Erlebnisse in der "Dritten Welt"

Guinea Bissau (3) Arbeits- und Lebensstationen im Ausland seit 1976. Aufzeichnungen für die Daheimgebliebenen und "Atempause" vom Weltgeschehen für die Ostertage 2014

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Guinea Bissau (3)

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Foto: Die „Pensão Central“ auf der Avenida Amilcar Cabral, die vom Präsidentenpalast hinunter zum Hafen führt. Quelle: Picasa, „Rui’s öffentliches Web-Album“

Es war im Oktober 1977. Meine leuchtend grüne Kawasaki, Enduro 125, beinahe das einzige Motorrad weit und breit in Guinea Bissau im Jahre 1977, hatte ich gerade auf der Höhe der auf dem Foto zu erkennenden Frau links vor der „Pensão Central“ abgestellt. Ich kniete vor der Kawasaki, um die Sicherungskette am Hinterrad des Motorrades zu befestigen. Die glühende, senkrecht stehende Sonne kurz nach 12 Uhr mittags blendete beide Augen bei der Umsicht. Doch ich konnte schemenhaft erkennen, dass sich auf der gegenüberliegenden Seite der Avenida drei junge Frauen auf den Weg herüber zur „Pensão Berta“ begaben, wie die Pension von uns liebevoll genannt wurde. Die Bezeichnung hat ihren Ursprung wegen der mütterlichen Wirtin des sorgfältig gepflegten Etablissements, der „Tante Berta“, die der Auswanderungswelle ihrer portugiesischen Landsleute in die Metropole zu Ende des Befreiungskampfes widerstanden hatte.

Bevor ich mich aufrichtete, um bei Tante Berta im ersten Stock zu Mittag zu speisen, kamen die drei Frauen keine zwei, drei Meter an mir vorbei. Ich kniete noch vor dem Motorrad und konnte nicht umhin, meiner Neugier freien Lauf zu lassen, um den Blick auf die Frauen zu werfen. Da traf es mich, als ob mein Herz mit einem Mal stehen bliebe. Meine Augen kreuzten sich für Sekunden mit den Augen der größeren der drei Frauen, und es war um mich geschehen. Es war Liebe auf den ersten Blick. So etwas war mir bis dahin im Rahmen meiner Begegnungen mit Frauen nicht vorgekommen, trotz Enttabuisierung der Sexualität durch die „Sexuelle Revolution“ der 68er-Bewegung.

Ich beeilte mich, den Frauen auf den ersten Stock zu folgen. In dem weiten Speisesaal saß ich gewöhnlich an einem langen Tisch zusammen mit jungen portugiesischen Lehrern, die aus der früheren Kolonialmetropole kommend in Bissau im Rahmen eines Regierungsvertrages zwischen Portugal und Guinea Bissau den Gymnasialunterricht aufrecht erhalten sollten. Mein Tischnachbar war Carlos, ein Geschichtslehrer, der während des portugiesischen Faschismus’ in Schweden politisches Asyl gefunden hatte, aber nach der Nelkenrevolution ins Mutterland zurückgekehrt war. Die jungen portugiesischen Lehrerinnen und Lehrer waren hauptsächlich aus Neugierde in die ehemaligen Kolonien ausgereist, um das Erbe ihres einstigen kolonialen „Imperiums“ aus der Nähe kennenzulernen und Wiedergutmachung für die Gräueltaten ihrer Vorväter zu betreiben. In ihrem Heimatland waren sie von den schönfärbenden Geschichten und der Nostalgie hunderttausender Rückkehrer in allen Bars von Lissabon und anderen Städten neugierig gemacht worden. Der Unterricht in Afrika bot auch die Gelegenheit, in der Unruhe des Demokratisierungs- und Findungsprozesses von Portugal nach der Diktatur eine einigermaßen gut bezahlte Stelle zu finden.

Hinter vorgehaltener Hand fragte ich Carlos, wer denn diese drei Frauen an dem kleinen Tisch am Eingang des Speisesaales wären. Die mehr als 50 zu Beginn des neuen Schuljahrs angekommenen Lehrkräfte, die ihre festen im Saal verteilten Sitzplätze mit vor ihnen stehenden Vitamin- und Antimalaria-Tabletten gekennzeichnet hatten, sollten von meiner inneren Aufruhr bloß nichts erahnen. Carlos lächelte weise. Dabei verzog sich sein Kinnbart in seiner typischen Art, die mir inzwischen vertraut geworden war. Er meinte nur, dass etliche seiner Kollegen ein gesteigertes Interesse hätten, die größte der drei Frauen kennenzulernen.

S. hatte kapverdisch-portugiesische Wurzeln. Unsere zweijährige Beziehung, hauptsächlich in Guinea Bissau, aber auch temporär in Portugal und Deutschland erlebt, wurde für mich zu einer bittersüßen Liebesgeschichte, die auch exemplarisch für den bittersüßen Neuanfang des unabhängig gewordenen Landes war. Liebe und Schmerz, beides bis zur Neige, und beides stellvertretend für individuelles und kollektives Erleben.

S. und ich fielen übereinander her, wie Suchende, die die Liebe zum ersten Mal entdecken wollten, obwohl wir beide keineswegs „unschuldig“ waren. Vielleicht oder sicher trug auch unsere tropische Umgebung dazu bei, uns „vogelfrei“ und sinnesdurstig zu fühlen, bei aller Verantwortung, die wir für unsere Arbeit empfanden, und der wir mit gesteigerter Aufmerksam nachkamen.

Unsere stürmische Begegnung fand genau ein Jahr nach meiner Ankunft in Guinea Bissau statt. Ich hatte schon seit mehr als einem halben Jahr eine Kooperative mit den „Pepel“, einer animistischen Ethnie, die in der Umgebung der Hauptstadt beheimatet war, gegründet. Nach meiner Ankunft stand mir zuerst ein Fahrrad zum Transport zur Verfügung, das mir Freunde der Amilcar Cabral Gesellschaft mitbrachten. Ein halbes Jahr später, als ich mit einem Vertrag mit „Dienste in Übersee“ ausgestattet war, konnte ich mir diese schnieke, leichte Kawasaki leisten, die das ideale Fortbewegungsmittel in der guineischen Savanne war. Mit Benzinkanistern, einer „esteira“ (Binsenmatte zum Schlafen) und einem Mückennetz war ich sozusagen unabhängig, um mich im ganzen Land frei bewegen zu können. Damals gab es in Guinea Bissau nur wenige Autos: Etwa 30 nagelneue Volvos mit „air condition“ für die Minister und den Präsidenten Luis Cabral, Bruder von Amilcar Cabral, dem Gründer der PAIGC, der noch vor der Unabhängigkeit des Landes im benachbarten Guinea-Conakry auf mysteriöse, bis heute ungeklärte Weise ermordet wurde. Die Volvos waren das Unabhängigkeitsgeschenk der schwedischen Regierung. Andere Fahrzeuge waren Militärfahrzeuge aus den Ostblockstaaten. Darüber hinaus existierten einige Autos und Lastwagen von ehemaligen portugiesischen Farmern und uralte Pick-ups, die als Buschtaxis dienten. Motorräder: Fehlanzeige. Konkret hieß das, dass außerhalb der Hauptstadt der Transport äußerst beschwerlich war. So wurde alsbald das Motorengeräusch meiner Kawasaki und die grüne Farbe seines Benzintanks durch meine häufigen Fahrten in den Busch bekannt und lockte die „tabanca“ (Dorf-)-Bewohner herbei, besonders die Kinder.

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Foto: Wikimedia Commons, typisches Dorf in Guinea Bissau, Küstennähe

Man muss sich vorstellen, dass noch drei Jahre vorher die portugiesische Militärmaschinerie mit mehreren zehntausenden von Soldaten das kleine Land terrorisierten. Nach dem Abzug der Kolonial-Truppen wurde es urplötzlich “still“ im Lande. Die Guineer, die zum überwiegenden Teil die PAIGC-Guerilla in ihrem Befreiungskampf unterstützt hatten, vermieden, so gut es ging, den Kontakt zu den portugiesischen Militärs. So rief mein unvermitteltes Auftauchen auf der Kawasaki Enduro im Innern des Landes aber auch in den „bairros“ (Stadtvierteln) der Hauptstadt Neugierde hervor. War ich ein Zeichen des „Wiederaufbaus“, den die PAIGC propagiert hatte, von dem aber die Bevölkerung nicht die geringste praktische Vorstellung hatte?

Ich fuhr mit S. häufig nach Jal, um ihr die Pepel-Kooperative, etwa 10 Kilometer hinter dem Flugplatz landeinwärts gelegen, zu zeigen. Das geschah normalerweise in den späten Nachmittagsstunden bei Sonnenuntergang, wenn die 120 Frauen und 30 Männer der Kooperative nach getaner Arbeit auf den Gemüse- und Zuckerrohrfeldern noch eine Stunde mit Block und Stift bewaffnet versuchten, die verschiedenen Pflanzen- und Tierarten zu buchstabieren und aufzukritzeln. Die Analphabeten-Rate der Bevölkerung war zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit grösser als 90%, und das Ziel der Kooperative bestand, neben der Diversifizierung der Landwirtschaft auch in der Alphabetisierung seiner Mitglieder. Im ganzen Land gab es nur eine Handvoll im Ausland geschulter Akademiker und etwa 1.000 Oberschüler. Dazu kamen ungefähr 1.000 angelernte Arbeiter in der kleinen Schiffswerft am Hafen und in zwei Fabriken für Palmölherstellung und Entschälung von Erdnüssen und Reis. Alle anderen Guineer entbehrten jeglicher formaler Ausbildung.

Oft begleiteten der 30jährige Benjamin, der politische Verantwortliche von Jal und ehemalige Guerillakämpfer sowie Maria, seine Frau, S. und mich durch die Kooperativ-Felder unter den Öl-Palmen zu den „Reis-bolanhas“ hinunter und zum Fluss, wo ich mit Hilfe von Fangnetzen aus Deutschland versuchte, die Flussfischerei der Dorfbevölkerung ertragreicher zu gestalten. Benjamin und einige Männer fertigten zu diesem Zweck ein Boot aus einem riesigen Baumstamm. Dieses musste vor erstmaligem Gebrauch eine Einweihungszeremonie mit Zuckerrohrschnaps und Anrufung der Dorf-Geister überstehen. Vor Bearbeitung der Felder und Ausrücken zum Fischfang ist die Gnädig-Stimmung der Geister („iran“) obligatorisches Ritual, ansonsten misslingt menschliches Handeln. So hat auch jede Familie nicht weit von der mit Stroh gedeckten viereckigen Lehmhütte eine Mini-Kapelle aus Holz am Fuße des ältesten Baumes in unmittelbarer Nähe, wo dem speziellen Familiengeist mit Nahrungsmitteln, wie bspw. Hühnchenresten, gehuldigt wird. Wie die übrigen zahlreichen, schlangengleichen Deltaflüsse des Rio Geba füllte sich auch der Fluss von Jal bei Flut mit eingespültem Fisch aus dem Atlantik. Bei Ebbe entleert sich der Fluss soweit, dass er von Dorfbewohnern zu Fuß durchquert werden kann. Bevor S. und ich dann bei einbrechender Dunkelheit zur Stadt zurückkehrten, bot sich uns oft ein Abschiedsblick wie auf untenstehendem Foto dar.

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Foto: Wikimedia Commons, Guinea Bissau, Dorfbewohner durchqueren Fluss bei Ebbe

Liebe Ostergrüsse aus Panamá, CE

PS: Fortsetzung folgt

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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