Goedzak zu Ehren

Einen Guten Morgen! Dem fleißigen und gewissenhaften deutschen Arbeitnehmer gewidmet.

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Ihre Freitag-Redaktion

Lieber Goedzak (und liebe dFC):

Dicke Entschuldigung für das gestern angetane Ungemach! Ich wollte Dein Frühstück vor Verlassen des Hauses in die klimatische und soziale Kälte der Republik hinein nicht durch das Lesen meines Blogs über das Untertanen-Dasein im Merkel-Staat versauen. Es ist ohnehin eine Zumutung, die allumfassende Kälte auch ohne Worte ertragen zu müssen. Da sollten Blogger am warmen Strand in Panamá nicht zusätzliche Pein verursachen. Goedzak, verzeih meine mangelnde Sensibilität. Deshalb ist heute Wiedergutmachung angesagt.

Ich hoffe, Dir mit einem kleinen Beitrag die nötige Wärme zu verpassen, bevor Du das Haus verlässt. Vielleicht kannst Du so den Unbilden des Alltags mit einigem Frohsinn begegnen, auch wenn die Geschichte eines jungen Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung abermals miefigen deutschen Filz verspricht, der aber in einer ersten Begegnung mit der großen multikulturellen Welt einiges an Verstaubtheit verlieren sollte. Du wirst fragen: Muss CE denn unbedingt seine verdammten „Seilschaften-Vorbehalte“ an mir abarbeiten? Ich will doch den letzten Arbeitstag der Woche halbwegs genießen, da passt mir der SPD-Filz überhaupt nicht in den Kram. Steinbrück trinkt seinen Likör gottseidank bei anderen Normalbürgern im Schröderschen Norden, um seine ohnehin verlorene Wahl schnell abhaken zu können. Die nährende Brust des deutschen Kapitals wartet wie immer wohlwollend auf ihn. Mich lässt dieses Politiker-Spektakel kalt! Wenigstens heute soll es mit Stimmung zur Arbeit gehen! Gestern Merkel, heute Steinbrück, das ist für einen schlichten Normalbürger einfach zu viel!

Goedzak, genau das Entschweben von der täglichen, von Berlin verursachten, "Alltags-Folter" verspreche ich Dir. Lass Dich einfach mitnehmen und fühle Dich wie der kleine Fritz, der zum ersten Mal munter hinaus in die weite Welt stiefelt. Ich weiß nicht, ob Du die Geschichte als das Morgen-Bonbon auffasst, vielleicht auch als Curry-Wurst, wenn wir schon im Schröderschen weilen, als hartes Ei oder, ich würde vorschlagen, verspeise die Geschichte wie ein knuspriges, warmes Croissant, gefüllt mit heißer Schokolade, die Lust auf das kommende Wochenende macht.

Die hier folgende kleine Geschichte aus Paris, die Dich hoffentlich in Laune bringen wird, ist meinem Roman „Abschied von Bissau“ entnommen.

Paris

Thomas war ein mittelmäßiger Schüler auf einem gemischten, deutsch-französichen Gymnasium im Badischen gewesen. Auf seiner Schule waren einige Kinder von französischen Offizieren und zivilen Angestellten der Armee aus dem Nachbarland, die im Südwesten der Republik stationiert waren. Sein Französisch war so, dass er ohne Weiteres in Frankreich ein Hochschulstudium aufnehmen konnte. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie und gehörte der ersten Welle von Arbeiterkindern an, die seit Ende der sechziger Jahre auf die Universitäten strömten, was auch ein Verdienst der Studentenbewegung war. Sein Vater war Betriebsrat bei Mercedes. Er hatte nach der Volksschule eine Automechanikerlehre in dem Stammwerk von Mercedes begonnen und war als eifriges SPD- und Gewerkschaftsmitglied nach einigen Jahren in den Betriebsrat gewählt worden. Er hatte sich besonders dadurch hervorgetan, dass er an vorderster Stelle mithalf, den ‚Marsch durch die Institutionen‘ der antiautoritären Studentenrevolte in seinem SPD-Ortsverein schon nach kurzer Zeit zum Halt zu bringen. Die radikalen Studenten, die in die Jungsozialisten eingetreten waren, hatten versucht, im Ortsverein der SPD die Führung zu übernehmen. Thomas Vater gelang es jedoch, die Gewerkschaftler in der Partei gegen die Akademikersöhne und -töchter zu mobilisieren und eine Radikalisierung des Ortsvereins zu verhindern. Die Parteiführung in Stuttgart war ihm dankbar dafür und hatte sich für seine Wahl in den Betriebsrat eingesetzt. Vielleicht würden die Parteigenossen ihn sogar als Kandidat für die nächsten Stadtratswahlen vorschlagen.

Für seinen Sohn hatte er Großes vor. Der könnte mal nach einem Hochschulstudium in der Partei weit aufsteigen, es mit entsprechenden Verbindungen sogar zum Bundestagskandidaten schaffen. Dazu wäre es nötig, die Verbindungen zu einflussreichen Parteigrößen frühzeitig zu knüpfen. Auch müsste Thomas möglichst ein von der Partei finanziertes Stipendium bekommen, dann wäre eine erfolgreiche Karriere so gut wie sicher.

Es gelang Thomas tatsächlich, ein Stipendium von der parteieigenen Friedrich Ebert Stiftung zu bekommen. Außerdem kam er um den Wehrdienst herum, da er Atteste vorlegen konnte, die seine angeblichen gesundheitlichen Schwächen belegten. Er wollte politische Wissenschaften und Jura in Paris an der Sorbonne Universität studieren und brannte darauf, von Baden in die französische Hauptstadt umzusiedeln. Ein Studium in Paris würde ihm ein weltmännisches Flair verleihen, das ihn gegenüber den Kollegen aus der badischen Provinz unterscheiden würde. Das erste Semester sollte nach den Sommerferien 1979 beginnen. In den Ferien war er auf Zimmersuche und fand nach einigem Suchen ein billiges Zimmer in Montmartre, etwas unterhalb von Sacré Coeur.

Thomas und sein Vater Helmut waren stolz auf den Großvater, der als Sozialdemokrat im Dritten Reich üblen Schikanen der Nazis ausgesetzt war, und in Stalingrad gefallen war. Helmut profitierte als junges Mitglied in der Partei von diesem ‚Bonus‘ seines Vaters. Immer wieder erwähnte er Thomas gegenüber, dass sich Loyalität im Verhältnis zu den Genossen auszahlen würde. Sie stellten seit 1969 erst mit Willy Brandt und jetzt mit Helmut Schmidt den Kanzler und würden Gefolgstreue honorieren. Die CDU/CSU und die FDP machten das genauso. Wohlverhalten und Anpassung an die Hauptströmungen der drei Parteien seien das Rezept in der Bundesrepublik, um sich einen gesicherten Lebensabend zu verdienen. Seit Gründung der Bundesrepublik 1949 hatten es die CDU/CSU, SPD und FDP geschickt verstanden, den ‚Kuchen‘ der öffentlichen Haushalte unter sich zu verteilen. Die ‚Antiautoritären‘ würden das noch zu spüren bekommen, spätestens, wenn es um die Absicherung des Berufs und die Pensionsansprüche ginge. Thomas sollte sich merken, dass auch in der übrigen Gesellschaft das berufliche Fortkommen auf dem Schmieden von Verbindungen beruhte, sei es innerhalb der Gewerkschaften und der Berufs- und Unternehmerverbände oder der Kirchen. Es gälte immer die Regel, dass seine individuelle Freiheit den Zwängen der institutionellen Machtstrukturen in der Republik unterworfen sei. Und gottseidank seien diese ja pluralistisch und nicht diktatorisch wie im sozialistischen Teil Deutschlands. Wenn er allerdings den Hauptstrom verlassen würde, weil ihm persönliche Prinzipien wichtiger wären, dann müsste er mit Ausschluss aus den Privilegien des bundesrepublikanischen Systems rechnen.

Der neunzehnjährige junge Mann aus Deutschland war von angenehmem Äußeren. Schon in der Schule war er der Schwarm von zahlreichen Mädchen seiner Schule gewesen. Mit achtzehn Jahren hatte er sein erstes großes Liebesabenteuer mit einer Studentin seiner Heimatstadt, die wie er Mitglied der Jungsozialisten war. Bei der letzten Landtagswahl hatten sie gemeinsam die Trommel für die SPD gerührt und mitgeholfen, den Direktkandidaten der Partei in den Landtag zu hieven. Sie hatten Informationstische der Jungsozialisten in der Innenstadt aufgestellt und besonders die Jungwähler angesprochen. Am Abend der Siegesfeier ihres Kandidaten gab es im Parteibüro ein rauschendes Fest mit jeder Menge Bier und Currywurst. Als Thomas seine Freundin dann mit dem Mercedes seines Vaters nach Hause brachte, hielten sie in einem Waldstück und liebten sich auf dem Rücksitz. An den folgenden Tagen blühte er förmlich in der Schule auf und begann von seiner Karriere in der Partei zu träumen. Auch er wollte einmal im Mittelpunkt einer Wahlnacht stehen und anschließend mit einem wohldotierten Gehalt seinen Wahlkreis vertreten. Vielleicht würde er es sogar von der Provinz aus in die Hauptstadt schaffen. Eine solche Karriere würde es ihm auch erlauben, später einmal ein eigenes großzügiges Haus an den Westhängen des Schwarzwaldes zu bauen oder zu erwerben.

Seine Wirtsleute im Montmartreviertel waren beide schon über die siebzig. Sie hatten im Erdgeschoss des Hauses ein Antiquitätengeschäft, das sie mithilfe einer Angestellten weiter unterhielten. Ihre Ressentiments gegenüber den Deutschen, die ihre Ursache in der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges hatte, waren mit den Jahren vergangen, vor allem auch, weil unter ihrer Klientel viele Deutsche waren. Sie selbst wohnten im ersten Stock und vermieteten den zweiten an ausländische Studenten. Thomas hatte einen jungen Schweden, der Französisch als erste Fremdsprache studierte, als Zimmernachbarn.

Schon nach einigen Monaten hatte sich Thomas an den Unibetrieb in Paris gewöhnt. Er aß mittags mit all den anderen Studenten in der Mensa und teilte sich mit seinem Zimmernachbarn einen Kühlschrank, in dem er immer etwas für abends oder morgens aufbewahrte. Auch teilten sie sich einen Gasherd, einen Tisch und Stühle auf dem Stockwerk. Doch Thomas liebte es, morgens vor dem Unibesuch in einem nahen Bistro seinen Milchkaffee zu trinken und eine Baguette mit Schinken und Käse zu essen. Dabei durfte selbstverständlich die Lektüre von „Le Monde“ nicht fehlen. So gestärkt pflegte er dann zur nächsten Metrostation zu gehen und die Bahn zur Universität zu nehmen, um an den Vormittagslesungen teilzunehmen. Die Nachmittage dienten normalerweise einigen einführenden Seminaren oder dem Bücherstudium in der Bibliothek. Die Menschen seiner Umgebung im Stadtviertel gewöhnten sich an sein Erscheinen und freuten sich, dass Thomas so aufgeschlossen und stets freundlich war. Einmal im Monat nahm er den Schnellzug nach Straßburg und fuhr von da aus in seinen Heimatort, wo er sich mit seiner Freundin traf, die in Freiburg Jura studierte. Sein Vater nutzte diese Besuche, um von Thomas zu erfahren, wie er sich in Paris eingelebt hätte, und was seine Studien machten.

Anfang Dezember traf Thomas Lourdes zum ersten Mal. Es war in der Mensa. Er hatte sein Essen auf dem Tablett und suchte einen freien Tisch. Kurz nach 13 Uhr war es immer schwierig, noch einen Platz zu bekommen, aber neben zwei farbigen Studentinnen war gerade ein Platz frei geworden. Die beiden unterhielten sich in einer Sprache, die er zuerst nicht erraten konnte. Auf Französisch fragte er sie, aus welchem Land sie kämen. Sie kamen aus Portugal, hatten aber ihre Ursprünge in Guinea Bissau und den Kapverdischen Inseln. Thomas wusste sehr wenig von beiden Ländern, nur dass sie ehemals portugiesische Kolonien waren. Die jungen Frauen waren ausnehmend attraktiv und für ihn fremdartig. Bisher hatte er nie Kontakt zu farbigen, schwarzen oder asiatischen Frauen und Mädchen gehabt, obwohl sich in Paris alle Rassen der Welt auf Schritt und Tritt begegneten. Seine Heimat, die badische Provinz, hatte zwar immer Kontakt zu Frankreich und im Süden auch zur Schweiz gehabt, aber die ‚Häuslebauer‘ im Südwesten der Republik waren im Allgemeinen weniger aufgeschlossen gegenüber Ausländern mit anderer Hautfarbe.

Da Thomas an diesem Tag kein Nachmittagsseminar hatte, kam ihm die Idee, die beiden Studentinnen zu einem Kaffee einzuladen. Sie sagten zu. Auch sie hatten gerade eine Pause zwischen den Vorlesungen, und so gingen sie zusammen zur Cafeteria hinüber. Jeder bestellte sich einen Cappuccini. Die beiden jungen Frauen stellten sich als Lourdes und Fátima vor und kamen aus Lissabon. Lourdes hatte gerade ihr Medizinstudium aufgenommen und Rita befand sich im zweiten Jahr ihres Ökonomiestudiums. Im Laufe des Gesprächs über ihre Heimatländer fanden sie Gefallen aneinander und machten aus, zusammen am kommenden Samstagabend eine Latinodiskothek nahe der „Champs Elisés“ und nicht weit vom „Place de l’Étoile“ entfernt zu besuchen. Die beiden Frauen würden noch einen Freund mitbringen.

Es kam in den siebziger Jahren selbst in Paris nicht so häufig vor, Paare unterschiedlicher Hautfarbe zu sehen. Auch unter den Studenten galt es als extravagant, eine Freundin oder einen Freund aus einem anderen Kontinent zu haben. Natürlich war man oft in gemischten Gruppen beisammen, studierte zusammen und besuchte gemeinsam Kinos, Bistros und Diskotheken, aber feste gemischte Liebesbeziehungen waren eher eine Ausnahme. Thomas war einfach neugierig. Er fand die beiden Frauen viel schöner als seine Freundin und seine ehemaligen Klassenkameradinnen. Er hätte wohl nicht den Mut gehabt, mit Beiden in seiner badischen Heimatstadt in einem Kaffee zu sitzen und die Aufmerksamkeit der örtlichen Bevölkerung auf sich zu ziehen. Aber in Paris, in der Umgebung der Universität oder in einer Diskothek, wo sich die Jugend der ganzen Welt traf und ihn keiner kannte, würde er sich nicht genieren.

Erklärender Einschub:

Die farbige Lourdes ist die Tochter von Joaquím, eines weißen Kapverdiers und Zuckerrohrfarmbesitzer in der jüngst unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonie Guinea Bissau. Ihre Mutter ist ein ehemaliges schwarzes Hausmädchen von Joaquím und war kurzfristig seine Geliebte. Ihre Schwangerschaft erzwang ihre Auswanderung nach Lissabon in die Metropole, da Joaquím in der weißen Kolonialgemeinde und verheiratet mit einer weißen Portugiesin die heimliche Beziehung mit der Mutter aufgeben musste. Lourdes wächst in Lissabon in der Umgebung von kapverdischen Freunden als farbiges Kind auf, macht eine Gymnasialausbildung auf einem von Nonnen geführten Internat, in dem sie dem alltäglichen Rassismus der weißen Mitschüler ausgesetzt war, und hat erst in den letzten zwei Jahren durch die Annäherung an ihren Vater und Besuche in Bissau angefangen, ihre bis dahin schwach ausgebildete Identität als Mischlingskind zu entwickeln. Nach erfolgreichem Schulabschluss finanziert ihr Vater, der im nationalen Befreiungskrieg durch die Schnapsherstellung ein Vermögen verdiente, das Medizinstudium seiner Tochter.

Fortsetzung der Geschichte:

Thomas, Lourdes, Rita und Eduardo trafen sich um acht Uhr abends am Ausgang der Metrostation „Place de l’Étoile“, dort, wo man linker Hand bis zum Place de la Concorde hinuntergeht. Es war um diese Jahreszeit schon empfindlich kalt in Paris. Für Lourdes sollte es der erste richtige Winter werden. Aber sie hatte sich im Herbst warme Kleidung gekauft, und sich dabei von Rita beraten lassen. Letztere drängte die anderen schneller zu gehen. Sie freute sich schon auf die Disco und die brasilianische „Caipirinha“, ein mit Zitrone und Zucker angerichtetes alkoholisches Getränk auf der Basis von „cachasa“, dem typischen Zuckerrohrschnaps aus Brasilien. Für den Samstagabend war eine cubanische „Salsa“-Band angesagt.

Die Latinodisco war um diese Zeit noch ziemlich leer, sodass sich die Vier einen freien Tisch im Obergeschoss sichern konnten. Die meisten Gäste würden erst nach dem Kinobesuch gegen elf Uhr eintreffen. Dann würde auch die Life-Musik beginnen. Ohne die anderen zu fragen, bestellte Rita erstmal vier „Caipirinhas“ zum Warmwerden. In der von Brasilianern geführten Disco gab es verschiedene pikante mexikanische Gerichte und das Essen wurde durch brasilianische „Bossa Nova“ begleitet, eine Musik, die auch Thomas gefiel. Für ihn war alles neu, die afrikanische Begleitung, die Latino-Atmosphäre, die Getränke, das Essen, die Musik. So etwas hatte er im Badischen noch nicht erlebt. Hier wurde hauptsächlich Spanisch und Portugiesisch gesprochen, die Weißen waren in der Minderzahl. Er dachte daran, was wohl sein Vater sagen würde, wenn er ihn hier sehen könnte. Und auch seine Freundin kannte so eine Umgebung wohl nicht. Aber darüber war er sich nicht so sicher. In Freiburg an der Uni gab es auch zahlreiche ausländische Studenten, und sie würde bestimmt nicht jedes Wochenende nur mit Freunden aus der heimischen Provinz verbringen.

Die „Caipirinha“ zeigte schon bald Wirkung und die Unterhaltung zwischen den jungen Leuten wurde lebhafter. Vor allem Thomas verlor nach und nach seine Hemmung gegenüber den drei ‚Afrikanern‘ und begann, sich sichtlich wohlzufühlen. Als sich dann nach elf Uhr abends die Disco mit jungen Menschen verschiedenster Hautfarbe ‚bis an den Rand‘ füllte, setzte die Salsa-Musik ein. Im ersten Stock war die Tanzfläche, die sogleich von Tanzlustigen in Beschlag genommen wurde. Rita und Eduardo hielt es ebenfalls nicht lange auf den Stühlen. Sie mischten sich ins Gedränge. Es schien, als ob der Tanz für sie die eigentliche Form der Bewegung sei. Thomas war sprachlos. Was sollte er nur machen. Er kannte diese fetzigen Rhythmen nur von den Platten her. Aber nach dieser Musik tanzen? Das war wohl nur etwas für Afrikaner und Latinos. Er konnte zwar leidlich Rock tanzen, aber diese Musik hier war für ihn nur etwas zum Zuhören. Lourdes blieb nicht lange sitzen. Es waren genügend junge Männer da, die sie auffordern wollten. Und schließlich konnte sie nicht immer Nein sagen. Sie hoffte darauf, dass Thomas nach einiger Zeit Lust verspüren würde, wenigstens zu versuchen zu tanzen. Sie würde ihm dabei helfen und ihm die Grundschritte zeigen.

Es dauerte nur zwei Tänze, dann kam Lourdes an den Tisch zurück und forderte Thomas zum Tanzen auf. Er sollte ihr nur vertrauen, sie würde ihm die Schritte und den Rhythmus beibringen. Thomas ließ sich zögernd auf die Tanzfläche ziehen. Sie verschwanden gleich in der Menge der Tanzenden, die Umsitzenden sollten seine Unbeholfenheit nicht bemerken. Lourdes flüsterte ihm die vier Salsa-Grundschritte ins Ohr, drückte ihn wie selbstverständlich an sich und begann ihn vorsichtig zu führen. Erst sollte er die Schritte in der richtigen Reihenfolge und parallel zu ihr ausführen. Als das nach einigen Versuchen klappte, begann Lourdes mit einer Hand seine Hüfte im Rhythmus zu bewegen, erst langsam, da er noch ganz steif war. Er spürte den Rhythmus auch durch ihren ganzen Körper, den sie eng an den seinen gepresst hielt. Langsam gelang es ihm, auch die Bewegungen seines Körper mit den ihrigen zu koordinieren. Lourdes meinte, er solle sich entspannen, am besten die Augen schließen und sich einfach nur von ihr und der Musik führen lassen, ohne nachzudenken. Er würde sich mit der Zeit an den Tanz gewöhnen. Thomas folgte ihrem Ratschlag, schloss seine Augen und reagierte mit seinem ganzen Körper auf ihre Regungen. Jetzt, wo er seinen Kopf ausschaltete und sich ganz seinem Gefühlssinn hingab, folgte er ihr mit einem Mal beinahe automatisch und entdeckte den Rhythmus der Musik in ihrem Körper und in dem seinen. Sie zwang ihn dazu, sie nachzuahmen und sich ihr anzuvertrauen.

Die Tanzenden um sie herum bewegten sich doppelt so schnell wie sie, denn sie waren fast ausnahmslos geübte Salsa-Tänzer. Und sie führten dabei allerlei Variationen aus, die sie auf kleinstem Raum und eng umschlungen vollführten. Der Tanz war wie ein rhythmisches, sinnliches Spiel und Fest der Tanzenden, das ganz darauf ausgelegt war, die Lust auf den Körper des Partners zu wecken. Die Hitze der Disco-Bar, der unwiderstehliche Rhythmus der Band, die herumwirbelnden Tanzenden, die Wirkung der „Caipirinha“ und die sinnerregenden Bewegungen von Lourdes Körper, die in seinem ein unwiderstehliches Echo erzeugten, versetzten Thomas in einen Zustand von Trance und Leidenschaft. Jetzt begann auch er Lourdes zu umarmen und seinerseits an sich zu drücken, als würde sie nur ihm gehören. Sie erwiderte seinem Werben und beiden schien es, als wären sie auf einmal allein in dieser Menge und sprächen nur mit sich selbst in der Sprache ihrer Körper.

Die Musik wurde abrupt unterbrochen. Die kubanischen Musiker baten um eine Pause. Sie schienen wie auch die Tanzenden erschöpft zu sein. Die Anstrengung der Bearbeitung ihrer Instrumente war ihren schweißüberströmten Gesichtern anzusehen. Erst jetzt wurden Lourdes und Thomas bewusst, was sie gerade erlebt hatten. Ihre intime Kommunikation auf der Tanzfläche war wie ein Versprechen, das Gespräch zwischen beiden fortzusetzen. Als sie zu ihrem Tisch gingen, nahm Lourdes Thomas bei der Hand als sei es das Normalste der Welt. Rita und Eduardo saßen schon am Tisch und lachten sich vielsagend zu, als hätten sie dem sprachlosen Austausch der beiden Freunde gelauscht.

Lieber Goedzak, jetzt entlasse ich Dich in die Kälte, hoffe aber, dass Du innerlich warm geworden bist.

Liebe Grüsse aus Panamá, CE

Die Geschichte ist meinem Roman "Abschied von Bissau", bei Amazon und neobooks als ebook erschienen, entnommen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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