Ein Maisonntag in Bocas del Toro *

Panama - Karibik Die Unerbittlichkeit des "Merkelschen Totspardiktats" reicht bis ins Karibikparadies

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Schon das Frühstück bei „Lily’s“ verheisst nichts Gutes für den Tag. Das Holzdach der offenen Kaffeebar über dem Meer würde zwar gegen Regen schützen, aber wer kann voraussehen, ob der Wind die Tropfen nicht seitlich über Tische, Stühle und Besucher hinweg fegen wird? Doch noch ist es nicht soweit. Vom Herzen der kleinen Provinzhauptstadt „Bocas del Toro“ (Mäuler des Stiers) aus gesehen drohen die Regenwolken erst die umliegenden Inseln unter ihre nasse Wucht zu zwingen, bevor sie die Insel Colon an der Grenze von Panama zu Costa Rica treffen werden. Nur eines steht jetzt schon fest: Heute am Sonntag den 12. Mai 2013 wird es keinen Tauchausflug im Bocas-Archipel geben. Von derlei trüber Aussicht getrieben, scheinen die Touristen zuallererst einen Wunsch zu haben: Bloß schnell einen heißen Kaffee! Alles Weitere wird sich finden, zumal das feuchtwarme Klima unter dem stahlblauen Wolkendach keinerlei Wunsch nach hektischem Aufbruch aufkommen lässt.

Etliche Bootsführer, die sicher heute vergebens auf ihre Klientel warten, sitzen auf Kisten und Holzplanken vor dem Eingang von „Lily’s“. Sie bejahen meine Frage nach ihrer Stimmabgabe für einen Kandidaten der regierenden Partei „Cambio Democrático“. Am heutigen Sonntag findet die Vorwahl für den Präsidentschaftskandidaten dieser Partei statt. Und aussichtsreichster Kandidat ist ein verhältnismäßig junger Mann mit einem Stoppelbart, der dem von Borussia Dortmunds Trainer Klopp in nichts nachsteht. Allein diese Tatsache macht ihn wahrscheinlich vor allem für die überwiegend junge Wählerschaft wählbar, die von den bisher stets regierenden Vertretern der „Nationalen Oligarchie“ wegen deren unstillbarer Gier nach Bereicherung mehr und mehr angewidert ist. Der derzeitige Präsident Martinelli wird sicher am Ende seiner fünfjährigen Amtszeit, die im nächsten Jahr ausläuft, der reichste Mann in Panamá sein und auch einer der reichsten ganz Zentralamerikas. Seine Partei „Cambio Democrático“ gewann bei den letzten Wahlen im Jahr 2009 12 Abgeordnete im 71 Sitze umfassenden Parlament. Augenblicklich verfügt diese Partei mithilfe erfolgreicher Bestechung über 37 Abgeordnete, d. h. mehr als die absolute Mehrheit. Da eine direkte Wiederwahl verfassungsbedingt nicht möglich ist, muss ein loyaler Nachfolger her. Was ein Präsident oder eine Präsidentin in Lateinamerika unter allen Umständen vermeiden muss, ist die Aufarbeitung der Korruption während seiner/ihrer Amtszeit. Deshalb kommt Martinelli ein jugendlich wirkender Haudegen, der über alle Zweifel von Illoyalität erhaben ist, als Nachfolger äußerst gelegen.

Wie auch in anderen lateinamerikanischen Ländern ähneln die Parteien Wahlvereinen, und ihre Mitglieder erhoffen sich, dass sie über ihren erfolgreichen Präsidentschaftskandidaten in Arbeit und Brot kommen. Etwa 90% der wahlberechtigten Bevölkerung in Panama gehören der einen oder anderen Partei an. Nach der Wahl gleicht das Parteibüro der siegreichen Partei einem umtriebigen Arbeitsamt, in dem das Geschachere um Posten und Knete die Organisation der Wahlkampagne ablöst. Doch ist von deutscher Warte aus gesehen eine abschätzige Beurteilung völlig unangebracht. Die Verteilung der wohl 20.000 Entscheider-Posten im deutschen Staatsapparat und die den deutschen Beamten vorbehaltenen Spitzen-Stellen in europäischen und internationalen Behörden geht zwar gesitteter zu, ist aber ebenso den siegreichen Koalitionsparteien seit Gründung der Republik vorbehalten. Die einzige und entscheidende Differenz zu Panamá besteht in der Tatsache, dass die Bevölkerung in der gefeierten deutschen Republik lediglich zu 1,5% in BT-Parteien organisiert ist, die das Monopol über die Verteilung des Steuerkuchens selbstherrlich ausüben, und die 98,5% der Zivilgesellschaft lachenden und weinenden Auges zusehen müssen, wie das Fell und das saftige Fleisch des Bären verteilt werden.

Zu Panama muss man wissen, dass seit der Kanal-Übergabe durch die USA zu Beginn des 21ten Jahrhunderts das Land zusammen mit Peru die höchsten Wachstumsraten in Lateinamerika aufweisen kann. Der Kanal wird 2014 seine Kapazität fast verdreifachen und etwa 70 Schiffen pro Tag Durchlass gewähren. Das wirtschaftliche Wachstum des asiatischen Raumes mit China im Mittelpunkt braucht nicht nur diese Kanalerweiterung. Auch in Nicaragua ist mithilfe Chinas ein zweiter Kanal geplant. Des Weiteren plant Honduras eine Schienenverbindung zwischen Atlantik und Pazifik. Panamas Wachstum beruht auf der Bedeutung des Kanals für die Weltwirtschaft, der Kapitalflucht von Nachbarländern, besonders von Venezuela, aber auch aus westlichen Metropolen wegen seiner Steuerparadiesfunktion. Dazu kommen die Geldwäsche aus dem Drogenhandel und der Export von u. a. Bananen, Kaffee und Fleisch. Das bevölkerungsarme Land mit gerade einmal 3,5 Millionen Einwohnern zählt etwa 300.000 Mitglieder von sieben verschiedenen indigenen Völkern. Sie stellen in der Drei-Klassen-Gesellschaft die ärmste Gruppe dar, die zum großen Teil in Reservaten und unter menschenunwürdigen Bedingungen lebt. Die breite Mittelgruppe bilden Schwarze, Farbige und Weiße, die wegen des Kanalbaus und der Bananenproduktion aus anderen Karibikstaaten, Europa und Nordamerika eingewandert sind. Dazu kommen Einwanderer aus dem asiatischen Raum und dem Vorderen Orient. Schließlich gibt es die winzige „Nationale Oligarchie“, die hauptsächlich aus Nachfahren der spanischen Conquistadores und eingewanderten Europäern besteht. Diese „Elite“ übt bisher eine unangefochtene Herrschaft im Lande aus.

Gegen Mittag suche ich ein Boot, das mich zur kleinen beschaulichen Nachbarinsel „Carenero“ bringen soll. Ich will den restlichen Tag in Ruhe, mit guter Lektüre, leichter Kost und „piña colada“ (mit Rum „veredelter“ Ananassaft) auf einer Restaurantterrasse verbringen. Dazu scheint mir Carenero der geeignete Ort zu sein. Die Überfahrt dauert keine fünf Minuten vom geschäftigen „Bocas“ aus. Der Landungssteg erinnert mich allerdings schmerzlich an Haiti, deren Hauptstadt „Port au Prince“ förmlich im Abfall versinkt. Doch nach Überspringen einiger Müllsäcke folge ich dem mir angegebenen Uferpfad unter Palmen und wunderschönen tropischen Bäumen. Das Inselchen zählt nur wenige bescheidene Hotels für hauptsächlich junge Rucksacktouristen aus aller Welt. Der leichte Nieselregen, der schon am Vormittag einsetzte, begleitet mich bis zu „Bibi’s“, einem über dem Wasser errichteten, strohbedeckten Restaurant. Dieses entspricht genau dem, was ich mir für den heutigen Nachmittag gewünscht habe.

Als Lektüre habe ich mir ein Buch über die lateinamerikanischen „redentores“ (zu deutsch: Erlöser, Retter oder besser politische, philosophische und literarische Ideengeber und nachahmenswerte Vorbilder) mitgenommen. Das aktuelle Kapitel, das ich mir vornehmen will, behandelt Octavio Paz, den Poeten und Nobelpreisträger Mexicos. Wer seinem Lebensweg vom Spanischen Bürgerkrieg an bis in die späten 90er Jahre folgt, wird sein Wissen über Lateinamerika aber auch über das Ringen der verschiedenen Ideen in diesem Erdteil, vom Liberalismus über den Marxismus/Sozialismus, Blanquismus/Guevarismus, Anarchismus und Kapitalismus, entscheidend bereichern können.

Aber die Lektüre wird ein wenig auf mich warten müssen. Ich suche mir auf der Terrasse den äußersten freien Holztisch an der Balustrade über dem seichten, mit Seegras gesprenkelten Meereswasser. Von dort aus hat der Blick rundum freie Bahn: Nicht weit entfernt liegt, direkt gegenüber von „Carenero“, die große Insel „Bastimentos“ (von abastecimiento – Versorgung, Verpflegung, die Ch. Kolumbus auf seiner 4. Entdeckungsreise 1502 hier unternahm) mit ihrer unvergleichlichen Fauna und Flora auf Insel und umliegendem Riff. Carenero selbst, so genannt wegen der Reparaturarbeiten am Schiffsbauch von Kolumbus‘ Karavelle, zeigt mir die verschiedenlangen Anlegestege und landeinwärts den palmenbestandenen ockeren Sandstrand mit saftiger Natur und eingestreuten strohgedeckten Pfahlhütten für junge Touristen mit schmalem Geldbeutel.

Nach Augenscheinnahme der Umgebung richtet sich meine Aufmerksamkeit auf die Gäste von „Bibi’s“, was ich durch mein Buch zu kaschieren versuche. Dabei hilft mir auch das gelegentliche Nippen an der „piña colada“. Am Nachbartisch machen sich zwei junge, braungebrannte blonde Frauen im Bikini über einen üppigen Salat her. Meine Aufmerksamkeit auf Octavio Paz ist zumindest um einiges gestört. Das Herumlaufen eines kleines Mädchens vom Nebentisch führt schließlich zum Wortwechsel mit den beiden. Olga und Irina sind unlängst den Schergen Putins aus Moskau entflohen, wo die Demonstrationen für die Freilassung der Mitglieder der Pussy Riot-Band eine raue, frostige politische Atmosphäre hinterlassen haben. Hier in der warmen, feuchten Karibik, fern von putinscher Repression, erfüllen sie sich ihren Traum von Freiheit und Sorglosigkeit, wenn auch nur vorübergehend. Schade, dass die beiden nach Verzehr ihres Salates nicht länger am Nachbartisch verweilen!

Octavio Paz hat während seiner langen Laufbahn im diplomatischen Dienst seines Landes einerseits profitiert von der Außensicht auf die Geschehnisse der mexikanischen Gesellschaft, die seinen Blick auf die autoritären Herrschaftsmechanismen geschärft hat, zum anderen hat er unter der materiellen Abhängigkeit vom PRI-Regime (partido revolucionario institucional) gelitten, das ihm seine schriftstellerische Freiheit einengte. Die PRI, die jahrzehntelang das mexikanische Volk unter seiner drakonischen Fuchtel verwaltete, hatte die politischen Ziele seines Großvaters (liberale Revolution) und die seines Vaters (Agrarrevolution von Emiliano Zapata) zugunsten der ungezügelten Herrschaft der „Nationalen Oligarchie“ verraten. Bei der Durchsicht der Lebensabschnitte von Octavio Paz stelle ich immer wieder Parallelen mit der deutschen Nachkriegsgeschichte fest, in der es nur so wimmelt von fähigen Persönlichkeiten, die sich jedoch ängstlich, um nicht zu sagen feige, vor dem jeweiligen christdemokratischen oder sozialdemokratischen Regime duckten und weiterhin vornehme Zurückhaltung walten lassen, um nicht der Brosamen der Regierenden verlustig zu gehen. Anders ist die ungetrübte Alternativlosigkeit des Merkelschen Totspardiktates und der Soziale Kälte-Politik seit Schröder/Fischer nicht zu verstehen.

Nanu, wer kommt denn da auf die Restaurantterrasse gestürmt? Drei kleine farbige Kinder mit Mini-Rasta-Frisuren suchen einen freien Tisch. Hinterdrein folgt ihre Mutter, eine zierliche, jugendlich elegante Mischung aus Ségolène Royal und Catérine Deneuve. Ja, und dann darf auch nicht die imposante Erscheinung eines Rastafari fehlen, dessen Samsonsche Löwenmähne der von Bob Marley zur Ehre gereicht. Was mag dieses ungleiche Paar, diese Familie nach Bocas, nach Carenero verschlagen haben? Unwillkürlich muss ich an die Kür des damaligen französischen Präsidentschaftskandidaten Hollande denken. Er war mit Abstand der schwächste Kandidat seiner Partei, wie heuer in Deutschland ein Steinbrück es ihm nachzumachen versucht. Die französischen Sozialisten hatten wesentlich fähigere Kandidaten, vor allem Frauen, als Hollande an der Spitze ihrer Partei. Aber sie meinten offensichtlich, es sei von Vorteil, dem Macho Sarkozy ebenfalls einen Möchtegern-Macho entgegenzustellen. Und wie kommt es, dass diese aparte Französin sich in diesen exotischen, paradiesischen Winkel der Erde mit drei süßen Kindern verirrt?

Der Rastamann lässt sich nicht lange aufhalten. Er verfrachtet seine Familie an meinen Nebentisch, den die attraktiven Russinnen gerade verlassen haben. Ist es die Lebensphilosophie der Rastafari von Menschlichkeit, Friedfertigkeit, Einfachheit des Lebens gemischt mit viel Liebe, Leidenschaft, Musik und Marihuana, die ihn rastlos zu seiner weiblichen Schülerschaft hinweg zieht, die sehnsüchtig auf ihren kraftvollen Englischlehrer wartet? Jedenfalls fallen mir etliche Beispiele junger Frauen aus dem Bekanntenkreis ein, die ebenso den Verheißungen von Liebe und Sexualität in der Karibik unhinterfragt erlagen und erliegen. Warum auch nicht, angesichts des weitgehenden Fehlens von Leichtigkeit und Lebensfreude in nördlichen Breitengraden? Und warum auch nicht, angesichts der immer größer werdenden Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit in den Metropolen der industriellen Welt, die von jungen Menschen entweder rigorose Anpassung an Kapitalzwänge verlangen oder mit materiellem Ausgegrenztsein drohen? In Carenero lässt sich für 500 Euro monatlich ein unbeschwertes Leben fernab von Konformität und Opportunismus genießen. Das scheint sich herumgesprochen zu haben.

An der hölzernen Bar beobachte ich schon lange einen kleinen, verschrobenen Mann in fortgeschrittenen Jahren, der seinen Kopf gerade über den Tresen schieben kann, an einem Bier nuckelt und unaufhörlich auf das schwarze Mädchen hinter der Kasse einredet. Er ist ein waschechter „gringo“ aus Texas, der am morgigen Montag seinen Flug in die Heimat antritt. Die unbekümmerten lasziven Bewegungen dieses Mädchens werden ihm sicher noch lange schlaflose Nächte in Texas bereiten. Allein deshalb hat sich für ihn die kurze Flucht aus einem sonst trüben Dasein gelohnt.

Dann sind da einige Tische von mir entfernt zwei Italiener in den besten Jahren, ihre muskulösen Körper mit allerlei Tätowierungen verziert. Ihre bloßen Füße und Beine unter dem Tisch tragen einen ständigen Flirt miteinander aus, der über dem Tisch seine Fortsetzung in ihrem Minenspiel findet. Das turtelnde Pärchen scheint überhaupt keine Aufmerksamkeit zu erregen. Bin ich der Einzige, dem die Italiener besonders ins Auge fallen? Sollten sie Opfer des deutschen Totspardiktates in der Eurozone sein? Sollten sie dank Monti aus dem italienischen Staatsapparat wegrationalisiert sein und das Sozialsystem für einen Billigtrip in die Karibik ausnutzen? Die Beantwortung dieser Frage schiebe ich mir auf. Ich will mir die Lektüre, die diskreten Beobachtungen und die tropische Nachmittagsstimmung nicht durch Merkels Europolitik vermiesen lassen. Hier am Ende der Welt ist jeder willkommen und so oder so schon viele Male hier gewesen. Das trifft ganz besonders auf die Gruppe von vier einheimischen jungen Frauen zu, deren Männer als Bootstaxifahrer ihren Lebensunterhalt verdienen. Am anderen Ende der Terrasse genießen sie bei von Rum veredelten Fruchtsäften den Nachmittag und symbolisieren in ihren Gesten und üppigem Äußeren am besten die karibische Atmosphäre bei Salsa- und Reggaemusik und sehnsüchtigen Boleros.

Der leichte Regen, der meinen Nachmittag auf der Terrasse begleitet hat, scheint eine Pause einzulegen. Eilig mache ich mich auf den Rückweg nach Bocas. Wer weiß, wann die nächste Dusche einsetzt? Doch mein Marsch unter Palmen und riesigen Bäumen wird jäh unterbrochen. Wenn es doch nur ein warmer Nieselregen wäre, bei dem es sich lohnt, träumend die feuchte, dampfende Natur zu genießen! Nein, es ist ein Platzregen, der mich unter das Dach einer strohgedeckten Herberge für Rucksacktouristen spült. Unversehens finde ich mich inmitten einer Gruppe von 20jährigen Euro- und US-Gringos wieder, die zumeist in Hängematten baumelnd, ipad-versessen, Kommunikation mit irgendwem in irgendwo betreiben. Der Zufall will es, dass ich neben einer Deutschen auf einer Holzbank Platz finde, wo der Regen wie ein silbrig-streifiger, vom Dach herunterrinnender Vorhang die umliegende Natur in ein diffuses, flackerndes Licht taucht.

Andrea ist Anfang 20, arbeitslos, auf der Suche nach einer Beschäftigung. Mit Unterstützung der Eltern hat sie sich nach Bocas aufgemacht, um einen einmonatigen Yoga-Kursus zu absolvieren, an deren Ende sie eine Bescheinigung als anerkannte Yoga-Ausbilderin zu erhalten hofft. Das soll ihr, wenn das Experiment erfolgreich verläuft, einen Berufsstart in Deutschland oder auch anderswo ermöglichen. Im Laufe unserer Unterhaltung über die Zukunftsaussichten von deutschen und europäischen Jugendlichen kann ich eine aufkommende Wut nur schwerlich unterdrücken. Warum muss halb Europa für die junge Generation zu einer Wüste verkommen, in der die Träume für die Zukunft im Sand versiegen, ohne Wurzeln zu schlagen? Wo sind die Initiativen, die jungen Menschen in gemeinschaftlicher Ausbildung, Organisation und Arbeit für lokale Bedürfnisbefriedigung eine Heimat bieten können? Wo ist die Verantwortung des Staates, über nichtkapitalistische Lösungen des Lebens und Arbeitens nachkommender Generationen nachzudenken und Modellversuche ingangzusetzen? Sind die deutsche und die europäische politische Klasse derart in den Klauen des Kapitals gefangen, dass allseits nur noch wüste Merkelsche Alternativlosigkeit vorherrscht, wo das Auge hinblickt? Wird die Verheißung der Aufklärung von politischer Freiheit, Menschlichkeit und würdigem Leben für immer eine Schimäre bleiben? Kann es nicht zukünftig neben nachhaltiger Produktion von Massenkonsumartikeln für Milliarden Menschen auch lokale, von den Menschen selbstbestimmte Produktion und Konsumption geben?

Andrea und ich haben an diesem Nachmittag keine Zeit für Antworten auf diese Fragen. Der Regen hat ein wenig nachgelassen. Dieses Mal muss ich den Sprung hinüber nach Bocas schaffen, denn es wird bereits dämmerig. Und tatsächlich gelingt die Überfahrt bis zum dreistöckigen über dem Wasser gebauten Bocas Town Hotel, ohne völlig nass zu werden. Dessen freundliche Rezeptionistin Alena kam 2010 im Frühjahr aus der Ukraine nach Bocas. Sie gehörte dem „Block Julija Timoschenko“ an und wurde nach der Wahlniederlage von Frau Timoschenko bei der ukrainischen Präsidentschaftswahl zusammen mit anderen Parteimitgliedern Opfer verschiedenster politischer Repressalien der vom neu gewählten Präsidenten Janukowytsch kontrollierten Regierung. Ihre Emigration bis nach Bocas erwies sich bisher als glücklicher Lebensumstand.

Das Abendessen findet im malerischen Restaurant „El Limbo“ (Karibiktanz unter einer Stange hindurch) statt. Spanische Musiker haben sich angesagt. Die Restaurantterrasse erhebt sich etwa ein Meter über dem Meereswasser, ist mit einer zu den Seiten offenen Plane bedeckt und verbreitet eine heimelige Atmosphäre. Mein Tisch befindet sich in unmittelbarer Nähe des Anlegesteges des Restaurants und der Nachbarschaft anderer Restaurants und Hotels. Man hat den Eindruck, man könnte in Bocas von einem Steg oder einer Terrasse über das Wasser zu den anderen springen. Wieder regnet es in Strömen. Die silbern blinkenden Fäden von der Plane bis hinunter in das jetzt schwarze, geheimnisvolle Wasser bilden einen fantastischen Schleier um die Terrasse herum. Der Rotwein tut das Seine, um die Stimmung und Herzen der Menschen zu öffnen.

Es dauert nicht lange, da kommt das angesagte spanische Musikerpärchen. Carmen ist eine junge Sängerin und Tänzerin, Juan ein Sänger und Gitarrenspieler. Schließlich stößt noch ein dritter Musiker hinzu, Enrique, der das Holzschlaginstrument bearbeitet. Da die Drei nur einige Meter von meinem Tisch entfernt ihre unsichtbare Bühne aufmachen, habe ich Gelegenheit, mich mit ihnen zwischen den Liedern zu unterhalten. Ihre Musik ist hauptsächlich eine Mischung aus Flamenco und Bolero. Dazu kommen internationale „Bestseller“, aber stets unterlegt mit vom Flamenco entlehnten Rhythmen. Carmen begeistert die Gäste mit gelegentlichen temperamentvollen Tanzeinlagen, die ebenfalls Kreationen aus Flamenco und Bolero darstellen.

Von Beginn der Darbietungen an habe ich das Gefühl, dass die drei Musiker keine Berufsmusiker sind, was sich auch im Verlauf des Abends bestätigen soll. Sie kommen aus Katalonien und versuchen, dem wirtschaftlichen Niedergang und der Arbeitslosigkeit ihres Heimatlandes in der Karibik zu entgehen. Von Bocas soll es später nach Costa Rica weiter gehen. Sie hoffen, sich irgendwie materiell durchschlagen zu können. Unsere gewechselten Wortfetzen drehen sich um das „Merkelsche Totspardiktat“, das vom derzeitigen spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy eins zu eins umgesetzt wird, und dessen „Todes- und Elendsbilanz“ langsam immer erbarmungsloser zuschlägt. Das ist abzulesen an erhöhter Selbstmordrate, erhöhter Kindersterblichkeit, erhöhtem allgemeinen Krankheitsstand durch die drastischen Kürzungen im spanischen Gesundheitswesen, unaufhörlich steigender Arbeitslosigkeit und öffentlicher wie privater Verschuldung. Das ist aber auch abzulesen am siechenden Selbstbewusstsein der einst stolzen Spanier zu Beginn der ersten Zapatero-Regierung während der gleichzeitigen „glorreichen“ Schröder/Fischer-Regierung, der Einführung des Euro und der Verkündung der „Agenda 2010“.

Es ruft immer wieder Traurigkeit und Verbitterung hervor, Zeuge zu werden, wie die „Seele“ eines Volkes unter der verfehlten Politik seiner Herrscher leidet. Im Falle des heutigen Spaniens leidet nicht nur die Psyche der Spanier, es leidet auch die Physis dieser Menschen, was sich zum ganz großen Teil unsere derzeitige Schwarz-Gelbe Koalition mit der Kanzlerin an der Spitze zugutehalten kann. Ich frage mich immer wieder: Warum muss gerade mein Heimatland als Hegemonialmacht innerhalb der Eurozone Elend unter den europäischen Völkern ausstreuen? Warum passiert nichts gegen die miserable Mediokrität unserer deutschen Regierungen? Müssen meine Enkelkinder ein ethisch und materiell heruntergewirtschaftetes Deutschland und Europa beerben, nur weil meine 68er Generation gründlich versagt hat? Versagt ebenso wie die Generationen meiner Vorväter?

Die Nacht von Sonntag auf Montag wird für mich zu einer unruhigen, schlaflosen. Ich frage mich, wie oft wohl Octavio Paz in ähnlichen Gedanken an sein Heimatland vergeblich den Schlaf herbeigesehnt hat.

(*) verbracht am 12. Mai 2013 mit meiner Tochter Lena, meiner Nichte Naomi und meinem Schwiegersohn Patrick

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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