Die kranke deutsche Demokratie

Polit-Krimi 1. Folge BT-Wahlkampf 2017, Fiktion über die Entstehung einer Bürger-Emanzipations-Bewegung im Weserbergland gegen den herrschenden deutschen Parteienstaat

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Foto: Wikimedia Commons, AKW Grohnde, das negative Wahrzeichen des schoenen Weserberglandes, meiner Heimatregion

Liebe Community,

im letzten Jahr hatte ich als Parteiloser am BT-Wahlkampf teilgenommen und in verschiedenen Beitraegen hier ueber meine Erfahrungen unter: "Wahlkampf 2017" berichtet. Vor zwei Monaten veroeffentlichte ich das Buch "Die kranke deutsche Demokratie" (https://www.epubli.de/suche?q=Die+kranke+deutsche+Demokratie ), die diese Erfahrungen mit einem Polit-Krimi, einer Fiktion, die auch als Utopie verstanden werden kann, verbindet. In der Fiktion wird eine Buerger-Bewegung wahr, die ich in meinem Wahlkampf anstrebte, die aber nicht zustande kam, wie hier bereits beschrieben. Da diese Fiktion einer Buerger-Bewegung, die fuer politische Freiheit und direkte Demokratie kaempft, angesichts der Sahra-Sammelbewegung "Aufstehen" aktuelle Bedeutung bekommt, werde ich sie hier in Folgen einstellen. Die Bewegung wird durch zwei junge Frauen, die Journalistin Jasmin und die parteilose Direktkandidatin Regina initiiert und fuehrt schliesslich zur Direktwahl der parteilosen Kanditatin. Jedoch schlaegt das herrschende Establishment zurueck, um seinen drohenden Machtverlust zu verhindern. Jasmin wird Opfer eines politischen Mordes.

Ich wuensche vergnuegliche Lektuere der 1. Folge

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Vorwort

Erfahrungsbericht über meinen Wahlkampf als Parteiloser bei der Bundestagswahl 2017 und Polit-Krimi vermischt mit Polit-Satire, wie geht das zusammen? Die Vermischung von Realität und Fiktion bezweckt eine tiefere Charakterisierung der wie ich meine kranken deutschen Demokratie. Ob das gelingt, möge der Leser entscheiden.

Dieses Buch ist aus der Sicht eines ‚Auslandsdeutschen‘ geschrieben, der mit Leib und Seele vierzig Jahre in Ländern der Peripherie für politische Freiheit, Frieden und Bekämpfung von Armut eingetreten ist und im Rentenalter mit der Außensicht auf Deutschland zurückkam, um am eigenen Leibe zu erfahren, wie der Stand der demokratischen Dinge im Heimatland beschaffen ist. Außerdem hatte ich die Absicht auszutesten, ob und wie eine Bürger-Emanzipations-Bewegung unter den heutigen Bedingungen des deutschen Parteienstaates angestoßen werden könnte? Was wären die Voraussetzungen dafür?

Diese Gründe für meine Rückkehr nach Deutschland wurden durch zwei konkrete Anlässe befeuert. Erstens: Die verheerende diktatorische Entscheidung der Kanzlerin im September 2015, die deutschen Grenzen für mehr als eine Million Flüchtlinge aufzumachen, ohne einen vorherigen innerdeutschen und europäischen Konsens dafür anzustreben. Die Konsequenzen der saloppen Entscheidung „Wir schaffen das“ mussten zwangsläufig gesellschaftliche Verwerfungen in Deutschland und Spannungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft hervorrufen. Zweitens: Meine jährlichen Besuche in der alten Heimat Weserbergland wirkten zunehmend niederschmetternd auf mich. Die Jugend findet immer weniger ausreichende Lebens- und Arbeitsperspektiven in der Region und wandert deshalb in attraktive Ballungsgebiete ab. Auch verkommt die Infrastruktur zunehmend mangels fehlender öffentlicher Zuschüsse. Wirtschaft und Politik gemeinsam versagen und haben keine Vision von einer langfristigen nachhaltigen Entwicklung einer der attraktivsten Flusslandschaften in Deutschland.

Der Entschluss, einen Erfahrungsbericht über meine Wahlkampagne als Parteiloser zur Bundestagswahl 2017 anzufertigen, stand schon zu Beginn meiner Kandidatur fest. Ich war gespannt darauf, inwieweit ich als Normalbürger, der kein Politiker ist und auch nicht sein will, das passive Wahlrecht in einem fairen demokratischen Wettbewerb im Deutschland des Jahres 2017 ausüben könnte. Die Frage ist: Kann sich ein parteiunabhängiger Bürger als Abgeordneter im Auftrag seiner Wählerinnen und Wähler in die Politik einmischen und Kontrollfunktion im Parlament ausüben, wie es das Grundgesetz vorsieht? Das Wesen des deutschen Parteienstaates beurteilte ich besonders seit der Rot-Grünen-Koalition Schröder/Fischer als zunehmend bürgerfern und darauf bedacht, ja keine Volkssouveränität mit der Möglichkeit von Volksentscheiden auf nationaler Ebene, wie im Grundgesetz vorgesehen, aufkommen zu lassen. Die Rot-Grüne-Koalition bedeutete für mich so etwas wie die endgültige Niederlage einer einst stolzen zivilgesellschaftlichen Bewegung (Außerparlamentarische Opposition – APO – der 60er und 70er Jahre des 20ten-Jahrhunderts) und ihre Gefangennahme in die Niederungen eines sich selbst genügenden, eigennützigen Parteienstaates, der dem Verfassungsversprechen von Volkssouveränität und politischer Freiheit den endgültigen Laufpass verpasst hatte. Die politisch Verantwortlichen dieser Rot-Grünen-Koalition waren einst innerhalb der 68er-Bewegung angetreten für eine Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens und für Bürger-Emanzipation. Einmal an der politischen Macht wurden sie zu Totengräbern dieser Ideale. Ist ein solcher Verrat von politischen Idealen zwangsläufig, wenn politische Bewegungen zu Parteien an der Macht mutieren?

Mein Engagement in Ländern der Peripherie, in Afrika, Lateinamerika und Balkan begann ich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des letzten Jahrhundert. Damals war der demokratische Aufbruch als Folge der 68er Studentenrevolte noch in weiten Teilen der Gesellschaft spürbar. Die einflussreiche APO setzte sich als zivilgesellschaftliche Bewegung aus unterschiedlichsten ideologischen Strömungen zusammen, die insgesamt einen starken Einfluss auf Parteien und den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess ausübten. Es waren nicht nur die mächtigen Unternehmerverbände, die sogenannte ‚Deutschland AG‘, und die Gewerkschaften, die entscheidenden Einfluss auf Parteien ausübten und damit die Ausrichtung der deutschen Politik bestimmten. Noch gab es zivilgesellschaftliche Luft zum freien Atmen, obwohl schon damals die materielle Abstrafung für unkonventionelles Bürger-Verhalten jenseits des wirtschaftlichen und politischen Mainstreams allgegenwärtig im Raume stand, und die Jugend zu Beginn ihrer Erwerbstätigkeit zu rigoroser Anpassung an die Erfordernisse des deutschen Kapitals aufgefordert wurde. Der unter Willy Brandt eingeführte Radikalenerlass und die sich abzeichnende GRÜNE-Parteigründung ließen für die politische Freiheit des Bürgers nichts Gutes ahnen.

Dieses zur Vorgeschichte der Berichterstattung über den Verlauf meines Wahlkampfes. Warum nun die Verquickung der Realitätsbeschreibung mit einer Fiktion in Form eines Polit-Krimis vermischt mit Polit-Satire? Einerseits soll die relativ trockene Wahlkampfbeschreibung durch die Verbindung mit dem Polit-Krimi und Satire interessanter werden. Zum anderen wird Krimi und Satire die Suche nach der gesellschaftlichen Wahrheit in den Mittelpunkt stellen, die sich hinter den äußeren Fassaden der Gesellschaft versteckt.

Auf die Suche nach der Wahrheit der deutschen Demokratie begibt sich die junge Journalistin Jasmin M. Sie wird diese Suche teuer bezahlen. Drei Weisheiten hatten ihr Leben bisher begleitet: „Schwimm‘ stets an der Meeresoberfläche! Tauchst du in die Tiefe, gerätst du leicht in das Revier der Haie.“ Diesen Rat hatte ihr Vater ihr seit Kindesbeinen mitgegeben. Ihre Mutter hatte einen anderen parat: „Lass in Beziehungen mit anderen Menschen niemals dein Herz über den Verstand obsiegen!“ Der Großvater väterlicherseits, den Jasmin über alles geliebt hatte, gab ihr folgenden Spruch mit auf den Lebensweg: „Es ist wahrhaftiger, nach deinen Prinzipien zu leben als den Weg der tumben Masse zu teilen.“

In der Folge werden die Kapitel der Wahlkampfberichterstattung mit einem (R), Abkürzung für Realität, gekennzeichnet und die Kapitel des Politkrimis und Satire mit einem (F), Abkürzung für Fiktion. Jedes R-Kapitel wird mit einem anschließenden F-Kapitel verknüpft.

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Tod in Grossenwieden

Der gewaltsame Tod von Jasmin M. war in den ersten Wochen nach der Wahl das beherrschende Thema im Weserbergland und nicht nur dort. War es politischer Mord oder Totschlag? Welche Motive gab es, eine junge, begabte Journalistin auf bestialische Weise zu ermorden? Spielten persönliche Beziehungen, professioneller Neid, Machtkämpfe in der Welt der Medien, der Politik und Wirtschaft oder auch die seit Herbst 2015 auf Deutschland überschwappende Welle von Fremdenfeindlichkeit eine Rolle?

Jasmin M. war seit Januar 2017 vom Rundfunk für Norddeutschland (RND) für ein Jahr unter Vertrag genommen worden. Sie hatte einen in der deutschen Medienlandschaft modellhaften Auftrag bekommen: RND Online -Niedersachsen wollte in Zusammenarbeit mit dem Institut für Politische Bildung (IPB) im Wahljahr 2017 im Weserbergland austesten, inwieweit der Bürger nicht nur als Konsument der Medien zu sehen sei, sondern sich im Sinne eines ‚mündigen‘ Bürgers zum Produzenten von öffentlich ausgetragenen Meinungen entwickeln könnte. Warum sollten nur von privaten oder öffentlichen Medien angestellte Journalisten veröffentlichte Meinungen produzieren können? Wenn die Stärkung der Demokratie und die Erweiterung der Meinungsvielfalt allseits erklärtes Ziel ist, sollte im Zeitalter des Internets auch der unabhängige Bürger selbst in die öffentliche Arena der Meinungsbildung einsteigen können. Motto: ‚Bürger schreiben für Bürger‘. Und dabei könnten ausgebildete Journalisten die Rolle von Moderatoren und Mittlern übernehmen. Angesichts schwindender Auflagen von Print-Medien, zunehmender Online-Angebote, zunehmender Politik-Müdigkeit der Bürgerinnen und Bürger gepaart mit vermehrten fremdenfeindlichen und nationalistischen Tendenzen wollten RND und IPB ein in Deutschland einmaliges Experiment versuchen: Ein neuzugründendes kostenloses ‚Weserbergland-Online-Magazin‘ (WOM) sollte im Wahljahr Wählerinnen und Wählern Gelegenheit zum offenen, unzensierten Meinungsaustausch geben. Ein erfahrener Journalist des RND wurde als Administrator und Moderator engagiert und Jasmin M. bekam als unabhängige Journalistin die Möglichkeit, im Wahljahr unterschiedlichste ober- und unterschwellige Stimmungen innerhalb der Bevölkerung einzufangen, um mit diesen Beiträgen die Leserinnen und Leser zur Nutzung des Online-Angebotes und zum demokratischen Meinungsaustausch zu ermutigen. Darüber hinaus würde der RND das WOM täglich mit weltweiten und überregionalen Nachrichten versorgen. Hass- und zu Gewalt aufrufende Beiträge und persönliche Verunglimpfungen vonseiten der Nutzer würden jedoch von der Moderation untersagt werden. Um das Modellprojekt bekannt zu machen, schrieben RND und IPB Schulen, öffentliche Verwaltungen, Parteien, IHK, Gewerkschaften, Ausbildungsstätten und Nichtregierungsorganisationen im Weserbergland an und luden sie zur kostenlosen Nutzung dieses Online-Angebotes ein.

Was qualifizierte Jasmin M. für diesen Job? Als Tochter einer nach Deutschland ausgewanderten Iranerin und eines Kurden beherrschte sie neben ihrer Muttersprache Farsi und Vatersprache Kurdisch auch Arabisch und Türkisch. Nach ihrem Studium der Vergleichenden Kulturwissenschaft in Regensburg arbeitete sie zuerst beim Deutschen Auslandsprogramm (DA) im Rahmen der Berichterstattung über den ‚Arabischen Frühling‘. Im Frühjahr 2016 kam sie nach Deutschland zurück und schrieb sich am Soziologischen Institut in Münster ein. Sie wollte über „Bedingungen Politischer Freiheit und Demokratie“ promovieren. Als sie im Herbst 2016 von der beim RND ausgeschriebenen Stelle erfuhr, bewarb sie sich und wurde umgehend engagiert. Jasmin war 29 Jahre alt und unverheiratet.

Innerhalb des RND und des IPB war dieses Experiment keineswegs unumstritten. Argumente dagegen waren: Ein kostenloses öffentliches Online Angebot im Weserbergland könnte die privaten Medien weiter schwächen und deren Konkurrenzkampf untereinander verschärfen. Außerdem wären die ‚staatstragenden‘ Parteien im Wahljahr womöglich die Leidtragenden, wenn sich der Bürger tatsächlich als ‚mündig‘ erweisen sollte und so die Berichterstattung der ‚Mainstream-Medien‘ durch offenen Bürger-Meinungsaustausch erweitert würde. Aber nicht nur die politische Elite der Region könnte dadurch in Aufruhr versetzt werden. Auch die wirtschaftliche Elite und die kommunalen Verwaltungen könnten sich in Zukunft vermehrt offener Kritik durch ‚mündige‘ Bürgerinnen und Bürger ausgesetzt sehen. Hinsichtlich dieser Argumente gegen das Experiment Bürger-Emanzipation hatten der RND und das IPB vorgesorgt: Für 2018 wurden vorläufig keine Gelder bereitgestellt. Der RND würde nach sorgfältiger Auswertung eine Fortsetzung des Modell-Projektes neu beschließen müssen. Das WOM könnte bei negativer Entscheidung dann eventuell mittels privater Spenden durch einen Förderverein weiter geführt werden.

Schon am Montagvormittag nach der Wahl gab es eine erste Vermisstenmeldung bei der Polizei in Hessisch Oldendorf. Jasmins Zimmervermieterin in Großenwieden rief gegen 11 Uhr bei der Polizei an. Die Journalistin, die sich eine Woche vorher bei ihr einquartiert hatte, ihrer letzten Station auf ihrer Weserbergland-Rundreise, hatte noch am Wahltag bekräftigt, am nächsten Morgen gegen 10 Uhr auschecken zu wollen. Die Wirtin hatte gehört, wie Jasmin im Morgengrauen ihren Wagen vor der Vorgartentür geparkt und anschließend ihr Zimmer aufgesucht hatte. Kurz darauf hatte die Journalistin offensichtlich das Haus wieder im Jogginganzug verlassen, so wie sie das jeden Morgen zu tun pflegte. Ein einstündiger Lauf in aller Herrgottsfrühe durch das nahe Naturschutzgebiet mit seinen zahlreichen Teichen gäbe ihr Kraft für den ganzen Tag. Gerade deshalb hatte sie sich für diese Bleibe am Ortsausgang nach Kleinenwieden entschieden. Doch Jasmin war selbst nach vier Stunden nicht zurück und die Wirtin, die ein Frühstück zubereitet hatte, wurde unruhig.

Am Nachmittag gab es weitere Vermisstenanzeigen. Darunter waren die Eltern, die frisch gewählte parteilose Abgeordnete der Bürger-Bewegung, ein naher Freund aus Münster sowie der zuständige Chefredakteur des RND. Dass sich viele Menschen um Jasmins Verschwinden Sorgen machten, war nicht verwunderlich. Im Laufe des Modellprojektes wurde das Online-Portal WOM dank ihrer journalistischen Arbeit bestens von der Zivilbevölkerung angenommen. Das WOM hatte sich während des Wahlkampfes immer mehr zu einem frischen Wind in der Medienlandschaft der Region und auch darüber hinaus entwickelt. So erlangte Jasmin zunehmende Bekanntheit inmitten dieser ländlich geprägten Flusslandschaft und stand in regem Kontakt zu vielen Menschen in der Region. Ihr hauptsächliches Interesse galt den zahlreichen Nutzern des neuen Online-Magazins.

Nach einem ersten Besuch in Großenwieden gab die Polizei von Hess. Oldendorf den Fall an die Kripo in Hameln weiter. Im Auto von Jasmin befand sich ihr Smartphone und in ihrem Zimmer ein Laptop und eine Kamera. Die Kripo machte sich alsbald an die Auswertung dieser Gegenstände und schon am Dienstagmorgen wurde eine erste Durchsuchung im Fischteichgebiet Welseder Bach angesetzt. Mittwochnachmittag wurde Jasmins Leiche im dichten Unterholz nahe eines von Fischern besuchten Teiches gefunden. Sie musste durch starke Schläge an den Kopf getötet worden sein. Vermutlich diente ein dicker Ast als Tötungsinstrument. Ein Sexualdelikt war auszuschließen. Das ließ darauf schließen, dass zwischen Jasmin und dem Täter oder den Tätern eine vorangegangene gewaltsame Auseinandersetzung stattgefunden haben musste. Womöglich kannten sich Opfer und Täter. Wieso konnte es sonst passieren, dass zu früher Morgenstunde und an einem derartig abgelegenen Flecken Erde Menschen aufeinander treffen mit der Folge eines gewaltsamen Verbrechens? Da an der Leiche keinerlei Spuren einer anderen Person zu entdecken und auch ein exakter Tatort nicht auszumachen war, erhoffte sich die Kripo baldigen Aufschluss über mögliche Täter und die Motive der Tat durch die Auswertung ihrer Arbeitsinstrumente: Laptop, Smartphone und Kamera. Diese wurden an einen erfahrenen Kriminologen der Hannoverschen Kripo übergeben, einem Spezialisten in Kriminaltechnik und EDV-Beweismittelauswertung. Selbstverständlich wurde auch nach Zeugen in der unmittelbaren Umgebung des Tatortes gesucht, besonders in den beiden Dörfern Großen- und Kleinenwieden.

Jasmins Eltern reisten schon am Dienstagnachmittag in Sorge um ihre Tochter von Berlin nach Hess. Oldendorf und quartierten sich dort in einem Hotel ein. Sie hatten noch am Wahltag mit ihrer Tochter telefoniert. Mit ziemlichem Stolz aber auch steigender Unruhe verfolgten sie die bis dahin in Deutschland einmalige Entwicklung eines Online-Magazins, dass innerhalb der ersten neun Monate des Jahres 2017 dank des Einsatzes ihrer Tochter zu großer Bedeutung gelangte. Es schien, als hätten viele Menschen im Weserbergland nur auf ein derartiges kostenloses Medium gewartet, um endlich einmal ihre eigene Meinung im öffentlichen Raum äußern und sich mit anderen Menschen frei und unzensiert austauschen zu können. Das WOM wurde in der heißen Wahlkampfphase nach den Sommerferien zum wichtigsten Meinungsmedium in der Region.

Aber anders als bei der PEGIDA-Bewegung von Nationalisten und Fremdenfeinden auf den Straßen in Dresden war diese im WOM anschwellende Bewegung eine Bürger-Emanzipations-Bewegung, die auf politische Freiheit und Ausübung direkter Demokratie in einer humanistisch gefärbten Bürgerrepublik abzielte. Die über Jahrzehnte erfolgreich betriebene Gängelei der Zivilgesellschaft durch wirtschaftliche und politische Interessengruppen, im Volksmund Seilschaften genannt, schien mit einem Mal durch eine nie dagewesene blühende Meinungsvielfalt zu verpuffen. Jasmin hatte analoge Entwicklungen im arabischen Raum miterlebt und sich schon lange insgeheim gewünscht, auch in Deutschland den ängstlichen und sich duckenden Bürger gegen alle Widerstände des Establishments aus seinem Angst- und Ohnmachtsgefühl erlöst zu sehen. Sie hatte viel über die 68er-Bewegung gelesen und sich immer wieder gefragt, warum diese Bürgerbewegung ein so unrühmliches Ende gefunden hatte. Das traf im gleichen Maß auch auf die Bürgerrechtsbewegung in der damaligen DDR zu.

Aber nicht nur Jasmins Eltern hatten mit ihr noch am Wahltag in Kontakt gestanden. Zahlreiche andere Menschen, u. a. ihr Freund, ihr direkter Arbeitskollege, der Chefredakteur des RND Online-Programms für Niedersachsen und andere Personen des öffentlichen Lebens wie auch die Leser und Schreiber des WOM wussten ziemlich genau über Jasmins Arbeitsablauf Bescheid. Sie war in den vergangenen Monaten zur bekanntesten Persönlichkeit im Weserbergland aufgestiegen.

Der partei-unabhängigen Direktkandidatin zum Bundestag gelang es über das kostenlose WOM ebenfalls so bekannt zu werden wie die Kandidaten der ‚staatstragenden‘ Parteien. Der Wettbewerbsvorteil, den diese Kandidaten aufgrund ihrer aus Steuergeldern finanzierten Wahlkampagne hatten und der es erlaubte, sich in sämtlichen Gemeinden im Wahlkreis plakativ bekanntzumachen, schrumpfte vor dem Wahltag dramatisch zusammen. Und so kam es, dass zur Überraschung aller Wählerinnen und Wähler in der Region, aber auch darüber hinaus, die parteilose Kandidatin das Rennen um das Direktmandat haushoch vor dem Kandidaten der Neuen Rechten gewann. Dass eine Parteilose erstmalig seit 1949 in den künftigen Bundestag einziehen wird, war neben dem ebenfalls erstmaligen massiven Einzug der Neuen Rechten die Nachricht des Wahlabends. Die Parteien des politischen Establishments und ihre Kandidatinnen und Kandidaten waren perplex und tief enttäuscht. Sie hatten sich den Wählerwillen anders vorgestellt. Noch begriffen sie nicht, wie der Wähler ihrer bisher erfolgreichen Kontrolle entwischen konnte und sich dank Internet auf eine Freiheitsreise begeben hatte. Erstmals in der politischen Nachkriegsgeschichte versagte die enorme staatliche Wahlkampfunterstützung zugunsten der etablierten Parteien und auch die Unterstützung durch die Mainstream-Medien, die Festung Bundestag vor dem Angriff des parteilosen Bürgers zu verteidigen. An der Wahlparty, zu der die Wesertalzeitung (WETAZET) als größter regionaler Zeitung geladen hatte, nahm Jasmin nicht teil. Der Chefredakteur des RND-Online-Programms, dem der durchschlagende Erfolg des Modellprojektes WOM langsam unheimlich geworden war, und der sich aufkommender Kritik des wirtschaftlichen und politischen Establishments zu erwehren hatte, riet Jasmin seit Tagen, alle Wahlveranstaltungen zu meiden. Sie wurde wegen der Morddrohungen gegen sie zehn Tage vor der Wahl von ihrer Arbeit entbunden und man empfahl ihr, öffentliche Orte zu meiden und erst einmal unterzutauchen.

Jasmins Beerdigung fand am Samstag nach der Wahl in Berlin statt. Die völlig verzweifelten Eltern wollten sie in engstem Familienkreis begehen. Das war aber nicht möglich. Jasmin und das Experiment WOM erreichten nach dem gewaltsamen Tod dieser jungen Journalistin auf der Suche nach der Wahrheit über die deutsche Demokratie bundesweite Aufmerksamkeit. Die neu entstandene Bürger-Bewegung im Weserbergland und die gleichzeitigen Versuche von Wirtschaft und Politik, diese Bewegung in Grenzen zu halten, bewirkten, dass Tausende von Trauergästen aus weiten Teilen Deutschlands nach Berlin strömten, um an Jasmins Beerdigung teilzunehmen.

Die Trauerrede hielt die frisch gewählte parteilose Abgeordnete der Bürger-Bewegung aus dem Weserbergland, mit der Jasmin eine besonders enge Freundschaft aufgebaut hatte. Dank des von Jasmin erfolgreich durchgeführten WOM-Experimentes war es ihr überhaupt gelungen, im Weserbergland bekannt zu werden und für ihre Bürger-Bewegung gegen den herrschenden Parteienstaat zu werben. Wenn Jasmins gewaltsamer Tod diese Bewegung aufhalten sollte, so bewirkte er das glatte Gegenteil davon.

“Liebe Jasmin, ich rede hier im Namen der Bürger-Bewegung des Weserberglandes und in meinem persönlichen Namen. Noch immer können wir Deinen plötzlichen Tod nicht begreifen. In Deinem kurzen Leben hast Du unermüdlich versucht, mit aufrechtem Gang die Wahrheit hinter äußeren Geschehnissen zu suchen. Du wolltest beitragen, die Augen der Menschen zu öffnen, um unterdrückerische Machtstrukturen in der Gesellschaft zu erkennen. Du wolltest den Menschen die Angst nehmen und ihnen Mut zusprechen, wahre Demokratie und politische Freiheit einzufordern, die das Grundgesetzt allen Bürgerinnen und Bürgern des Landes garantiert. Der ‚Rundfunk für Norddeutschland‘ und das ‚Institut für Politische Bildung‘ hatten sich verpflichtet gefühlt, der Politikverdrossenheit des Bürgers und auch der Meinungsmacht der herrschenden privaten Medien entgegenzuwirken. Es sollte dem Bürger das Recht auf kostenlose, unzensierte Meinungsäußerung im öffentlichen Raum, was ein fundamentales Menschenrecht ist, in einem deutschlandweit ersten Modellversuch ermöglicht werden. Zu diesem Zweck wurde im Weserbergland das ‚Weserbergland-Online-Magazin‘ eingerichtet. Jasmin, Deine journalistische Arbeit für das WOM sollte dazu beitragen, den Bürger im wörtlichen Sinne zur ‚Mündigkeit‘ zu verhelfen. Du hast diesen Auftrag in einem Ausmaß erfüllt, den niemand vorher für möglich gehalten hat. Durch Dein leidenschaftliches Engagement hast Du Tausenden von Menschen zu einer öffentlichen Stimme und Teilhabe an der Meinungsvielfalt verholfen, als sei das Weserbergland nun zu einem einzigen Markplatz des demokratischen, respektvollen Meinungsaustausches geworden. Doch je erfolgreicher Deine journalistische Arbeit wurde, je mehr sich Bürgerinnen und Bürger trauten, mit ihrer Meinung nicht länger hinter dem Berg zu bleiben, je mehr begannen machtvolle Interessengruppen sich auf die Füße getreten zu fühlen. Demokratie ist ein auf Machtausgleich bedachtes System, in dem Zivilgesellschaft und Interessengruppen Kompromisse aushandeln müssen. Wahrscheinlich ging das vom RND und IPB angestoßene Projekt zur Demokratieförderung den im Lande herrschenden Interessengruppen und politischen Parteien zu weit und bedrohte ihre traditionell ausgeübte Macht. Jasmin, mit dem WOM-Projekt hast Du eine Bürger-Emanzipations-Bewegung ins Leben gerufen, die nach Direkter Demokratie ruft. Deine Courage, Deine Professionalität und Deine äußere und innere Ausstrahlung auf eine bisher schweigsame Bürgerschaft hat nicht nur im Weserbergland tiefen Eindruck hinterlassen sondern auch darüber hinaus. In dieser traurigen Stunde des Abschieds von Dir hoffen wir, dass Dein exemplarisches Wirken Anstoß sein wird, in Zukunft auf dem eingeschlagenen Weg der Förderung von Bürger-Emanzipation weiter voranzuschreiten. Mögen viele andere von Bürgern initiierte unabhängige Online-Magazine wie Pilze aus dem Boden schießen, um den Meinungsmarkt im ganzen Land im Sinne von Demokratie und Wahrhaftigkeit zu bereichern. Des Weiteren hoffen wir, dass die Schuldigen an Deinem Tod gefunden und der gerechten Strafe zugeführt werden. Nochmals Dank für Dein ungebeugtes Wirken für Demokratie, Menschlichkeit und politische Freiheit. In Deinem Sinne werden wir weiterkämpfen und niemand kann uns dabei aufhalten. In diesem Kampf werden wir immer mit Dir verbunden sein. Wer auch den Mord an Dir gewollt und verursacht hat, soll wissen, dass die im Weserbergland begonnene Emanzipations-Bewegung des Bürgers gegen den Parteienstaat jetzt erst recht Fahrt aufnehmen wird. Jasmin, wir lieben Dich über Deinen Tod hinaus, der uns tief getroffen hat und verneigen uns in Demut vor Dir. Sei gewiss, dass Du in unseren Gedanken weiter unter uns weilst und uns jeden Tag aufs Neue inspirieren wirst. Dieser Moment ist kein Moment des Abschiedsnehmens. Es ist der feierliche Augenblick der Erneuerung unseres gemeinsamen Kampfes für Frieden, Freiheit und Liebe unter den Menschen. Wir alle umarmen Dich und sind bei Dir wie Du bei uns bist.“

Als sich die vielen tausende Trauergäste schließlich auf den Heimweg begeben hatten, blieben nur noch Jasmins Eltern und die neue Abgeordnete sowie ihr Sohn in stummer Trauer am Grab zurück. Spät am Nachmittag machten sich dann diese Vier, die Jasmin am nächsten gestanden hatten, auf, um in der Wohnung der Eltern der von ihnen geliebten Jasmin zu gedenken, in dem sie Geschichten über ihr Leben und Wirken untereinander austauschten.

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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