Koop. Jal - Suche nach dem „Neuen Menschen“

Guinea Bissau (7.3) Gibt es eine herrschaftsfreie Organisation von Leben und Arbeit?

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Foto: senegambia.blogspot.com (2005), „blufo“ Balante (Jugendlicher „Balante“ vor Beginn des Erwachsenen-Initiationsritus, „fanado“, in Guinea Bissau. Der „Fanado“-Ritus findet bei den „Pepel“ und anderen animistischen Ethnien analog statt)

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Fortsetzung 7.1:

https://www.freitag.de/autoren/costa-esmeralda/koop-jal-suche-nach-dem-neuen-menschen

Fortsetzung 7.2:

https://www.freitag.de/autoren/costa-esmeralda/suche-nach-dem-neuen-menschen

Fortsetzung 7.3:

Beim nächsten Besuch in Jal begegnete mir kurz nach Einbiegung in den Schotterweg, der zum einen Kilometer entfernten Dorf führt, eine Gruppe von „blufos“, von Jugendlichen der Pepel, die sich in der Vorbereitung auf ihr „fanado“, dem Initiationsritus zum Erwachsenenstatus befanden. Dieser Ritus dauert zwei Monate und wird in Abgeschiedenheit von der Dorfgemeinschaft unter Anleitung auserwählter Dorfältester durchgeführt. Er endet mit der Beschneidungszeremonie.

Zum Abschluss der Vorbereitungsphase auf den „fanado“ zeigen die „blufos“ der eigenen Dorfgemeinde sowie den Nachbargemeinden ihre Künste und Fähigkeiten im Rahmen eines feierlichen Festes. Da werden sportliche Talente wie auch künstlerische (musikalische und dichterische) vorgeführt, so dass ein jeder seinen individuellen Wert demonstrieren kann. Das geschieht einerseits, um sich die Wertschätzung potenzieller späterer Ehepartner zu erwerben und zum anderen, um sich ein gesellschaftliches Ansehen in der Gemeinde zu erarbeiten.

Während des „fanado“ werden den jungen Männern die Wertvorstellungen und Verhaltensregeln („Gesetze“) des Volkes übermittelt, die im zukünftigen Erwachsenenalter als Individuum wie auch als Mitglied der Gemeinschaft zu berücksichtigen sind.

Ich benutze den Begriff Volk synonym zu Ethnie. Bei der Beschreibung einer autochthonen Ethnie ziehe ich den Begriff Volk vor, wenn sich die Ethnie über eine eigene Sprache, spezifische Kultur und Geschichte sowie ein eigenes überkommenes Siedlungsgebiet definiert. Das entspricht auch der Selbstdefinition der indigenen Völker, die es heute mehrheitlich ablehnen, als Ethnie bezeichnet zu werden, da der als „pejorativ“ empfundene Begriff der Ethnie von den ehemaligen Kolonialvölkern bewusst benutzt wurde, um ihre Superiorität gegenüber kolonisierten Ethnien (Völkern) auszudrücken, die aus ihrer ethnozentristischen Sicht einer „Zivilisation“ entbehrten (sozusagen als „Wilde“ angesehen wurden) und folglich zivilisiert werden mussten. Die indigenen Völker bestehen darauf, als eigenständige und gleichwertige Zivilisationen im Verhältnis zu den Völkern der Metropolen anerkannt zu werden, was auch in jüngster Zeit durch UN-Resolutionen bestätigt wurde.

Ein wichtiger Bestandteil dieser zweimonatigen „Lehrzeit“ („fanado“) ist die orale Übermittlung der Geschichte der Gemeinde wie auch des gesamten Volkes. Schließlich werden den „blufos“ die letzten religiösen Geheimnisse offenbart, deren Weiterverbreitung an Außenstehende mit dem Tode bestraft wird.

Erst nach dem „Fanado“-Ritus darf der junge Mann eine Familie gründen. Seine zukünftige erste Frau entstammt in der Regel einer benachbarten Pepel-Dorfgemeinschaft. Im Gegensatz zu den islamisierten Ethnien in Guinea Bissau, den Mandinga und Fula, bei denen Heirat meist durch Übereinkunft der Eltern der Ehepartner zustande kommt, hängt die Entscheidung der Familiengründung vom freiwilligen beiderseitigen Einverständnis der jungen Ehepartner ab. Ebenfalls ist die Entscheidung über eventuelle weitere Ehefrauen völlig frei und erfolgt hauptsächlich aus ökonomischen Gründen. Oft sind es Freundinnen oder Verwandte der ersten Frau, die diese ihrem Mann „suggeriert“, um durch Arbeitsteilung innerhalb eines größeren Familienverbandes die Lebensbedingungen der Familie zu verbessern. Die Eheleute haben in der Regel bereits vor dem „fanado“ sexuelle Beziehungen zu Partnern aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Diese Jugendliebe darf von der Ehefrau, die ihr Dorf verlässt und zum Manne zieht, in den Ferien auf Besuch zu ihren Eltern weiter aufgesucht werden, ohne dabei ein Tabu zu verletzen.

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Foto: senegambia.blogspot.com (2005), Frauen, die den „blufo“ zur Feier vor Beginn des Initiationsritus‘ begleiten

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Als ich nach der Begegnung mit den „blufos“ den Versammlungsplatz des Dorfes, der auch als Fest- und Sportplatz benutzt wird, erreicht hatte, warteten bereits bis an die 100 Erwachsene, Jugendliche und kleine Kinder auf mich. Der überwiegende Teil der Familien war zumindest mit einem Mitglied vertreten. Nach einleitenden Worten von Benjamin und meiner Vorstellung begann die Diskussion über die Kooperativgründung. Dieser Begriff war niemandem bekannt. Aber rasch wurde Kooperative von den Anwesenden selbst definiert:

- Gemeinschaftliches Arbeiten in der traditionell arbeitsfreien Zeit nach der Reisernte auf bisher unbearbeitetem Gemeindeboden.

- Anbau von Gemüse und dessen hauptsächliche Vermarktung für die Stadtbevölkerung von Bissau.

-Verteilung des Geld-Erlöses je nach Arbeitseinsatz der Kooperativmitglieder. Eine täglich zu führende Anwesenheitsliste sollte den Anteil der Erlöse pro Mitglied festlegen.

- Nutzung eines Teils der Ernte für die Zubereitung eines Mittagessens für die Arbeitenden.

Was mir sogleich auffiel war, dass Frauen und Männer sowie Jugendliche gleichgewichtig an der Diskussion teilnahmen. Das geschah anfangs einigermaßen ungeordnet, wurde aber mit der Zeit von Benjamin geschickt geregelt. Niemand wurde ausgeschlossen, keiner hatte besondere Vorrechte. Wie mir Benjamin später berichtete, wurden die Dorfversammlungen in der Kolonialzeit von den „homens grandes“ (Dorfältesten) geleitet. Die gleichberechtigte Teilnahme aller Erwachsenen an Diskussionen war seit jeher üblich. Wichtige Entscheidungen jedoch waren hauptsächlich den erwachsenen Männern vorbehalten, insbesondere den „homens grandes“.

Von Beginn an hatte ich den Vorsatz, dass die Herauskristallisierung einer Kooperative und ihr Funktionieren von der Dorfbevölkerung selbst bestimmt sein müsste, damit sie sich mit diesem bewusst gefassten neuen kulturellen Schritt identifizieren könnte und nach dem Prinzip des „trial and error“ (Versuch und Irrtum) herausfinden würde, was für sie nützlich sei oder nicht. Arbeitswerkzeuge müssten die Kooperativmitglieder selbst stellen. Ich könnte mit Saatgut beitragen.

An diese erste große Versammlung schlossen sich weitere an, die schließlich das Interesse aller Familien des Dorfes (ungefähr 150) nach Verbesserung der Lebensverhältnisse durch eine Kooperative zum Ausdruck brachte. Daneben wurde das Gelände definiert, wo die Produktion beginnen sollte: Im Palmenwald auf halber Strecke vom Fluss aufwärts zur Hauptstraße nach Bissau. In diesem Gebiet befanden sich die am wenigsten erodierten Böden im Halbschatten zwischen den Bäumen. Auch gab es einen Brunnen mit ausreichendem Wasser das ganze Jahr über. Nach etwa einem Monat Diskussion wurde beschlossen, umgehend mit der Kooperative zu beginnen. Und diese wurde mit einer von den Dorfältesten geleiteten Zeremonie am Fuße des mächtigsten Baumes inmitten des Palmenhains, in der Nähe der „bolanhas“ (Nassreisfelder), eingeleitet. Dazu musste ich einige Liter Zuckerrohrschnaps von A. mitbringen, denn der „irã“ (Dorfgeist) der Gemeinde Jal müsste mit einer Opfergabe in Form von Schnaps gegenüber dem Vorhaben der Kooperativgründung positiv eingestimmt werden.

An dieser Stelle komme ich nicht umhin, einen Einschub über die Religiosität der animistischen Pepel vorzunehmen, denn im Laufe der zweijährigen Geschichte der Kooperative Jal bestimmte das spirituelle Erbe der Pepel zum großen Teil den Lauf der Kooperative. Das Kennenlernen des Animismus‘ der autochthonen Pepel bedeutete für mich so etwas wie der Eintritt in die Spiritualität und Kosmovision von autochthonen und weitgehend horizontalen Gesellschaften allgemein, wie ich sie im Verlauf meiner Arbeit in Afrika und Lateinamerika in ähnlicher Weise immer wieder kennenlernte. Schon gleich nach Ankunft in Guinea Bissau wurde ich mit dem religiösen Leben der verschiedenen Völker konfrontiert, das von Amilcar Cabral und der PAIGC als „Obskurantismus“ und zu überwindendes Hindernis auf dem Weg zur Modernisierung und zu einem einheitlichen Nationalen Wiederaufbau sowie zur Wiederaufnahme der eigenen, von der Kolonialmacht unterbrochenen Geschichte gesehen wurde.

Als einleitende Illustration dieses mir fremden religiösen Lebens sei das folgende Beispiel erwähnt:

Kurz nachdem ich bei A. auf der Zuckerrohrfarm mein kleines Häuschen bezogen hatte, kam an einem späten Nachmittag die Frau des Vorarbeiters mit ihrem Neugeborenen zu mir. Unter Tränen redete sie in „Pepel“ auf mich ein, was ich nicht verstand. Aber es war klar, dass es sich um die Malaria des Kleinkindes handelte. Dieses hatte hohes Fieber und die Mutter wusste aus Erfahrung, wie tödlich dieses Fieber sein konnte. Bereits vorher hatte sie zwei Kinder durch Malaria verloren, zwei Kinder hatten bisher überlebt. Die Pepel, wie auch alle anderen guineischen Völker hatten damals nur eine durchschnittliche Lebenserwartung von 36 Jahren, was hauptsächlich auf die Zerebral-Malaria und andere tropische Krankheiten zurückzuführen war. Die Mutter hoffte, ich könnte ihr Neugeborenes behandeln. Ich machte ihr mit Gesten klar, dass ich kein Arzt sei, und dass sie sofort mit dem Baby ins Hospital müsste. Ich könnte sie dorthin begleiten. Es war damals eine Gruppe kubanischer Ärzte in Bissau, die die Gesundheitsversorgung in der Hauptstadt sicherstellten.

Die Mutter weigerte sich standhaft, das Hospital aufzusuchen. Wahrscheinlich war das auf den jahrhundertelangen Widerstandskampf der Pepel gegen die einstige Kolonialmacht Portugal und das Misstrauen gegenüber der modernen Medizin zurückzuführen. Und in den Widerstandskampf waren die Arbeiter auf der Zuckerrohrfarm mehrheitlich eingebunden gewesen. Der Vorarbeiter meinte mir gegenüber, wenn ich nicht helfen könnte, müsste die Familie eine Zeremonie mit ihrem „irã“ (Dorf- und Hausgeist) veranstalten. Ich hatte bis dahin überhaupt keine Vorstellung, was der „irã“ bedeutete.

Zwei Tage später wurde ich früh morgens von einem lauten Wehgeschrei geweckt. Die Mutter und andere Frauen aus der Nachbarschaft kamen vor dem Haus des Vorarbeiters zusammen und begannen, den Tod des Kleinkindes zu beklagen und eine zweitägige Begräbnis-Zeremonie vorzubereiten, zu der ein Rind geschlachtet wurde, und an der die erweiterte Familie sowie alle Nachbarn teilnahmen. Es verwunderte mich sehr, dass Vater und Mutter nicht alles versucht hatten, um das Baby zu retten. Ich kam mir reichlich hilflos vor. Aufgrund dieses Erlebnisses ließ ich mich von Augusto und den Farmarbeitern in die Spiritualität der animistischen Völker und insbesondere der Pepel und Balante einweihen. Das half mir dabei, das Verhalten der Eltern besser verstehen zu können.

Die Pepel wie auch die übrigen animistischen Völker Guinea Bissaus (Balante, Manjaco, Mancanha, Bijagó, und Felupe) glauben an einen allmächtigen und wohlmeinenden Schöpfer (Gott) des Universums, zu dem allerdings die Menschen keinerlei Zugang hätten. Alles im Universum ist belebt, ist beseelt, auch sogenannte tote Materie wie ebenso Verstorbene, deren Seelen weiterhin leben und wieder geboren werden in nachkommenden Generationen.

Die Verletzbarkeit menschlichen Lebens gegenüber Unbilden aller Art vonseiten natürlicher Phänomene und anderen Menschen wird allgemein als ständige Bedrohung empfunden und verursacht verschiedenartigste Existenzängste. Um diese zu besänftigen, werden Kontakte zu den „Geistern“, die zwischen Gott und den Menschen vermitteln, entweder persönlich oder aber über „Geistliche“ („djambakos“,“ baluberu“ oder andere Heiler und Wahrsager) aufgenommen. Die Geister wiederum sind hierarchisch gegliedert und gehen teilweise auf die Seelen der Verstorbenen eines Volkes, einer Gemeinde und einer Familie zurück. Der Begriff „irã“ umfasst alle Geister, angefangen von der „Schlange“, der gutherzigen „Gottheit der Erde“, die dem allmächtigen Schöpfer am nächsten steht und die Menschen beschützt. Danach kommen die „irã“ (Geister, Seelen der Verstorbenen) in absteigender Folge von den Seelen der Gründungsväter des Volkes, über die der Gemeinde, der Familie bis hin zum Individuum, das seinen ganz persönlichen „irã“ besitzt. Diesen „irã“ gegenüber verpflichten sich die Menschen in Zeremonien/Gebeten zu Dank, opfern ihnen (Getränke, vornehmlich alkoholische, und Esswaren) und/oder versprechen ihnen zukünftige Opfer, um Schaden abzuwenden.

Mir wurde später von den Pepel ein ledernes Halsband mit einem in Leder eingenähten Hörnchen einer jungen Ziege geschenkt. In diesem sollten sich heilbringende Kräuter befinden. So bekam ich zusammen mit einem Pepel-Namen meinen ganz persönlichen „irã“, der mich beschützen sollte. Ich erwähne dieses nicht aus persönlicher Eitelkeit oder Folklore, sondern wegen der Wichtigkeit der interkulturellen Kommunikation, ohne die die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt keine Früchte tragen kann. Für die Pepel und für mich war die Herstellung einer gemeinsamen Identifikation unabdingbar, um für beide Seiten Schritte in eine unbekannte Zukunft zu wagen. Das zeigte sich ganz besonders nach zwei Jahren, als mir die PAIGC nach immer besseren Resultaten der Kooperative verbot, die Hauptstadt zu verlassen und weiterhin Kontakt mit Jal aufrecht zu erhalten. Aber darauf komme ich später zu sprechen.

Diese frühe Erfahrung mit fremden Kulturen hatte mir für meine zukünftige Arbeit eine wichtige Erkenntnis verschafft:

Wenn eine gleichgewichtige interkulturelle Kommunikation als Basis für gegenseitiges Verständnis und gemeinsame friedliche Entwicklung Erfolg haben soll, dann sind die gegenseitige Anerkennung der traditionalen Wurzeln, die Definition von gemeinsamen Zielen und die gemeinsam gegangenen Schritte im Sinne des „trial and error“ (Versuch und Irrtum) unerlässlich. Das heißt: Erfolgreiche interkulturelle Kommunikation, mit dem Ziel gemeinsamer zukünftiger friedlicher und nachhaltiger Entwicklung ohne Aufgabe eigener Identität, beruht auf Identifikation mit einer gemeinsamen Sache.

Die animistischen Religionen in Guinea Bissau sind bei den animistischen Völkern nach wie vor lebendig und bestimmen das private wie auch öffentliche Leben, obwohl die ehemals sozialistische PAIGC ihnen den entschiedenen Kampf angesagt hatte. Das heutige Elend des Landes ist mit auf die anfängliche Missachtung der religiösen animistischen Traditionen nach der Unabhängigkeit zurückzuführen. Auch die islamisierten Ethnien sind nicht frei von Synkretismus und prä-islamischen animistischen Religionen. Daraus folgt: Wird der kulturelle Fundus der guineischen Völker nicht entsprechend berücksichtigt, schlägt jegliche Entwicklungsanstrengung fehl.

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Foto: Typische animistische Opferstätte in Guinea Bissau (hier der Balante), Quelle:

http://blogueforanadaevaotres.blogspot.com/2012/04/guine-6374-p9732-memorias-do-chico.html

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Fortsetzung folgt.

LG, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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