Nachruf auf einen ungebeugten Denker

Christian Sigrist Christian Sigrist, em. Prof. Dr. der Soziologie und Ethnologie in Münster, geb. 25. März 1935, gest. 14. Febr. 2014

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Foto: Prof. Dr. Christian Sigrist, emeritierter Professor für Soziologie in Münster, auf der Gedenkfeier für seine Frau Ute Sigrist (gest. 17. Februar 2014) in Münster, in „Die Brücke“ am 24. Mai 2014 (Autor: H. Gebauer)

Vorbemerkung:Christian Sigrist war ein bekannter Soziologe in Münster ("Regulierte Anarchie") und seit der 68er Revolte bis zu seinem Tod u.a. unermüdlicher Streiter gegen Staatswillkür (siehe auch wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Sigrist )

Er verstarb am 14. Februar in Münster. Ich war einer seiner Schüler und habe ihm meinen Lebensweg in der "Dritten Welt" zum großen Teil zu verdanken. Zum Gedenken an Christian habe ich den folgenden Nachruf verfasst.

Mein lieber Christian,

die Nachricht über Deinen Tod hat mich tief erschüttert wie ein Jahr zuvor die Nachricht über Utes Tod. Jetzt seid Ihr beide, Du und Ute, scheinbar fern von mir und allen, die Euch liebten, die Euch schätzten, deren Leben Ihr reich gemacht habt.

Doch Christian, Du wirst nie fern von mir sein. Ich werde Dich ebenso wie Ute weiterhin in meinem Herzen tragen, solange mein Weg auf dieser Erde fortdauert.

Hier sei in Dankbarkeit das zusammengefasst, was Du mir mitgegeben hast auf meinem Weg in die Welt, seit ich Dich 1973 kennenlernte.

Nach Beendigung meines Ökonomiestudiums 1972 in Heidelberg schrieb ich mich zuerst in Heidelberg, dann in Münster im Fach Soziologie ein. Die 68er Studentenbewegung hatte mich bereits mit zwei gesellschaftlichen Strömungen dieser Zeit bekannt gemacht, dem Anarchismus und den revolutionären Befreiungsbewegungen in der Peripherie, die meinen beruflichen Werdegang bestimmen sollten. Du hieltest damals Gastseminare am Soziologischen Institut in Heidelberg ab und wir fielen uns weltanschaulich sozusagen in offene Arme. Du hattest fortan als verständnisvoller Lehrer und als lieber Freund einen bestimmenden Einfluss auf mein weiteres Leben.

Christian, durch Dein eigenes unerschütterliches Eintreten gegen menschenverachtende Staatsgewalt, gegen Ungerechtigkeiten, die elementare Menschenrechte missachteten, gabst Du nicht nur mir den Mut, den „Aufrechten Gang“ in einer kapitalistischen, und bis 1990 auch sozialistischen Welt zu verfolgen, ohne Angst vor Ausgrenzungen zu haben, die in meinem Fall nicht nur materieller Natur waren. Du lebtest mir, Deinen Schülern und Deinen Freunden einen solidarischen, humanen Anarchismus vor, der zur Heimat wurde. Immer, wenn ich die Gelegenheit hatte, bei Dir und Ute in Münster zu sein, wart Ihr beide mein drittes deutsches Zuhause neben meinem eigenen Elternhaus und meinen Freunden aus der Heidelberger Wohngemeinschaft.

Der Anarchismus, in libertärer, humanistischer Ausprägung, in Anlehnung an das weltanschauliche Erbe der Aufklärung aber auch an die christliche Nächstenliebe, war bereits Grundlage meiner Lebensauffassung, als wir uns erstmals im Heidelberger Institut für Soziologie trafen. Die politischen Ansichten der dogmatischen, hierarchisch strukturierten K-Gruppen und der RAF auf der einen Seite sowie die der bürgerlichen Parteien auf der anderen Seite hatte ich für mich persönlich seit Beginn der 70er Jahre ein für alle Mal ad acta gelegt. Du brachtest mich dazu, Anarchismus nicht nur als theoretisches Konzept zu verstehen, sondern Anarchismus in meiner eigenen Lebenswirklichkeit zu versuchen, als Weltanschauung und gleichzeitig Anleitung zum praktischen Handeln unter dem Leitwort: „Freiheit von Herrschaft, gleich welcher Art, durch nimmermüden Widerstand und revolutionäre Praxis“.

Das Jahrzehnt von 1965 bis 1975 war für uns das Jahrzehnt der Befreiungskämpfe überall auf der Welt. Angestoßen durch revolutionäre Befreiungsbewegungen auf Kuba, in Vietnam, in Palästina, in den damaligen Kolonien Portugals und Spaniens sowie in Lateinamerika insgesamt begann durch Dich initiiert meine individuelle Suche nach dem „Ganzen Menschen“, nach Gesellschaftssystemen mit dem größtmöglichen Freiheitsgrad für seine Mitglieder. Deine theoretischen Untersuchungen zu „Gesellschaften ohne Staat“ und Überlegungen und Beurteilung von Befreiungsbewegungen, die die Aufhebung von Herrschaft von Menschen über Menschen proklamierten, führten u.a. zur Gründung der „Amilcar Cabral Gesellschaft“ und der praktischen Solidarität mit der guineisch-kapverdischen Befreiungsbewegung und Regierungspartei, ab 1974, der PAIGC.

Im Oktober 1976 hast Du mir die Arbeit im Planungsministerium des jungen, unabhängigen Staates Guinea Bissau vermittelt, wo ich begierig war herauszufinden, was es mit Gesellschaften ohne Staat und dem Aufbau eines Staates auf sich hat, der während der Phase des Befreiungskampfes die bis dahin vom portugiesischen Kolonialismus unterjochten Völker mit dem Slogan der Abschaffung von Herrschaft im gemeinsamen Befreiungskampf einigen konnte. Dieser Einstieg in praktisches, gegen Herrschaft gerichtetes Handeln, hat seitdem mein Leben und Arbeiten bestimmt. Jedes Projekt, jede Regierungsberatung von mir in Afrika, Lateinamerika und Balkan war daraufhin ausgerichtet, gesellschaftlich ausgegrenzten Menschen Mut und Anleitung zum Widerstand zu geben, um sich, wenn auch oft nur in begrenztem Masse, Freiheit und ein friedliches, antihierarchisches, auf Solidarität bauendes Leben zu erstreiten. In diesem Sinne waren wir beide Anarchisten, Du primär auf die Theorie ausgerichtet, ich dagegen suchte und fand zunehmend Lehren in der Praxis. Du wusstest davon, dass ich vorhatte, nach fast 40 im Ausland verbrachten Jahren, in Deutschland ein oder zwei Projekte zu versuchen. Denn die Zukunft unserer gemeinsamen Heimat Deutschland sieht verdammt wolkenverhangen aus. Du fragtest mich um Weihnachten herum, wie weit meine Absichten in Deutschland gediehen seien. Ich hatte mich darauf gefreut, Dich bei meinem nächsten Deutschlandbesuch in Münster zu besuchen und Dich in die Diskussion um mögliche praktische Aktivitäten einzubinden, um mit Dir gemeinsam den nimmermüden Weg gegen Herrschaft und Entfremdung weiter zu gehen, solange uns das Geschenk des Lebens das erlaubt.

Leider ist uns dieser gemeinsame Erdenweg nicht länger erlaubt. Aber ich werde Dich wie auch Ute weiterhin in Gedanken, Zwiesprache und Ermutigung an meiner Seite wissen.

Mein lieber Christian, sei herzlich von mir umarmt und grüße mir ganz lieb „Frau Ute“, wie wir stets respektvoll sagten.

Dein Hermann

(Panama, Costa Esmeralda, 23. Februar 2015)

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

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