Bürgerkandidat auf Liste der Piraten

Wahlkampf 2017 (7) Wie macht ein parteiloser „Bürgerkandidat“ Wahlkampf, der nach 50 Jahren in seine Heimat Weserbergland zurückkehrt? Kommt ein Schneeball ins Rollen?

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28.Mai 2017. Wunderschöner Maimorgen an der Weser bei Grossenwieden/Hess. Oldendorf. Im Garten des Ausflugslokals um mich herum lauter gut aufgelegte Fahrradtouristen. Eine kleine Gruppe an meinem Tisch hat eine 10-tägige Reise von Hannoversch Münden nach Cuxhaven auf dem Programm. Alle scheinen entspannt und einigermaßen sorglos zu sein, erfreuen sich an der Natur und ihrer Gesundheit, die selbst im Alter ab 50 noch Radtouren erlaubt, besonders, wenn man ein E-Bike sein eigen nennt.

Ich frage mich, ob die letzten IS-Attacken, die Drohnen-Attacken, die Bomben-Abwürfe, die Flüchtlingstoten im Mittelmeer und die Bürgerkriege in vielen Teilen der Welt diese deutsche „Insel der Seligen“ zu stören imstande sind. Wie gut doch auch, eine Kanzlerin am Staats-Steuer zu wissen, die gute Miene zum Trump- und Erdogan-Spiel zu machen weiß, und die nachsichtig einem Herausforderer Schulz beim Herumhampeln zusieht, sich eine rechte Wahlkampfstrategie zurechtzubiegen. Irgendwie muss dieser herausfinden, wie man dem unbedarften Bürger Honig ums Maul schmiert, potztausend! Warum geht denn der Schulz-Effekt nach hinten los und der Merkel-Effekt unbeirrt und wie eh und je weiter so nach vorn? Einfach zum Verzweifeln! Seit Schröder der altehrwürdigen SPD das Kuckucksei Agenda 2010 ins Nest gelegt hat, scheint sich die alte Partei-Dame vom Kanzleramt für immer verabschiedet zu haben.

Nun gut, man kann einfach nicht ewig versuchen, gleichzeitig auf den Stühlen von Arbeit und Kapital zu hocken. Da muss man sich wie die Union und FDP unzweideutig entscheiden: „Ich setze auf Kapital und damit basta!“ Schulz und seine Mannen hingegen werden einfach zwischen den Stühlen unsanft auf dem Hintern landen. Da hilft es auch nicht, dass jetzt alle Bundestagskandidaten der SPD nach Berlin zitiert werden, um Order für den Wahlkampf abzuholen. Hier im Wahlkreis stehen seit dem Frühjahr die Kandidaten der etablierten Parteien auf „stand by“ und warten darauf, welche Parolen ihre Oberen ihnen schließlich zum Wahlkampf eintrichtern. Ich frage mich, ob sie denn keine eigenen Programmpunkte haben; auch, ob denn der Bürger von solchen Partei-Marionetten nicht längst angewidert ist?

Die Fahrradtour meiner Tischnachbarn will ich ihnen nicht „versauen“. Sie finden das Weserbergland wunderschön, haben aber auch die Schließung verschiedener öffentlicher und privater Infrastrukturen einschließlich dem ungelösten Erbe des KKW Grohnde bemerkt. Aber sie meinen, dass es doch gar nicht schlecht sei, neben Ballungsgebieten „leere“ Regionen zu haben, wo sich die gestressten Ballungsgebiets-Menschen erholen könnten. Ich entgegnete ihnen, gerade diese „Leere“ und die damit verbundene Perspektivlosigkeit der nachkommenden Generationen in einer liebenswerten Heimat Zukunft leben zu können, hätte mich u.a. veranlasst, nach Deutschland zurückzukommen. Als ich ihnen dann versuchte, ihr angenehmes Leben mit Radtour, E-Bike und Sonstigem mit der Armut, Bürgerkriegen und Flucht in anderen Regionen der Welt, die ja erst den deutschen Lebensstandard möglich machen, in Verbindung zu bringen, da begann dann unsere Unterhaltung weniger munter daher zu plätschern, und ich verabschiedete mich rasch. Wer will schon, wie eingangs betont, anderen Menschen eine Fahrradtour im Mai vermiesen?

Jetzt zur Eingangsfrage: Kommt ein Schneeball ins Rollen? Anders gesagt: Hat der Schneeball einer humanistischen Bürger-Alternative eine Chance, zur Lawine gegen Parteien-Establishment und xenophober AfD zu werden? Antwort: Das wird wohl eine Illusion bleiben, wenn man das realistisch betrachtet. Trotz allem: Was getan werden muss, wird getan. Die im Grundgesetz vorgesehene Volkssouveränität und damit auch die Möglichkeit eines unabhängigen Bürgers, sich aktiv in die Politik einzumischen, muss uneingeschränkt gelten. Ist das nicht der Fall, dann ist etwas faul an dieser Demokratie, und das werde ich mit meiner Kandidatur austesten.

Wie in Wahlkampf 2017 (6) erläutert, habe ich mich mit den PIRATEN zusammen getan, um auf ihrer Landesliste als parteiloser Direktkandidat zu kandidieren. Nach einem Monat aktiver Unterschriften-Sammlung, um die notwendigen 200 Unterstützer-Unterschriften für meine Kandidatur zusammen zu bekommen (bisher habe ich etwas mehr als 100 Unterschriften), kann ich die größten Hindernisse meiner Kandidatur im Gegensatz zur Kandidatur eines langjährigen Parteimitgliedes einer etablierten Partei wie folgt beschreiben:

1. Das Fehlen einer im Wahlkreis verankerten Unterstützer-Gruppe (worauf Kandidaten von Bundestagsparteien im Übermaß bauen können). Wahlkampf und Werbung für Bürgerrechte und Bürgerteilhabe am politischen Geschehen kann nicht von einer/einem Einzelnen geleistet werden. Es bedarf eines Bürger-Komitees, das ich leider nach Jahrzehnten Abwesenheit aus meiner alten Heimat in zwei Monaten nicht auf die Beine stellen konnte. Von meinen wenigen Bekannten in der Region gab es keine Bereitschaft, sich auf ein solches Unterfangen einzulassen, obgleich das allgemein geteilte Ohnmachtsgefühl gegenüber der Obrigkeit und den Bundestags-Parteien Motivation genug sein sollte. Wie beschrieben, konnte ich dieses Hindernis durch die Unterstützung der PIRATEN überspringen.

Zusatz: Meine Hausbesuche in der letzten Woche vor Pfingsten haben jetzt erste Kontakte mit engagierten Menschen erbracht, die aktiv für mich werben wollen. Das Interessante daran: Es sind beruflich unabhängige Personen, die auf politische und betriebliche Seilschaften keine Rücksichten zu nehmen brauchen.

2. Die Beseitigung des Fehlens eines Bekanntheitsgrades hatte ich mir durch die vorzeitige Kontaktaufnahme (Ende 2016) mit der lokalen Presse vorgestellt. Ich schickte mein Programm an verschiedene Journalisten, die jedoch allesamt mit Schweigen bis zum heutigen Tage antworteten. Lediglich eine Presseerklärung der PIRATEN wurde Anfang Mai gedruckt. Meine Antwort auf das Schweigen der Presse bestand u.a. in der Nutzung einer eigenen Website (hermann-gebauer.de) und von facebook, wo ich inzwischen in einigen „Gruppen“ im Wahlkreis unterwegs bin. Jedoch gibt es auch dort „Aufpasser“ von anderen Parteien, die von den Administratoren die Löschung meiner Kommentare verlangen. Im Gegensatz dazu finden die etablierten Parteien jederzeit ein offenes Ohr bei den lokalen Medien, die über deren Kandidaten berichten. Auch hier wird überdeutlich, wie eng der Filz zwischen Bundestagsparteien und Medien gestrickt ist. Unabhängige politische Initiativen aus der Bürgerschaft heraus werden totgeschwiegen.

Zusatz: In dieser Woche wurde zu einem ersten Kandidaten-Interview vom lokalen Radio eingeladen. Selbstverständlich wurden alle Direkt-Kandidaten der BT-Parteien, AfD nicht, eingeladen. Ich existierte offensichtlich auch nicht als einzuladender Direktkandidat. Nach meinem Protest wurde die Einladung auf mich erweitert. Langsam tut sich was und meine Kandidatur sickert durch.

3. Unterstützer-Unterschriften-Sammeln auf öffentlichen Plätzen und bei Hausbesuchen. Das direkte Ansprechen von potentiellen Wählerinnen und Wählern auf Märkten und Plätzen ist äußerst mühsam und quälend. Die BT-Parteien brauchen ihre Kandidaten nicht zum Unterschriften-Sammeln auf die Straße zu schicken. Was mich angeht, so muss ich fast wie ein „Waschmittel-Verkäufer“ vorgehen, der auf eine neue Marke aufmerksam machen will. Oft frage ich mich, was denn die Vorübergehenden über mich älteren Herrn denken, der doch längst seine Rente genießen sollte. Aber es kommen auch andere meines Alters des Weges, die nach Plastik- und Glasflaschen suchen, um sich ein Zubrot zur kärglichen Rente dazu zu verdienen. Die politischen Gespräche, die sich beim Einkaufen ergeben, sind eher flüchtig. Viel kommt auf spontane Sympathie und „Chemie“ drauf an, ob eine Unterschrift gegeben wird oder nicht.

Anders sieht es bei den Hausbesuchen aus, vor allem, wenn sie in Wohnvierteln mit Einfamilienhäusern stattfinden. Da sind die Kontakte wesentlich intensiver und entsprechend die Diskussionen. Es gibt im Prinzip drei Reaktionen der Menschen auf mein Erscheinen: Zuerst großes Erstaunen mich zu erblicken. „Was mag dieser einigermaßen betagte Herr nur wollen?“ Nach meiner Vorstellung und dem Vortrag meines Anliegens gibt es entweder ein schroffes und unfreundliches „Nein, ich will damit nichts zu tun haben!“ (etwa 20%, ich schätze darunter etliche AfD-Wähler). Oder eine weniger unfreundliche, doch entschiedene Entgegnung, man sei politisch anders orientiert (etwa 30%, wohl Mitglieder oder überzeugte Wähler von BT-Parteien). Und schließlich gibt es doch eine große Gruppe (50%) von Interessierten, die schon meine Eltern kannten und/oder die aus den beiden folgenden gesellschaftlichen Gruppen stammen: Einmal aus dem Niedriglohnsektor (Niedrig-RentnerInnen bzw. alleinerziehende Mütter) und dann Selbständige, die in keiner Lohnabhängigkeit begriffen sind und bei guten Gesprächen Bereitschaft zu Zivilcourage zeigen und etwas anpacken wollen unter der Bedingung, dass genügend Menschen zusammen kommen. Besonders mit dieser letzten Gruppe werde ich Bürgerversammlungen beginnen, in denen es um konkrete Aktivitäten gehen wird. Diese Gruppe ist resistent gegenüber den etablierten Parteien und der AfD, und sie ist bereit, für ihre Kinder und Enkelkinder etwas zu wagen. Meine Latte von Vorschlägen, die ich ihnen fotokopiert überreiche, wird dabei eine erste Orientierung sein. Vor allem der Ausstieg aus der Ohnmachtssituation gegenüber BT-Parteien und Staat sowie das Erkämpfen von Bürgermacht ist ihre hauptsächliche Motivation. Ich bin gespannt, wie lange diese Motivation anhält, wenn es dann ans Eigemachte geht und wir gemeinsam von einer humanistischen Entwicklungs-Vision zu konkret zu erarbeitenden Zielen kommen.

Dieses Unterschriften-Sammeln haben die BT-Parteien-Direktkandidaten wie gesagt nicht nötig. Um Kandidat zu werden, müssen sie sich jahrelang als loyaler Parteisoldat erweisen und Koffer tragen. Da hilft ein früher Eintritt in eine Jugendorganisation der Partei. Auch das Stipendium einer parteinahen Stiftung ist förderlich für die Partei-Karriere. Derzeit werden meine Konkurrenten von den BT-Parteien von ihren Partei-Grosskopferten auf die Parteiprogramme eingeschworen, damit sie wissen, was sie später dem Bürger erzählen sollen. Ich bin ja schon einmal gespannt, wie unsere direkten Auseinandersetzungen vor den Medien und dem Publikum ausgehen werden.

Ein letztes Wort zu den Hausbesuchen: Ich gebe zu, dass es mich jedes Mal eine gewisse Überwindung kostet, an der Haustüre zu klingeln und um eine Unterschrift zu bitten. Wenn dann aber ein freundliches Wesen mir gegenüber tritt, mich manchmal auch einlädt, in die gute Stube zu kommen und sich daraus eine interessante Diskussion ergibt, dann ist schon der halbe Tag gelaufen und die anschließenden Hausbesuche gehen umso flotter von der Hand. Schlimm ist nur ein erster Besuch bei kaum geöffneter Tür mit einem misstrauischen, störrischen und unausstehlichen Menschen. Das kann mir den ganzen Tag vergraulen.

4. Das größte Handicap meiner Kandidatur sind meine begrenzten finanziellen Mittel. Ich verfüge über etwa 900 Euro im Monat. Davon muss eine monatliche Zimmermiete bestritten und das täglich Brot gekauft werden. Dann und wann gibt es auch einen kleinen Luxus in Form eines Cappuccinos. Die täglichen Bus-Fahrtkosten und die Schwarz-Weiß-Kopien meines Wahlprogramms dürfen auch keine übermäßigen Löcher ins Budget reißen. Aber ich will mich nicht beklagen. Der beinahe tägliche Sport auf der Yoga-Matte und das Jogging sowie die Naturheilmittel aus Amazonas und Hochanden halten mich körperlich fit. Und weil ich keinen eigenen Wagen noch Fahrrad besitze, hilft auch das Zufußgehen, um die Glieder frisch zu halten.

An die finanziellen Annehmlichkeiten eines BT-Kandidaten mit reichlich steuerfinanzierter Hängematte mag ich gar nicht denken. Trotzdem möchte ich mit diesen Menschen nicht tauschen. Meine geistige Unabhängigkeit und die Möglichkeit, den Wählerinnen und Wählern direkt in die „Seele“ zu schauen und einige von ihnen mit auf eine unbekannte Bürger-Emanzipations-Reise mitzunehmen, entschädigt mich bei weitem für finanzielle Einschränkungen. Ich habe von Beginn an diese beschwerliche, doch interessante Wahlkampfreise bewusst auf mich genommen und bereue sie in keiner Weise. In zwei Wochen hoffe ich die 200 Unterschriften zusammen zu haben. Dann bleiben drei Monate bis zum Wahltermin. Sie werden sicher die spannendsten Wahlkampf-Monate werden und darüber entscheiden, ob wenigstens ein kleiner Schnellball von Bürger-Emanzipation und Bürger-Macht das Wesertal hinunter rollt und der Parteien-Macht Paroli bietet.

LG zum Pfingstfest und bis zum nächsten Eintrag, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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