Die Liebschaften des Herrn Botschafter (7)

Anden-Saga Fortsetzung der Anden-Saga. Clara und Lucía unterhalten sich über die Geschichte der Länder Ecuador und Peru sowie den letzten bewaffneten Grenzkonflikt im Frühjahr 1995

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Foto: Amazonas-Zufluss: Santiago, Grenze Ecuador – Peru, ecuadorianische Seite

Ort des Grenzkonfliktes Peru – Ecuador, Frühjahr 1995 Autor: Hermann Gebauer (2012)

Der Schlaf von Clara und Lucía wurde immer wieder durch heftige Umarmungen unterbrochen. Sie versuchten aneinandergeschmiegt auf der Seite liegend zu schlafen. Doch in regelmäßigen Abständen durchdrang sie wechselseitig ein Strom von Wärme und Lust und ein nie gekanntes Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit. Wie konnten sie auch in dieser Nacht in einen tiefen Schlaf finden, in der ihre Sinne nur auf gegenseitige Vereinigung ausgerichtet waren?

In der Morgendämmerung löste sich Lucía vorsichtig aus der Umarmung und erhob sich vom Bett. Sie wusste, dass sie heute nicht mehr schlafen würde. Sie fühlte sich erfüllt von ihrer Freundin. Deren Geruch und Widerhall in ihr hatten ihre Sinne bis zum Äußersten aufgewühlt.

Sie wollte sich einen starken Kaffee bereiten und einen Saft aus frischen Orangen pressen. In der Türschwelle drehte sie sich nach der schlafenden Clara um und betrachtete liebevoll die Rundungen ihres Körpers, der sich unter dem weißen Bettlaken deutlich abzeichnete. Am liebsten wäre sie sofort wieder zurück unter das Laken geschlüpft. In diesem Moment schlug Clara die Augen auf und fragte: „Lucía, stehst Du schon auf?“

„Ich mache uns rasch einen Morgenkaffee und einen Orangensaft.“

Als Clara und Lucía sich am Kopfende des Bettes aufgesetzt hatten, ihren Kaffee und den Orangensaft schlürften, fragte Clara neugierig: „Erzählst Du mir nun, wie Du schwanger wurdest?“

Beide Frauen hatten sich im Laufe ihrer gemeinsamen Balkanreise und in diesen ersten Tagen in Ecuador viele Begebenheiten aus ihrem Leben erzählt, aber die genaueren Umstände ihrer Schwangerschaften hatten sie bisher ausgespart.

„Clara, leg‘ Deinen Kopf auf meinen Schoss, dass ich Dich spüre und Deine Haare streicheln kann, während ich Dir berichte. Wenn wir vom Wochenende aus Otavalo zurückkommen, musst Du mir Dein Erlebnis erzählen.“

Die beiden Frauen richteten sich im Bett ein und Lucía begann ihre Geschichte:

„Clara, ich glaube, ich kenne die Mutter von Yolanda. Den gesamten gestrigen Abend konnte ich mich dem Eindruck nicht entziehen, dass ich ihre Mutter kennen müsste. Yolandas äußere Erscheinung, ihr Gesicht, ihre Ausdrucksweise und ihre Bewegungen erinnerten mich unmittelbar an eine junge Frau namens Julia, die ich während des bewaffneten Grenzkonfliktes zwischen Ecuador und Peru vor siebzehn Jahren kennengelernt habe. Wenn diese tatsächlich Yolandas Mutter ist, und darüber bin ich mir beinahe völlig sicher, dann müsste sie Yolanda etwa zwei Jahre zuvor geboren haben. Ich bin neugierig zu erfahren, was aus dieser damals etwa 20 Jahre alten Frau geworden ist. Wenn wir Yolanda das nächste Mal treffen, werden wir mehr erfahren.“

Für einen Augenblick unterbrach Lucía ihre Erzählung und nahm einen Schluck Kaffee. Dann fuhr sie liebkosend mit ihren Händen durch Claras Haare und über ihre Stirn, bevor sie sich herunterbeugte, um ihr einen Kuss auf den Mund zu drücken.

„Der bewaffnete Grenzkonflikt begann am 26. Januar 1995 und dauerte drei Wochen bis zum 17. Februar. Durch Vermittlung der USA, Brasiliens, Argentiniens und Chiles gelang die Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens in Brasilia. Der endgültige Friedensvertrag wurde dann nach langen, zähen Verhandlungen in Brasilia am 26 Oktober 1998 von den Präsidenten Jamil Mahuad, Ecuador, und Alberto Fujimori, Peru, unterzeichnet. “

„Lucía, mir ist bekannt, dass die Geschichte von Peru und Ecuador spätestens seit der Unabhängigkeit vom spanischen Kolonialismus durch andauernde Grenzkonflikte gekennzeichnet war. Warum eigentlich?“

„Clara, das hat mit der spanischen Kolonialgeschichte in Lateinamerika insgesamt und mit dem Prozess der Unabhängigkeit von Spanien zu tun. Die spanische Krone hatte zu Beginn der Entdeckung der Neuen Welt das gesamte von ihr eroberte Gebiet in zwei Vizekönigreiche aufgeteilt. Dieses Gebiet reichte vom Süden der heutigen USA bis nach Feuerland, einschließlich der karibischen Inseln und ausgenommen das von Portugal eroberte Brasilien. Ein Vizekönigreich bestand im Norden mit der Hauptstadt Mexiko, das andere im Süden mit der Hauptstadt Lima. Dieses südliche Reich reichte von Panama bis Feuerland. Zur Etablierung einer effizienten Ausbeutung war es allerdings vonnöten, verwaltungsmäßig und vom Gesichtspunkt der Gerichtsbarkeit und Tributeintreibung sogenannte „real audiencias“ einzurichten, das heißt, königliche Gerichts- und Verwaltungseinheiten. Die Hauptstädte dieser „audiencias“ und die ihr unterstellten Provinzen und Munizipalitäten, in der sich die spanische Kolonialelite konzentrierte, wurden während des Unabhängigkeitsprozesses zum Ausgangspunkt der Bestrebungen zur Schaffung eines eigenen Staates. Die Kreolen, die dort geborenen Nachfahren der eingereisten Spanier, hatten mehrheitlich die Idee eines Staatenbundes wie in Nordamerika verworfen. Sie wollten die ausgepressten Reichtümer in ihren „audiencias“ nicht in einem gesamtamerikanischen Staatengebilde, wie es Simón Bolivar für Südamerika und Francisco Morazán für Mittelamerika forderten, aufgehen lassen. Nun, eine dieser „real audiencias“ war Quito, und die benachbarte im Süden war Lima als Sitz des Vizekönigreiches und gleichfalls Sitz einer „real audiencia.“

Clara und Lucía, vom Kaffee, Orangensaft und der gegenseitig gespürten nackten Körper hellwach gemacht, gerieten abermals in einen Wirbel gegenseitigen Begehrens und Sichversichern-Wollens.

„Lucía, weißt Du, dass ich nicht nur Glück über die mit Dir gefundene Zweisamkeit empfinde, sondern auch eine unendliche Freiheit. Als wir gestern die von der Morgensonne bestrahlte weiße Kuppe des Cotopaxi-Vulkans in der Ferne erkennen konnten, wünschte ich mir, ein Kondor zu sein, um dort oben mein Nest der Freiheit einzurichten, unerreichbar von den Zwängen der menschlichen Welt. Jetzt mit Dir zusammen habe ich dasselbe Freiheitsgefühl, das ich mit Dir teilen will und das uns unverletzlich macht. Lucía, ich brauche Dich. Halt mich fest!“

„Clara, vielleicht holen wir das nach, was viele Liebende in jungen Jahren erleben. Nicht nur Freundschaft, auch Liebe wird unsere Andenreise begleiten und uns dabei sensibel genug machen, Humboldts Reise mehr als 200 Jahre später nachzuempfinden und zu würdigen. Ich bin ebenso verrückt nach Dir wie Du nach mir. Komm, leg‘ Dich wieder zu mir wie vorher. Ich werde Dir jetzt weiter erzählen.“

Clara legte ihren Kopf abermals in Lucías Schoss und drehte sich auf die Seite, sodass sie die festen Oberschenkel ihrer Freundin mit Armen und Händen in Besitz nehmen konnte.

Lucía fuhr fort: „Das Drama zwischen Ecuador und Peru begann schon etwa hundert Jahre vor den Unabhängigkeitsbestrebungen. 1717 gründete Spanien neben dem Vizekönigreich Peru das Vizekönigreich „Nueva Granada“ mit der Hauptstadt Bogota, das Panama, Kolumbien, Venezuela und Ecuador umfasste. 60 Jahre später wurde dann auch noch das Vizekönigreich „Rio de la Plata“ mit der Hauptstadt Buenos Aires gegründet. Diese Dezentralisierung und Eröffnung neuer Exporthäfen in der Neuen Welt bedeutete eine Gegenmaßnahme zur zunehmenden Konkurrenz Englands auf den Weltmeeren und auch der Freibeuter, die den Transport der Reichtümer aus den Kolonien ins Mutterland zu behindern versuchten. Im Zuge der Unabhängigkeitskriege versuchte Bolivar zuerst, alle spanischen Besitztümer zu einem einzigen großen, unabhängigen Staatsgebilde zusammenzufassen. Als das wegen des Widerstands von Argentinien, Chile und Peru unmöglich wurde, versuchte er wenigstens aus dem Vizekönigreich „Nueva Granada“ ein einheitliches Staatsgebilde, das „Gran Colombia“ mit der Hauptstadt Bogotá, zu formen. Dieses hatte aber nur von 1822 bis 1830 Bestand. Dann riefen Venezuela und Ecuador die Unabhängigkeit von Gran Colombia aus. Im Laufe der Staatenbildung der ehemaligen „real audiencias“ spalteten sich südliche Gebiete der „audiencia“ Quito durch Selbstbestimmung ihrer Eliten von Quito ab und beantragten ihre Aufnahme in den neu gebildeten Staat Peru, was ihnen von der Regierung in Lima uneingeschränkt gewährt wurde. Die „audiencia“ Quito, bzw. der neue ecuadorianische Staat als Rechtsnachfolger dieser „audiencia“, hatte seit seiner Unabhängigkeit 1830 die Abtrennung dieser südlichen Gebiete nie anerkannt. Der Grenzkonflikt 1995 markierte letztendlich den Schlusspunkt dieser nicht endenwollenden Konflikte zwischen beiden Ländern.“

„Lucía, nun will ich aber Deine persönliche Geschichte während des Grenzkonfliktes erfahren.“

„Clara, diese Vorgeschichte ist wichtig für meine eigene Geschichte. Also, Du musst Dir vorstellen, dass schon seit Ende 1994 eine sehr gespannte Lage zwischen beiden Ländern herrschte. In Peru stand für den Sommer 95 die Wiederwahl des autoritären Präsidenten Fujimori an und seine Amtsführung rief eine wachsende Opposition auf den Plan, obwohl ihm die fast vollständige Ausschaltung der beiden Guerilla-Gruppen „Sendero Luminoso“ und der marxistischen Bewegung „Movimento Revolucionario Túpac Amaro“ (MRTA) gelang, die seit den 80er Jahren das Land terrorisierten. Auch hatte Fujimori eine wirtschaftliche Entwicklung der Privatisierung, der aggressiven Ausbeutung der mineralischen Ressourcen des Landes und verschiedene soziale Maßnahmen für die ärmsten Bevölkerungsteile ingang gesetzt, die dem Land Wachstum bescherten. Die Achillesferse seiner Regierungsführung war die vollständige Herrschaft seiner Partei über die drei Gewalten im Staat, die zunehmende Korruption und die Figur des Geheimdienstchefs Vladimiro Montesinos, der wie ein Marionettenspieler die Fäden der Macht im Schatten des Präsidenten in seiner Hand vereinigte. Der Präsident und Montesinos wollten das Grenzproblem mit Ecuador ein für alle Mal lösen, vor allem die definitive und völkerrechtlich anerkannte Grenzziehung im Gebiet der „Cordillera del Condor“ durchsetzen. In dieser Cordillera war der Grenzverlauf auf einer Länge von knapp 80 Kilometern seit der internationalen Schiedskonferenz in Rio de Janeiro („Protocolo de Rio de Janeiro“), im Jahre 1942, aus Gründen damaliger unzureichender geografischer Kenntnisse ausgesetzt. Mit der endgültigen Lösung des Grenzproblems hätte Präsident Fujimori zwei Trümpfe gegenüber seinen politischen Widersachern in der Hand: Ein unter seiner Führung siegreicher Feldzug würde die offene nationale Wunde, d. h. verbindliche Grenzziehung gegenüber Ecuador, schließen und zum anderen dem Land eine neue wahre ‚Gold- und Kupfergrube‘ bescheren. Es war bekannt, dass die Cordillera del Condor nicht nur eines der reichsten Ökosysteme auf dem Globus repräsentierte, sondern es wurde vermutet, dass dort mineralische Reichtümer in Hülle und Fülle schlummerten, die im Tagebau ausgebeutet werden könnten.“

„Aber Lucía, wie bist Du an den Kriegsschauplatz der Cordillera del Condor gekommen?“

„Ich bin im Gefolge einer Mission der UN ins Kriegsgebiet gekommen, die vom ecuadorianischen Präsidenten Sixto Duran-Ballen gebeten wurde, die Situation der Zivilbevölkerung an der Grenze zu Peru zu bewerten und Vorschläge zur Verbesserung der Lebensbedingungen zu machen. Dazu muss man Folgendes in Betracht ziehen: In Ecuador waren die demokratisch gewählten Regierungen seit Ende der Militärdiktatur 1980 unfähig, die Armut im Lande wirksam zu bekämpfen. Das Land war tief gespalten zwischen dem wirtschaftlich weiter entwickelten Küstengebiet mit der größten Metropole des Landes Guayaquil und dem Hochandengebiet mit der Hauptstadt Quito. In beiden Gebieten rivalisierten die jeweiligen Oligarchien miteinander und machten sich die politische Herrschaft und wirtschaftliche Ausbeutung im Lande streitig. Daneben besteht die „selva“, das ecuadorianische dünn besiedelte Amazonasgebiet, in dem die Ölförderung des Landes betrieben wird. Das „Bindeglied“ zwischen den Oligarchien des Landes waren die gemeinsam gepflegten Ressentiments bezüglich Peru und der Wunsch, nie wieder militärisch gegenüber dem Nachbarland den Kürzeren zu ziehen. So hatte Ecuador seit dem letzten Grenzscharmützel im Cordillera del Condor-Gebiet, 1981 („Paquisha-Konflikt“), eine systematische militärische Abwehrstrategie entwickelt. Modernste Waffen wurden angeschafft. Überlandzufahrtswege im schwer zugänglichen Grenzgebiet wurden angelegt. Aus den der Jíbaro-Sprachgruppe angehörigen Shuar-Indianern wurde ein Elite-Batallion aufgestellt („IWIAS“, Dämonen des Waldes). Gleichzeitig profitierten die im Amazonasbecken weit verstreuten Indianervölker von den zahlreichen Militärstützpunkten und Landepisten, die die Einrichtung von Schulen und Gesundheitszentren begünstigten sowie auch in begrenztem Masse erlaubten, lokal hergestellte Waren zu städtischen Zentren auszufliegen. Dank der Führung von General Paco Moncayo war das ecuadorianische Militär das erste in Südamerika, deren Offiziere in der Einhaltung der universalen Menschenrechte geschult wurden. So konnte sich das ecuadorianische Militär im Amazonasgebiet auf die Unterstützung der dort beheimateten Indianervölker viel mehr verlassen, als dass das in Peru der Fall war.“

„Lucía, bevor Du über Dich weitererzählst, bin ich jetzt doch neugierig geworden, etwas mehr über die Jíbaro-Indianer zu erfahren, zu denen ja auch die Shuar zählen. Soweit mir bekannt ist, gehören zu den Jíbaros neben den Shuar, die Ashuar, Aguaruna und Huambisa, wobei die letzten beiden Völker auf peruanischem Boden leben. Sie sollen alle einmal berüchtigte Kriegervölker und ‚Schrumpfkopf-Indianer‘ gewesen sein, wenn ich mich recht erinnere. Auch soll der deutsche Filmemacher Werner Herzog und seine Crew bei den Dreharbeiten von ‚Fitzcarraldo‘, seinem zweiten Films im peruanischen Amazonasgebiet, nach ‚Aguirre, der Zorn Gottes‘ im Jahr 1971, zwar mit den Ashaninka-Indianern im Camisea-Gebiet gedreht haben, aber vorher gegen Ende 1979 von den Aguaruna aus dem Cenepa-Marañon-Gebiet, dem Kriegsschauplatz des Grenzkonfliktes 1995, vertrieben worden sein. Ist es richtig, dass dort ursprünglich die Dreharbeiten stattfinden sollten?“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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