZ Auschwitz-Birkenau, Alte Frau und Kinder auf dem Weg in die Gas-Kammer

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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