Das "Merkel-Syndrom" (Angst und Stillstand)

DE ohne Geschichte? Geschichtsbewusstsein: Es scheint, als hätte sich Deutschland seit der Wiedervereinigung aus der Geschichte verabschiedet. Das "Merkel-Syndrom" liegt bleiernd über DE

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Foto: Wikimedia Commons, Gemälde von William Blake, Nebukadnezar II, Herrscher von Babylon, den Gott zur Strafe wegen Prahlerei und Überheblichkeit für sieben Jahre in ein Tier verwandelte (wie in der Bibel bekundet).

Ist dieser Herrscher heute Sinnbild für Deutschland und seinem menschenverachtenden, ausschliesslich sich selbst genügendem Treiben in Europa und der Welt? Mutierte das Wesen der deutschen Gesellschaft aus Strafe zum Tier, das nur noch seiner Fressgier frönt? Hat Deutschland Vernunft und selbstgestaltete, in die Zukunft gerichtete Geschichte verloren? Bestimmt das "Merkel-Syndrom" gegenwärtig die deutsche Sozialpsychologie und damit den Niedergang des Landes und Europas? Ist entschlossener und sofortiger Widerstand dagegen nicht das Gebot der Stunde? Aber wer könnte das historische Subjekt des Widerstandes sein?

Selbstverständlich beantworte ich eingangs die Frage nach der Notwendigkeit des unbedingten Widerstandes mit einem klaren Ja.

Bezüglich der insgesamt gestellten Fragen erwarte man von mir an dieser Stelle jedoch keine wissenschaftliche Abhandlung, die ich Anderen überlasse, dafür aber eine nüchterne bis polemische Betrachtung des derzeitigen Zustandes der Republik.

Zuerst einmal zum "Merkel-Syndrom".

Ist eine solche Personifizierung des deutschen „Krankheitsbildes“ gerechtfertigt? Meines Erachtens, ja. Der Lauf der Geschichte wird selbst heute noch vorwiegend durch Persönlichkeiten gekennzeichnet. Leider bestimmen bis in die Gegenwart die Zivilgesellschaften der Welt ihre gesellschaftlichen Geschicke und damit ihr historisches Schicksal nur in unzureichendem Masse. In Deutschland geschieht Geschichtsschreibung nach wie vor zurecht durch Personifizierung mit der derzeitigen Kanzlerin, die nicht nur unangefochten Wahlen gewinnt, sondern auch als Person das sich hinter ihr versteckende Kapital vertritt und sinnbildlich den Zustand der deutschen Republik treffend verkörpert: Angst vor der Zukunft und fremden Mächten, gesellschaftlicher Stillstand im Innern der Republik und Wahrung der Interessen der politischen und wirtschaftlichen Oligarchie im Lande zuungunsten der Mehrheit der deutschen, europäischen und außereuropäischen Zivilgesellschaften.

Was heißt Geschichtsbewusstsein?

Der natürliche Wunsch, die Voraussetzungen einer lebenswerten Zukunft für die eigenen Kinder und Enkelkinder zu schaffen und das eigene Handeln danach auszurichten, zeugt von Geschichtsbewusstsein. Das historische Subjekt zieht bei der Gestaltung der Gegenwart die Lehren aus der Vergangenheit und versucht, so gut es geht, durch zukunftgerichtetes Handeln die Geschichte der Nachkommen zu antizipieren. Eine reine Beschränkung auf die Sorge um das eigene Leben bedeutet ahistorisches Handeln.

Anders ausgedrückt: Die von Natur nicht nur mit Körper sondern gleichzeitig mit Vernunft, Geist und Seele ausgestatteten Menschen haben seit Urzeiten Lebensziele und Lebenssehnsüchte, die weit über den erfolgreichen Kampf des biologischen Überlebens hinausgehen: Es geht um das stetige Anwachsen von Freiheit gegenüber materieller Not, Freiheit gegenüber Herrschaftsstrukturen, Frieden zwischen Menschen (Solidarität, Nächstenliebe und Liebe) und zwischen Mensch und Natur sowie die Vorsorge um die Zukunft kommender Generationen.

[Hierzu ein kurzer Einschub mit zwei Zitaten von Hegel und Marx, ohne darüber hinaus die geschichtsphilosophischen Erkenntnisse von geschätzten Gelehrten wie Kant und Fichte zu vergessen:

Hegel: Die Weltgeschichte ist ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte)

Marx: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern. (These über Feuerbach)]

Diese genuinen Ziele und Sehnsüchte (Sinnerfüllung des Lebens) des Einzelmenschen wie des Menschen-Kollektivs werden jedoch durch die Natur des Menschen (human condition, condición humana) immer wieder konterkariert. Trotz innewohnender Vernunft handeln Menschen in sich widersprüchlich. Auf Menschheitsepochen mit gesellschaftlichem Fortschritt folgen solche mit gesellschaftlichen Rückschlägen und vice versa. Trotz dieser zyklischen Entwicklung des Auf und Ab von gesellschaftlichem Fortschritt und Rückschritt ist die Menschheitsgeschichte seit ihrer Urgeschichte in einem langfristigen Prozess einer größeren Sinnverwirklichung für die Gattung Mensch begriffen. Wann dieser Prozess dem Ende zugeht und ob es überhaupt ein Ende geben wird, steht in den Sternen geschrieben. Doch ist festzuhalten, dass jede Generation wieder neu vor der historischen Verantwortung steht, den originären Zielen und Sehnsüchten Rechnung zu tragen.

Wie sieht es derzeit mit dem Geschichtsbewusstsein in Deutschland aus?

Legt mann/frau dem gesellschaftlichen Zustand der Republik zu Beginn des Dritten Jahrtausends den oben definierten Begriff des Geschichtsbewusstseins als Bewertungsmaßstab zugrunde, dann kann mann/frau nur das nackte Zähneklappern überfallen. Ich möchte behaupten, dass allerorten das Merkel-Syndrom grassiert und das Land bis in seine letzten Fasern wortwörtlich paralysiert und gesellschaftlichen Fortschritt an der Wurzel beschneidet.

Wie können wir das Merkel-Syndrom, das heutige deutsche Krankheitsbild, charakterisieren? Ich möchte das mit zwei Begriffen auf den Punkt bringen: Angst und Stillstand.

Zuerst zur Angst:

Der deutsche Einzelmensch hat sich nach zwei Weltkriegen zum egoistischen Subjekt erster Ordnung entwickelt, der sich eigensüchtig primär materieller Angst und Kriegsangst unterworfen fühlt. Das lässt ihn nur unruhig schlafen aus der Sorge heraus um Arbeit, Einkommen, Rente und womöglich Krieg, der in weiter Ferne zu sein schien. Diese primäre, materiell ausgerichtete Zielsetzung des deutschen Menschen zu Beginn des 21. Jahrhundert verschiebt andere Ziele und Sehnsüchte wie erweiterte, selbstbestimmte Freiheit und Solidarität zwischen Menschen, Generationen und Natur in den Hintergrund.

Das deutsche Kollektiv, mit der politischen und wirtschaftlichen Oligarchie an der Spitze, hat sich selbst jegliches proaktives historisches Handeln seit Ende des Zweiten Weltkrieges verboten. Die Erfahrung von zerstörerischem, menschenverachtenden deutschem Handeln in der Weltgeschichte mit der Folge zweier grausamer Kriege steckte und steckt dem deutschen Kollektiv bis heute in den Knochen. Das hatte und hat zur Folge, dass kein proaktiver historischer Schritt (mit wenigen Ausnahmen: W. Brandts Ostpolitik und die Europapolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jh.) von Deutschland ausging, aus Angst, wieder etwas falsch zu machen und den jetzt angeblich demokratischen Wohlfahrtsstaat infrage zu stellen. Dabei sind selbst positive Schritte (Einführung der verfassten westdeutschen Demokratie mit den Menschenrechten als Grundlage gesellschaftlicher Ordnung und die spätere Wiedervereinigung) nur möglich geworden nicht durch eigene Anstrengung, sondern durch das Dahingeschubse durch einmal westliche Siegermächte und andererseits durch Gorbatschows mutigen Schritt hin zur Auflösung des diktatorischen Sowjetsystems.

Nun zum Stillstand:

Das Pendant zur Angst ist der konservative Stillstand (in CDU/CSU-Worten: Keine Experimente, alternativloses Weiterso).

Sitzt der/die Einzel-Deutsche einmal fett im Wohlstand, ist er/sie zu anderen Taten, die nicht seinem Wohl- und Besitzstand dienen, nicht mehr vom Hocker zu kriegen. Da lässt er sich auch ohne Murren zum Untertanen degradieren und schluckt seine Entfremdung durch kapitalistische Arbeitsverhältnisse. Es ist, als ob er/sie sich durch die Fehler und Mühsal der vorangegangenen Generationen die jetzige Sattheit und Selbstzufriedenheit redlich verdient hätte, sozusagen als gerechte Kompensation für die Sünden der Väter/Mütter. Die Geschichte hat ihr Ende gefunden in einem nie vorher dagewesenen Konsumrausch, selbst wenn das nur für eine knappe Mehrheit zutrifft. Was schert mich das Schicksal meiner Kinder? Was schert mich das Schicksal der Natur? Was schert mich das Schicksal der Flüchtlinge, Asylanten, der Heimatlosen und Ausgestoßenen dieser Welt? Nichts wie hinein in die glitzernden Tempel des Konsums! Raffen, gieren, immer wieder auf ein Neues. Bildlich gesprochen ist es so, als ob der/die Deutsche blind auf einer wunderschönen, blütenübersäten Wiese und einen Schritt vor dem tödlichen Abgrund der süßen Merkel-Melodie lauschte, die der laue Wind aus Berlin zu jeder Jahreszeit herbeiweht: „Vertrau‘ dem Staat! Er wird Dein Leben richten.“

Dem Kollektiv-Deutschen mit seinen Partei- und Kapital-Grosskopferten an der Deichsel des deutschen Gespanns ist die Natur des Einzel-Deutschen auf dem Wagen wohl bekannt. Um Bundestags-Parteiendiktatur, Produktionsverhältnisse und Untertanen-Gesellschaft von Gründung der Republik an zu zementieren, hat der Kollektiv-Deutsche eine in der Welt einmalige Wunderformel entwickelt: Die Soziale Marktwirtschaft, die in Wahrheit nicht unsozialer sein könnte. Aber sie wird als bunter, scheinbar unplatzbarer Luftballon wie eine Standarte dem Volk vorangetragen, bis auch dieses mehrheitlich die Soziale Markwirtschaft, auf Knien flehend, anbetet, selbst dann noch, wenn die Zahl der Aufderstreckegebliebenen in die Abermillionen geht.

Um Himmels willen darf der Luftballon Soziale Marktwirtschaft nicht platzen und das Merkel-Syndrom nicht kuriert werden, das da heißt:

Der deutsche Mensch und das deutsche Volk, mit der Kanzlerin an der Spitze, wehrt sich erfolgreich gegen den Lauf der Geschichte: Hin zu größerer Freiheit des Einzelnen und Volkssouveränität, hin zu Solidarität und Nächstenliebe unter den Menschen, hin zu universalen Menschenrechten und Frieden mit der Natur, hin zu einer allseits anerkannten Ethik des menschlichen Zusammenlebens. Die deutsche Lebens-Losung heißt stattdessen: Angst und Stillstand halten das Volk zusammen, damit Verwertung des Kapitals und Herrschaft der politischen und wirtschaftlichen Oligarchie, zumindest für diese Generation, gesichert werden: „Nach uns die Sintflut, so wahr uns Gott helfe.“

Wie könnte das ahistorische Nachkriegsdeutschland wieder zu einem historischen Subjekt werden?

Der Einzel-Deutsche wie der Kollektiv-Deutsche müsste das Merkel-Syndrom der Angst und des Stillstandes überwinden, ohne die Sünden/Fehler der Vorfahren zu wiederholen. Von Deutschland könnte endlich einmal „positive“ zukunftsgerichtete Geschichte gemacht werden. Und die Vorlagen dazu liegen offen auf der Hand; sie sind größtenteils Ziele und Sehnsüchte, die sinngemäß so auch die anderen Völker dieser Erde betreffen:

- Freiheit: a) Freiheit von materieller Not für alle Menschen (soziale Freiheit besonders für ausgegrenzte Gruppen) bspw. in Form eines ausreichenden Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). b) politische Freiheit / Volkssouveränität mit Brechung der BT-Parteiendiktatur und strikter Staatskontrolle durch die Zivilgesellschaft. c) wirtschaftliche Freiheit durch Entscheidungsgewalt aller Produzenten im gesellschaftlichen Wirtschaftskreislauf (Einführung der Solidarwirtschaft zu Beginn da, wo der Kapitalismus seiner Wohlfahrtsfunktion nicht mehr nachkommt. Später wird man weiter sehen, wie der Kapitalismus Stück für Stück zurückgefahren werden kann bei voller Einbeziehung von Produzenten und Konsumenten in den wirtschaftlichen Entscheidungsprozess.)

- Solidarität, Nächstenliebe: a) Pädagogik und Förderung von Solidarität und Nächstenliebe im Elternhaus, Schule, Ausbildung und Nachbarschaften und im multikulturellen Zusammenleben. Pädagogik und Förderung europäischer und Weltbürger-Identität.

- Frieden: a) Unbedingte Unterstützung der UN als einzig legitimierte Institution internationalen Rechts und Friedensdurchsetzung (schon von Kant und anderen Aufklärern gefordert) b) Förderung der Reform institutioneller Entscheidungsfindung innerhalb der UN. c) Übertragung des Entscheidungsmonopols über Einsatz eines drastisch verkleinerten, effizienten deutschen Militärs an eine reformierte UN. d) Aufbau von internationalen Friedensuniversitäten und Ausbildungsstätten überall in der Welt (besonders in schwarzafrikanischen Staaten, um die innere Entwicklung dieser Staaten und den Weltbürger- und Friedensgedanken zu fördern und so zukünftige Flüchtlingsproblematik zu mindern) e) Komplette Neuordnung der deutschen Entwicklungshilfe unter dem Motto: Frieden schaffen und Bedarfsförderung der „Verdammten dieser Erde“ sowie sofortiger Stopp aller Programme, die lediglich der weiteren Ausbeutung der Peripherie durch Deutschland dienen (Revision der Zuschüsse zu Weltbank, Währungsfonds und EU sowie radikale Reform dieser multilateralen Institutionen). Insbesondere sofortiger Stopp der staatlichen Zuschüsse für die Brutstätten der BT-Parteien, die parteinahen Stiftungen und deren Aktivitäten der Aussaat des deutschen gesellschaftlichen Modells in der Peripherie. f) Sofortige Verhandlungen zu einem Friedens- und Freundschaftsvertrag mit Russland, analog zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. g) Sofortige Verhandlungen über einen europäischen Lastenausgleich, analog zu dem, wie er zwischen deutschen Ländern besteht, mit dem Ziel des Ausgleichs innereuropäischer Ungleichgewichte.

Zum Abschluss eine letzte Frage: Wer ist das historische Subjekt in Deutschland, um das Merkel-Syndrom so bald wie möglich im nächsten Mülleimer zu verstauen?

Die Klassendifferenzierung früherer Tage ist in der heutigen Republik einer Differenzierung in obere und mittlere Bevölkerungsschichten (die einkommensmässig ein über den notwendigen Lebensbedarf weit hinausgehendes materielles Lebensniveau besitzen) sowie von Randgruppen deutscher und ausländischer Herkunft (einkommensmässig der Gruppe der Armen zugerechnet) gewichen. Ich sehe im Zusammenschluss dieser Randgruppen mit der Jugend im Lande ein Potential für ein zukünftiges historisches/revolutionäres Subjekt. Eine geeignete Pädagogik sollte entwickelt werden, um das Geschichtsbewusstsein dieser Bevölkerungsteile zu fördern. In diesem Kontext könnte u. a. ein kapitalunabhängiger, kostenloser Bürger-Journalismus eine wichtige Rolle spielen.

LG aus Panamá!

Geben wir Nebukadnezar und dem Merkel-Syndrom keine Chance, die Geschichte aufzuhalten!

CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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