Jenseits des christlichen Weihnachtsfestes

Anden-Sonnenwende 3. Die "Suche nach der verlorenen Freiheit" ist nicht die Geschichte von Maria und Josef sondern die Geschichte von Maria Suyana

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Foto: Wikimedia Commons, 9. Inkaherrscher Pachakutec im Templo des Sol von Cuzco dem Sonnengott „inti“ huldigend, Zeichnung des Chronisten Martín de Murúa um 1580 – 1600. (Tempel zu Ehren des Sonnengottes „inti“ wurden im Inkareich zur höchsten Kultstätte der andinen Religiosität)

Vorbemerkung: Eventuelle Ähnlichkeiten von lebenden Personen mit in dieser fiktiven Erzählung beschriebenen Menschen wären rein zufälliger Natur.

Teil 3

Die Ausführungen von Francisco Amaru über die andine Kosmovision ergänzte Maria Suyana aus ihrer Sichtweise:

„Die Frage nach einer einheitlichen Kosmovision der indigenen Andenvölker ist so einfach nicht zu beantworten. Sicher gibt es, wie das Beispiel der chacana (Kreuz des Südens) zeigt, gemeinsame Elemente eines Weltverständnisses, das vor allem seit der „Staatsgründung“ des Inkareiches (tahuantinsuyo)durch Pachakutec (die Regentschaft des 9. Inka begann 1438)seinen Ausgang nahm. Aber man muss bedenken, dass die Entstehung des Inkareiches ausgehend von der Region um Cuzco bis hin zu seiner Blütezeit um 1525, dem Todesjahr des 11. Inkaherrschers Huayna Cápac, in der das Reich eine Ausdehnung von mehr als 5000 km erreichte, in nicht einmal einhundert Jahren stattfand. In der Prä-Inkaepoche gab es zahlreiche verschieden entwickelte animistische Völker mit unterschiedlicher Kosmovision und Götterwelt, unterschiedlicher technologischer Entwicklung, verschiedenartigen Sprachen und spezifisch ausgeprägten Anpassungen an die jeweiligen ökologischen Systeme, in denen sie beheimatet waren. Es grenzt beinahe an ein Wunder, dass in der kurzen Zeitspanne von weniger als hundert Jahren ein derartiges zusammenhängendes politisches Gebilde wie das Inkareich zustande kam, das von Norden nach Süden in einem Stück zu durchwandern mindestens 200 Tage in Anspruch nahm.“

Ein anderer Teilnehmer des Seminars fügte hinzu: „Die im damaligen tahuantinsuyo versuchte Vereinheitlichung der Kosmovision als sogenannte Staatsreligion konnte nur im Zusammenhang mit der Staats- und Nationenbildung gelingen. Pachakutec legte zuerst durch die Staatsbildung mithilfe eines ausgeklügelten Systems militärischer und administrativer Herrschaft die Grundlagen für das Reich. Das geschah durch strikt hierarchisch gegliederte soziale Schichten in Feudalschicht, Militär, Verwaltung, Handwerker- und Bauernschaft sowie unterjochte Arbeiterschaft von besiegten Völkern für den Bau öffentlicher Infrastrukturen wie Straßen, Kultstätten, Verteidigungsanlagen, Terrassenbau, Bewässerungskanäle und Lagergebäude für landwirtschaftliche Produkte und Textilien. Die Nationenbildung wurde gleichzeitig mit einer „Heiratspolitik“, (bei der die curaca eines Volkes die Töchter der curaca der neubesiegten Völker zur Frau nahmen) der Einführung des Quechua als Staatsprache und der Verbreitung der Kosmovision der Inka als kulturelle Klammer für alle Völker gefördert, um neben der Identität eines jeden Volkes eine Identität mit dem Gesamtreich zu erzeugen. Dieses Unterfangen gelang jedoch nur in begrenztem Masse in diesen wenigen Jahrzehnten vor Ankunft der spanischen Conquistadores. Das zeigte sich schon daran, dass es den europäischen Kolonialisten gelang, einen Teil der Andenvölker auf ihre Seite zu bringen, um die Herrschaft des Inkareiches zu zerstören.“

Hier hakte Maria nochmals ein: „Dieser unterbrochene Prozess einer einheitlichen andinen Nationenbildung innerhalb des Inkareiches erhielt auf der spirituellen, religiösen Ebene einen gewaltigen, von der Kolonialmacht unbeabsichtigten stärkenden Schub, da die geteilte Kosmovision der Menschen im Inkareich die Bedeutung eines geistig-seelischen Fluchtortes angesichts der grausamen Unterdrückung durch die Conquistadores bekam. Wenn auch die Pfaffen während der Kolonialzeit und ebenso danach in den unabhängigen Republiken mit der Bibel, dem Kreuz und gleichzeitig mit der Peitsche in der Hand den ursprünglichen pantheistischen Glauben in einen christlichen kanalisierten, so sind doch die überlieferten Elemente der Kosmovision des Inkareiches nach wie vor so stark, dass es nur einer emanzipatorischen Bewegung bedarf, um einer neuen Identitätsbildung der indigenen Andenvölker auf die Beine zu verhelfen. In den nächsten zehn Jahren, die von den Vereinten Nationen als Entwicklungsdekade der indigenen Völker von 1996 bis 2005 deklariert wurden, sollten wir, die wir das erstmalige Privileg von akademischen Studien hatten, uns darauf besinnen, wie wir die Erneuerung der andinen Kosmovision nutzen können, um unseren Völkern zur Freiheit zu verhelfen. Das wird sicherlich erst einmal länderspezifisch geschehen. Aber die heutigen Möglichkeiten des massenhaften Austausches von Angehörigen unserer indigenen Völker über Landesgrenzen hinweg, wird sicherlich einer transnationalen andinen Identitätsfindung förderlich sein.“

Dieser Aussage stimmten alle Seminarteilnehmer einhellig zu. Es wurde auch auf die Tatsache hingewiesen, dass alle jüngsten revolutionären Bestrebungen gegen den von nationalen Oligarchien beherrschten Staat und Kirche an den indigenen Völkern vorbeigingen und sich im Wesentlichen auf die verarmte Mestizenbevölkerung konzentrierten. Beste Beispiele für den Fehlschlag, indigene Völker in den antikapitalistischen Kampf einzubinden, waren die Revolutionsversuche von Che Guevara in den 60er Jahren in Bolivien, vom maoistischen „Sendero Luminoso“ (Scheinender Pfad) in Peru in den 80er und 90er Jahren sowie von den kommunistischen Parteien in den südamerikanischen Ländern. All diesen Befreiungsversuchen ist gemein, dass ihnen die Kosmovision der andinen Völker völlig wesensfremd blieb, was auch bewusster und unbewusster Ausdruck von Superiorität und Rassismus gegenüber den autochthonen Kulturen war.

Nach einem Tag, der überquoll an Gedanken über die Bedeutung der gemeinsamen kulturellen Wurzeln der Andenvölker für die Gegenwart und an Ideen für einen zukünftigen Emanzipationsprozess dieser Völker, fanden sich Maria und Francisco wie am Vorabend vereint in Marias Zimmer und lebten ihre Liebe ungehemmt bis zur Erschöpfung aus. Böse Zungen hätten behaupten können, der Herr des Universums Viracocha hätte ein zeitgenössisches Paar Manco Cápac und Mama Ocllu auf der Isla del Sol zusammengeführt, um der Wiederbelebung der andinen Kosmovision auf die Sprünge zu helfen.

„Maria, erzähl mir einmal, warum Du nicht verheiratet bist? Lebte ich in Cotacachi, ich würde nichts unversucht lassen, Dich zu erobern,“ begann Francisco unvermittelt eine Unterhaltung, als sie aneinandergeschmiegt den kalten Nachtwinden lauschten, die ums Hotel fegten. „Warum ist eigentlich nichts aus der Geschichte mit Deinem englischen Freund John geworden?“

„Mein lieber Francisco, selbst, wenn Du als Junggeselle in Cotacachi wohntest, würde ich mir bei aller Liebe zu Dir eine feste Beziehung dreimal überlegen. Ich glaube kaum, Du könntest in einer Verbindung leben, in der Deine Partnerin eine ebensolche Rolle in der Gemeinschaft spielt wie Du. Du siehst, dass Deine Frau für Dich genau die traditionellen Aufgaben in der Ehe wahrnimmt, die Frauen stets in unserer andinen Kultur ausführten, das heißt ganz für die Familie und engere Gemeinschaft da zu sein. Stell Dir nur einmal vor, sie würde wie ich in der Weltgeschichte herumreisen, um die Verteidigung unserer Kultur nach Außen wie nach Innen zu vertreten. Du hättest Dich längst scheiden lassen oder aber Dir Liebhaberinnen angeschafft.“

Maria wartete gar nicht erst Franciscos Protest ab und fuhr fort: „Ja, die Geschichte mit John hatte für mich eine besondere Bedeutung. Wir hatten uns auf der Zugfahrt von Cuzco nach „Aguas Calientes“ am Fuße der wiederentdeckten Inkastadt „Machu Picchu“ kennengelernt.

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Foto: Wikimedia Commons (2009), Weltkulturerbe Machu Picchu, Peru, Autor: Martin St-Amant

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Ich machte die Abschlussfahrt mit meiner Klasse zu den wichtigsten „heiligen“ Stätten unserer Andenkultur, nach Cuzco, dem „Valle Sagrado“ (Heiliges Tal), „Ollantaytambo“ und „Macho Picchu“. Im Zug setzte sich John, der die Reise mit seinen wohlhabenden, typisch englischen Eltern angetreten hatte, dreist neben mich, um mich sogleich nach allen möglichen Aspekten unserer Kultur auszufragen. Mein Englisch war zwar noch holperig, aber wir konnten uns mithilfe von allerlei Gesten verständlich machen. Im Laufe dieser Zugreise und der Besichtigung von Machu Picchu, dem Weltkulturerbe, wich John nicht von meiner Seite. Mir war das nicht sehr angenehm, aber unser Lehrer meinte, ich müsste nett zu den Touristen sein. Für John und seine Eltern war ich sicher genau die exotische Person, mit der sie Peru und die Anden assoziierten, zumal ich wie gewöhnlich meine traditionelle Otavalo-Kleidung trug. John und der Anwesenheit seiner Eltern war es zu verdanken, dass ich dieses phantastische Machu Picchu gar nicht recht genießen konnte. Der junge blonde Mann an meiner Seite machte mich einerseits neugierig, andererseits ging er mir auch reichlich auf die Nerven. Jedenfalls tauschten wir auf der Rückfahrt nach Cuzco unsere Adressen aus. John meinte, falls ich die Gelegenheit hätte, in England zu studieren, müsste ich unbedingt seine Familie und die, wie er sagte unübertroffene Kultur des Vereinigten Königreiches kennenlernen.

Tatsächlich gelang es mir, nach einem Jahr englischen Sprachstudiums in Quito ein Stipendium für Oxford zu bekommen, wo ich mich in Anthropologie und Kunstgeschichte einschrieb. John studierte damals bereits im dritten Jahr Betriebswirtschaftslehre in Cambridge. Seine Eltern hatten im nordwestlichen englischen Lake Distrikt einen großzügigen Gutsbesitz, wohnten aber in einem vornehmen Landhaus im Süden Londons. Der Vater war im Bankensektor tätig. Wahrscheinlich lag es an meinen fehlenden sozialen Kontakten, dass ich mich einzig auf die Beziehung mit John konzentrierte, der jedes Wochenende im eigenen Auto von Cambridge nach Oxford herüber kam. Allmählich begann ich mich in ihn zu verlieben. Es war meine erste Liebe. Durch ihn entdeckte ich meine Sexualität. John war immer ganz aus dem Häuschen, wenn er in Oxford ankam und in mein kleines Zimmer stürzte. Für ihn gab es nur zwei Interessen: Nimmersatte Liebe mit mir und mich Herumführen in seiner Bekanntschaft und seiner Familie. Ich bemerkte anfangs gar nicht, dass ich für ihn so etwas wie eine Trophäe aus fernen Landen war, die er überall vorstellen musste wie eine andine Märchenprinzessin. Mit der Zeit bemerkte ich auch, dass andere Studienkollegen von John mit jungen Studentinnen aus anderen Kontinenten angaben, als seien wir nur dazu da, die Virilität unserer englischen Liebhaber zu unterstreichen.

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Foto: Wikimedia Commons (1895), Oxford, High Street, unbekannter Autor aus Zürich

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Johns Interesse für unsere Anden-Kultur war ein sehr oberflächliches. Seine Zukunftsperspektive bestand darin, einmal in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und den ohnehin schon reichlichen Familienbesitz zu mehren. Immer drängte er mich dazu, mir die neueste englische Garderobe anzuschaffen, um auf den gesellschaftlichen Anlässen seiner Familie mit mir zu glänzen. Ich begann, mich allmählich als schmückendes Anhängsel zu fühlen, das sich widerspruchslos in die Normen der gehobenen englischen Schichten einzuordnen hatte. Viele Freunde von Johns Vater waren reiche Geschäftsleute und Diplomaten. Oft waren sie mit ausländischen Frauen verheiratet, die im Laufe ihres Lebens ihre ursprüngliche Identität aufgegeben hatten und stolz waren, jetzt zur englischen Elite zu gehören.

Der endgültige Bruch mit John und auch meine Entscheidung, einen Eintritt in die europäische materialistische, eigensüchtige Lebensweise nie mehr in Betracht zu ziehen, erfolgte etwa ein Jahr vor meinem Schlussexamen. Diese Entscheidung brachte mir meine innere Ruhe und Festigkeit zurück. Wir verbrachten die Sommerferien auf dem Landgut. Johns Eltern hatten zu einer Party geladen. Zufällig wurde ich Zeuge einer Unterhaltung zwischen John und seinen Eltern. Die Drei hatten angenommen, ich sei noch auf unserem Zimmer und damit beschäftigt, mich für den Empfang der erwarteten hohen Herrschaften fertigzumachen. Hinter halb angelehnter Tür zum großen Salon redeten Vater und Mutter auf John ein, wie er mich den Gästen präsentieren sollte. Anscheinend hatten sie wohl schon ausgemacht, in welcher Weise ich als zukünftiges Mitglied der Familie akzeptiert werden könnte. Niemand dürfte den Eindruck gewinnen, ich käme aus einer ganz gewöhnlichen Indiofamilie und wäre, wie sie es bezeichneten, in heidnischem Glauben aufgewachsen. John sollte meine Familie als eine respektable Christenfamilie bezeichnen, die tief in jahrhundertealter katholischer Tradition verankert sei.

Francisco, ich war damals gerade einmal 25 Jahre alt. Du kannst Dir vorstellen, wie mich dieses Gespräch anfangs traf. Vor allem auch, weil John keinen Widerspruch einlegte und genau das tat, was seine Eltern ihm vorschrieben. Doch erwähnte ich John gegenüber nicht, dass ich ungewollt Zeuge dieser Unterhaltung geworden war. Ich machte ihm keine Vorhaltungen, zog mich nur Stück für Stück von ihm zurück und ließ ihn wissen, dass ich meine Zukunft in meiner Heimat sähe, auf dessen Traditionen ich stolz sei, und die ich niemals aufgeben würde. Der plötzliche Schmerz öffnete mir die Augen für mein zukünftiges Leben und ebnete mir den ersten Schritt zu meiner inneren Befreiung. Wenn ich auch zu Beginn meines Studium in England bisweilen Komplexe wegen meiner Herkunft hatte, dieses Erlebnis auf dem Landgut von Johns Eltern im Lake Distrikt war für mich das Schlüsselerlebnis für meine beginnende Identitätsfindung als bewusstes Mitglied der andinen indigenen Völkergemeinde.“

Bei diesen letzten Worten musste Maria an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. Die Eindrücke aus dem Lake Distrikt traten mit einem Mal wieder so stark hervor, dass sie Francisco ganz fest umarmen musste, um sich ihrer heimatlichen Ursprünge zu vergewissern.

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Fortsetzung folgt, CE

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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