Koop. Jal – Suche nach dem „Neuen Menschen“

Guinea Bissau (7.1) Gibt es eine herrschaftsfreie Organisation von Leben und Arbeit? Erlebnisse aus der "Dritten Welt" für die Daheimgebliebenen, Folge 7.1

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Foto: google.com (panoramio), Fotos da Guiné-Bissau, typische kollektive Erschließung neuer Nassreisfelder und Deichbau zur Verhinderung des Eindringens von salzhaltigem Meereswasser, ausgeführt von animistischen Völkern/Ethnien (mit horizontaler Sozialstruktur), die längs der Atlantikküste beheimatet sind (Pepel, Balanta, Mandjaco, u. a.)

Vorbemerkung: Hier kommt die siebte Folge der autobiographischen Aufzeichnungen. Diese handelt vom Aufbau der Kooperative Jal, nahe der Hauptstadt Bissau. Der Länge wegen ist diese Folge unterteilt in Kapitel, von denen dieses erste (7.1) eine Art Hintergrundbeschreibung darstellt:

Der uralte Menschheitstraum vom „Freien Menschen“, vom „Ganzen Menschen“, vom „Neuen Menschen“, wer hatte ihn nicht von unserer 68er-Generation? Zumindest diejenigen aus der akademischen Jugend, die sich mit Verve in das Abenteuer einer gesellschaftlichen Veränderung des weltweiten kapitalistischen Systems stürzten, verfolgten diesen Traum über Jahre hinweg, bis er schließlich mehrheitlich durch Familiengründung und materielle Absicherung sein jähes Ende fand. Das Aufwachen eines Morgens und das folgende Augenreiben zum Erfassen der rauen Realität zwangen viele von uns zum Einschwenken auf die ausgetretenen Bahnen einer materiellen Lebenssicherung, zwangen zur Akzeptanz des „Linsengerichtes“, dem zuvor so vehement abgeschworen worden war.

Selbstverständlich war ich ebenfalls von diesem Traum erfüllt und niemand sollte mir ein Linsengericht vor die Nase stellen. Amilcar Cabrals „Theorie als Waffe“, ebenso wie meine Einbindung in die 68er-Bewegung ermutigten mich, um mich auf die Suche nach dem „Neuen Menschen“ zu machen:

Das freie, historische Subjekt und die Ethik des unabhängigen, herrschaftsfreien Kollektivs als Grundlagen für eine moderne Nationenbildung, die das Joch eines ausgebeuteten, multiethnischen Kolonialstaates überwinden und eine zukünftige Gesellschaft ohne Herrschaft möglich machen sollen.

Unumwunden gestehe ich, dass ich Mitte der 70er Jahre zwar Kenntnis über realisierte sozialistische Experimente und deren menschenverachtende Herrschaftsmethoden hatte, aber alles, was über die laufenden Befreiungskämpfe in der Welt von Lateinamerika über Afrika und Asien in dieser Zeit in Westeuropa bekannt war, ließ hoffen, dass es zukünftige Gesellschaften geben könnte, die einen tatsächlichen Fortschritt in Richtung auf größere Freiheit erreichen würden.

Schon kurz nach Eintreffen in Guinea Bissau schwand mein anfänglicher, mit Skepsis gepaarter Optimismus bezüglich des „homem novo“ (Neuen Menschen), von dem Cabral sprach, und den er als „Bürger“ einer guineischen freien Nation herbeiwünschte. Gegenüber Cabrals Thesen, mit denen er international Aufsehen und Anerkennung nicht nur bei Vertretern der etablierten sozialistischen Staaten, sondern auch bei der Linken der kapitalistischen Welt fand, hätte ich und auch meine Freunde aus der Cabral-Gesellschaft misstrauischer sein sollen. Cabral war eindeutig geprägt vom Leninschen und selbst Stalins „Demokratischen Sozialismus“, den er als Modell für den strikt hierarchischen, elitären, avantgardistischen Parteiaufbau der PAIGC sah. Die Militanten der Partei sollten einer neuen humanistischen, am Sozialismus ausgerichteten Ethik verschrieben werden, denen die Kultur der verschiedenen guineischen Völker zwar als wertvolles Erbe dienten, die aber durch den gemeinsamen bewaffneten Widerstandskampf dieses Erbe sowie auch das bourgeoise, koloniale Erbe überwinden würden, um ein neues Kapitel in der Geschichte einer geeinten Nation aufzuschlagen. Als „pädagogisches“ Leitbild verlangte der Demokratische Sozialismus der PAIGC die Verfolgung strikter, innerer Disziplin gemäß der Losungen der Parteiführung. Zuwiderhandlungen wurden während des Befreiungskampfes und nach Erringung der Unabhängigkeit unerbittlich mit Ausschluss aus der Partei und in schweren Fällen mit Liquidierung geahndet.

Die Einzelheiten der tatsächlichen repressiven Ausübung der PAIGC-Herrschaft im unabhängigen Guinea Bissau wurden uns westlichen Kooperanten bald nach Einbindung in die tägliche Entwicklungsarbeit bewusst und konnten nicht länger „vernebelt“ werden. Den Ostberlinern Stasi- und Volkspolizeiausbildern war sicher die Parteipraxis längst hinlänglich bekannt, waren sie doch für ihre Einübung mitverantwortlich. Auch hatte ich anfangs wie viele andere „Westler“ die Cabralsche Idee von der Weiterentwicklung des traditionalen Erbes verkannt. Cabral, der der kapverdischen kleinbourgeoisen Elite entstammte, hatte durch das Studium der verschiedenen guineischen Agrargesellschaften genaue Kenntnis über Soziologie und Ökonomie dieser Gesellschaften. Er nutzte dieses Wissen aus, um nach und nach alle Völker/Ethnien zum bewaffneten Kampf einzuschwören, beginnend mit den Gesellschaften „ohne Staat“, den Animisten. Das gelang durch wirksame Öffentlichkeitsarbeit der PAIGC in wenigen Jahren, da alle Völker besonders seit der Berliner Konferenz 1884/85, auf der der afrikanische Kontinent unter den europäischen Kolonialmächten wie ein Kuchen aufgeteilt wurde, durch den portugiesischen Kolonialismus brutal „befriedigt“ wurden. Dieser „Befriedungsprozess“ dauerte bis zu Beginn des 2ten Weltkrieges an. Was Cabral aber m. E. falsch einschätzte, und was fatale Folgen nach sich zog, waren zwei Dinge:

Einerseits die seit Beginn der PAIGC bestehende Schärfe der inneren Gegensätze zwischen der kapverdisch-abstämmigen „Intelligenz“ (mit sekundärer und tertiärer Ausbildung) und den autochthonen guineischen Agrargesellschaften. Die Angehörigen der „kapverdischen Fraktion“ wurden in Guinea Bissau als „Assimilierte“ des Kolonialsystems und nach der Unabhängigkeit als neue „Herren“ empfunden, die von Parteigründung an die überwiegende Kommandofunktion innerhalb der Partei ausübten. [Dieser innere Gegensatz führte u.a. zur Ermordung von Cabral (20. Januar 1973) und später zum Putsch gegen die erste Regierung nach der Unabhängigkeit (14. November 1980). Dazu komme ich später.]

Zum anderen wurde von Cabral das guineische kulturelle Erbe, nämlich die horizontale Gesellschaftsstruktur der animistischen Völker, als Widerstandspotenzial gegen den Kolonialismus geschätzt. Auch dauerten kollektive kulturelle Elemente der islamisierten Gesellschaften bis in die Gegenwart fort und waren mit Ursache für antikolonialen und antikapitalistischen Widerstand. Jedoch anerkannte Cabral dieses kulturelle Erbe lediglich als Vehikel des Unabhängigkeitskampfes, nicht aber als einen Wert an sich und als konstituierendes Element für den Nationalen Wideraufbau. Das kulturelle Erbe wurde denn auch folgerichtig im unabhängigen Guinea Bissau als Obskurantismus und Ignoranz gebrandmarkt. Für Cabral bedeutete das Wiederaufnehmen der guineischen Geschichte den totalen Bruch mit der traditionellen Kultur und den unmittelbaren Beginn einer neuen, d. h. sozialistischen Kultur. Später habe ich in unterschiedlichen Ländern, in denen ich arbeitete, immer wieder eine analoge Haltung aus Arroganz und Superiorität von nationalen Eliten gegenüber dem kulturellen Erbe der ausgebeuteten Ethnien/Völker erlebt, denen das grundlegende Menschenrecht einer wie auch immer gearteten organischen, selbstbestimmten Weiterentwicklung ihres kulturellen Erbes verwehrt wurde. Erst mit der Ausrufung der Ersten Entwicklungsdekade der Indigenen Völker durch die UN (1995 - 2004) und vorher (1989) mit dem ersten internationalen Übereinkommen der ILO (Int. Arbeitsorganisation der UN) wurde den autochthonen Völkern die Rechte nicht nur für ihr traditionelles Territorium sondern auch für ihre überkommene Kultur anerkannt.

Vor dem Hintergrund meiner eigenen Ansprüche an eine freie Gesellschaft und der staatlichen Politik eines nationalen sozialistischen Wiederaufbaus begann ich in der ersten Hälfte 1977 mit dem Experiment der Kooperative Jal. Böse Zungen hätten behaupten können, ich hätte mich auf den Weg des „Ritters von der traurigen Gestalt“, Cervantes Don Quichotte, oder aber besser den maoistischen Trip, begeben. Zur Rechtfertigung kann ich nur anführen, dass mir weder ein „Dienst“ im Namen eines afrikanischen Sozialismus noch wie einer im Namen des Kapitalismus, verkleidet als altruistischer Helfer, vorschwebte. Ich wollte versuchen, in der multiethnischen guineischen Gesellschaft einen Weg zum freien und materiell ausreichenden Leben herauszufinden. Das konnte nur unter aktiver Beteiligung und Autodetermination der betroffenen Menschen über diesen Weg stattfinden. Selbst sah ich mich dabei in der Rolle eines Ideengebers, Vermittlers und Mut Zusprechenden.

Gleich zu Beginn des Jahres 77 hatte ich einen Dreijahres-Vertrag mit „Dienste in Übersee“ abgeschlossen, der die Entwicklungsberatung zur Errichtung der Investitionsabteilung innerhalb des Planungsministeriums zum Inhalt hatte. Auf mein Insistieren hin gab mir Vasco Cabral die Möglichkeit, ländliche Kooperativen ins Leben zu rufen, obwohl ein solcher Schritt von Anfang an mit einigem Misstrauen als „chinesischer“ Weg betrachtet wurde, lag doch die Priorität der Regierung eindeutig auf der Kopierung des sowjetischen Entwicklungsweges einer raschen industriellen Entwicklung und Schaffung einer Arbeiterklasse, allerdings primär finanziert durch Institutionen des „verhassten“ Kapitalismus:

Seit 1976 zog das unabhängige Guinea Bissau offizielle, staatliche „Entwicklungshilfe“ aus dem kapitalistischen Norden (bilateral besonders von Schweden, Holland, Frankreich und Portugal und multilateral von der Weltbank, UN und EU) sowie aus dem arabischen Raum (Kuweit-Fonds) an. [Bis 1980 flossen mehr als 300 Mio US$ aus diesen Quellen ins Land, während die Exporte dagegen keine 15% ausmachten.] Daneben interessierten sich zahlreiche internationale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie wissenschaftliche Institutionen und Einzelpersonen für das kleine Land. Das war einerseits der weltweiten Anerkennung Amilcar Cabrals als Theoretiker und Praktiker der Befreiung von kolonialer Abhängigkeit und seinen Gedanken über herrschaftsfreie postkoloniale Entwicklung zu verdanken. Andererseits war das multiethnische Guinea Bissau ein überschaubares Land mit gerade einmal 650.000 Einwohnern, in dem sämtliche traditionalen Agrargesellschaften im kolonialen Befreiungskampf in unterschiedlicher Weise engagiert waren und in dem der städtische, kleinbürgerliche Sektor nicht mehr als 5% der Bevölkerung ausmachte. Die Unterstützung durch den damaligen Ostblock und China war im Wesentlichen auf die Ausrüstung und das Training der Repressionsinstrumente des Staates, Polizei, Geheimpolizei und Militär, beschränkt. Das bedeutete, dass die Entwicklung des Landes bei „Null“ begann und Regierung sowie ausländische Geldgeber die ehemalige Kolonie als nützliches Experimentierfeld für ihre jeweilige Entwicklungsideologie betrachteten. Aber wie sich im Laufe der Geschichte des unabhängigen Staates beweisen sollte, hatten alle unterschiedlichen Protagonisten der Entwicklung die Rechnung ohne die eigentlichen Herren des Landes, die traditionellen Agrargesellschaften, gemacht, an denen sie sich die Zähne ausbeißen sollten.

Benjamin, der politische Verantwortliche von Jal, und seine Frau Maria lernte ich durch Antonio, den Fahrer von Vasco Cabral, kennen. Antonio, der Benjamin während des Guerilla-Kampfes im Busch kennengelernt hatte, war Angehöriger der Balante, welche die bevölkerungsstärkste Ethnie im Lande ist mit einem Anteil von etwa 30%. Die horizontale Gesellschaft der animistischen Balante stellte auch den Hauptanteil der mehr als 15.000 Guerilla-Kämpfer während des Befreiungskampfes, die den erfolgreichen Krieg gegen 25.000 portugiesische Soldaten und deren 25.000 guineische Unterstützer-Milizen bestanden hatten. Viele der exzellenten Balante-Nassreisbauern, die im küstennahen Deltagebiet im Zentrum und Süden des Landes beheimatet sind, strömten als PAIGC-Kader nach der Unabhängigkeit in die Hauptstadt Bissau, um von der Kriegsdividende zu profitieren.

Die zentrale Region Biombo mit Bissau an der Mündung des Geba-Flusses in den Atlantik war seit jeher Stammland des Volkes der Pepel, die 8 bis 10% der Gesamtbevölkerung stellen. Dieses animistische Volk mit seiner langen Tradition eines ungebeugten Widerstandes gegen die portugiesische Kolonialmacht ist gleichfalls horizontal strukturiert (in Form von Ältesten-Versammlungen), hat jedoch in der Institution eines „regulo“ (Häuptlings) einen höchsten Vertreter für Außenbeziehungen (mit der Kolonialmacht) sowie den benachbarten Völkern/Ethnien. Die katholische Kirche konnte in ihrer missionarischen Aufgabe nur in Bissau selbst Fuß fassen. In Jal, keine 10 km vom Flughafen der Hauptstadt und abseits der Straße nach Safim und Bafata gelegen, litten die Pfaffen Schiffbruch mit ihren Akkulturations-Bemühungen gegenüber den Pepel und mussten regelmäßig unverrichteter Dinge in die schützende Hauptstadt zurückkehren. Nach dem Unabhängigkeitskampf sollte die politische Vertretung der Dörfer durch die zumeist jungen PAIGC-Kader wahrgenommen werden. Jedoch wurden diese schon nach kurzer Zeit wieder durch die traditionalen Gesellschaftsstrukturen ersetzt und faktisch „entmachtet“.

Folge 7.2 über die Kooperative Jal wird hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen.

LG, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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