Oder der Wilde Sommer der Anarchie

Laurence (9) Vorletzte Folge der Sommer-Novelle aus Südwestfrankreich

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Foto: Wikimedia Commons, Unterzeichnung des deutsch-französischen Vertrages über Zusammenarbeit, „Élisée-Vertrag“, durch De Gaulle und Adenauer am 22. Januar 1963, Autor: Das Bundesarchiv

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Laurence oder der Wilde Sommer der Anarchie

Neunte Folge

„Lasst uns auf die französisch-deutsche Freundschaft anstoßen. Nie wieder Krieg zwischen unseren beiden Ländern!“

François‘ Tante erhob ihr Rotweinglas und forderte Laurence, François und Rudolf auf, es ihr gleich zu tun. Zusammen mit der Familie ihres Sohnes hatten sich alle im Garten der Tante zu einem ausgiebigen Mahl eingefunden. Die Tante hatte nicht locker gelassen, auch Laurence einzuladen, die sie unbedingt kennenlernen wollte. So telefonierte François nach Aigre. Es gelang ihm, Laurence und Rudolf zu einem Besuch in Mouthiers, das Rudolf ja Tage vorher bereits besucht hatte, zu überzeugen, wo sie alle übernachten könnten, um dann am folgenden Tag über Jarnac nach Aigre zurück zu radeln. In Jarnac hätten sie die Gelegenheit, das berühmte Chateau Courvoisier zu besuchen und eine Führung über die Cognac-Herstellung mitzumachen.

„Mit dem ‚Élysée-Vertrag‘ haben die Staatsmänner einmal einen lichten Moment gehabt. Kommt ja nicht alle Tage in der Geschichte vor,“ warf Laurence ein. „Das mit dem Bürgerkriegsende in Algerien war allerdings auch eine Tat, die De Gaulle hoch anzurechnen ist. Wie er sich jedoch im Mai 68 gegenüber der Studentenrevolte verhalten hat, ist eine ganz andere Sache.“

„Du hast recht Laurence, auch Adenauer hatte seinen lichten Moment bei der Unterschrift des französisch-deutschen Vertrages im Jahre 1963, dem wir indirekt auch unser heutiges Zusammentreffen zu verdanken haben. Ich kann mich noch gut an den ersten gemeinsamen Schüleraustausch erinnern, den ich vor 10 Jahren in Montpellier mitmachte. Wollen wir hoffen, dass der Zweite Weltkrieg der letzte Weltkrieg war, und dass zwischen Deutschland und Frankreich eine Freundschaft entsteht, die ganz Europa mit einbezieht. Es wäre auch phantastisch, wenn einmal der Tag käme, an dem das heutige Sowjetrussland und die osteuropäischen Länder in diese freundschaftlichen Beziehungen mit einbezogen würden. Schließlich hat Russland in zwei Weltkriegen 25 Millionen Opfer durch deutschen Größenwahn hinnehmen müssen. Bei den Politikern muss man immer Acht geben, damit sie keinen Unsinn machen. Wir freie Menschen dürfen ihnen nicht länger unwidersprochen politische Entscheidungen überlassen. Leider sind die Gesellschaften noch immer nicht so weit, um ihre Regierungen im Zaum zu halten. Unsere Generation hat die Aufgabe, endlich die Gesellschaft so aufzuklären, dass sie historisches Subjekt wird und nicht länger von Politikern manipuliert wird.“

Rudolf machte ein kleine Pause und schluckte vor innerer Erregung. Dann fuhr er fort: „Ich möchte mich, François, an dieser Stelle bei Deiner Familie entschuldigen, ganz besonders auch bei Deiner Tante, für das Leid, dass Nazi-Deutschland Euch in Lothringen und in der Charente angetan hat. Vor meiner Rückkehr nach Heidelberg will ich noch die beiden hässlichsten Monumente, die der deutsche Faschismus in der Charente und an der Demarkationslinie hinterlassen hat, besuchen, den U-Boot-Bunker in La Rochelle und das verwüstete Dorf Oradour-sur-Glane.“

„Rudolf, was im Krieg passierte, und was ich persönlich miterlebte, war unmenschlich. Aber Deine Generation trifft keine Schuld. Wir alle müssen aus der Vergangenheit lernen. Du, François und Laurence, Ihr habt es in der Hand, die Welt zu verändern. Wie Ihr wisst, unterstützen François’ Eltern und ich Euch bedingungslos in dem Unterfangen eines Neuanfanges zwischen Frankreich und Deutschland und vor allem auch in Euren Versuchen, eine die Menschenrechte achtende Gesellschaft aufzubauen. Viele Menschen meiner Generation werden Euch mit Misstrauen begegnen, da Ihr traditionelle Lebensweisen verändern wollt, um größere Freiheitsräume für die Menschen zu schaffen. Auch Euer Antiautoritarismus sowie Eure Ideen von freier Liebe werden vielen Menschen suspekt sein. Aber wenn sich Gesellschaft zum Besseren wandeln soll, dann müssen Experimente gemacht werden. Die Praxis wird zeigen, wie es weiter geht. Hauptsächlich weg von Krieg und hin zu brüderlichen und selbstbestimmten Formen des Zusammenlebens. Schade, dass meine Generation Eure Bemühungen nur unterstützen, diesen jedoch nicht mehr die Richtung geben kann. Die müsst Ihr selbst finden.“

Die Eltern von François sowie seine Tante waren einfache, hart arbeitende Menschen, ausgestattet mit einer reichlichen Dosis gesunden Menschenverstandes, die ihre Überlebenskünste im Kriege ehrenvoll bewiesen hatten, und die in der Nachkriegsphase den Wiederaufbau des Landes tatkräftig ermöglichten. Sie waren Teil des Besten, was Frankreich aufzubieten hatte, bescheiden, aufopferungsvoll, mit beiden Beinen auf der Erde stehend und schöpferisch. Wohltuend grenzten sie sich gegen die Kapitalistenklasse ab, die meinte, Geld und Besitz sei Frankreichs Größe. Und wenn es darauf ankam, dann zeigten sie den Oberen, dass sie nicht die dumpfe, unmündige, arbeitende Klasse war, mit der man spielen konnte wie man wollte. Ihre Hoffnung war darauf gerichtet, dass ihre Kinder einmal ein besseres Leben führen könnten, als sie es bisher gelebt hatten.

Die Tante wollte von den drei Studenten, die sich zum Anarchismus bekannten, wissen, wie sie sich eine neue, friedlichere Welt und ein menschenwürdiges Miteinander vorstellten.

Laurence kam auf eine brillante Idee. Anstatt theoretische Vorstellungen zu formulieren, könnten alle, einschließlich Tante und Cousin, ein gemeinsames Spiel spielen:

„Jeder von uns überlegt sich Parolen, bzw. Leitgedanken oder Maxime über eine gerechte Gesellschaft, über Anarchismus, Freiheit, Liebe, Humanismus und ethisches Handeln. Das könnten wir aufschreiben und als Andenken an diesen Mouthiers- Besuch mitnehmen.“

Die Tante stimmte sofort zu: „Ausgezeichnete Idee, Laurence. Ich erkläre mich bereit, die Gedanken aufzuschreiben, die wir dann kopieren können. Ich finde, wir sollten mit dem Verhältnis Frankreich-Deutschland beginnen.“

Alle waren einverstanden und so wurde die erste Diskussionsrunde über Frankreich-Deutschland eröffnet:

Nie wieder Bunker, Springerstiefel, Demarkationslinie und Oradour in der Charente, doch willkommen sei der Bruder und herzliche Wanderer, der singt und lacht!

Franzosen und Deutsche, liebt Euch statt Euch zu hassen!

Franzosen und Deutsche seien für immer als Schwestern und Brüder vereint.

Ein gemeinsames Frankreich und Deutschland wird nicht von Politikern geschaffen. Es wird nur gelingen, wenn sich Franzosen und Deutsche aus freiem Willen dafür einsetzen.

Von Politikern unterzeichnete Verträge sind nur so viel Wert, wie sie von den Herzen der freien Bürger gewollt werden.

Nieder mit europäischen Nationalismen! Es lebe die Europäische Idee!

Ein geeintes Frankreich-Deutschland sei der Kern eines neuen Europas.

Selbstverwaltete französisch-deutsche Zwillingsregionen seien die Grundlage französisch-deutscher Volkssouveränität.

Freier Bürger statt Untertan in französisch-deutschen Landen!

Französische und deutsche Bürger, kontrolliert Politiker und Regierung! Lasst sie nicht unbeaufsichtigt! Vertreten sie nicht oder schlecht die Interessen der Menschen, fegt sie hinweg!

„Ich glaube, das genügt erst einmal,“ meinte Laurence. „Als zweite Runde schlage ich das Thema ‚Freiheit‘ vor. Einverstanden?“

„D’accord,“ antwortete die Tante und begann die Runde.

Nie mehr unfreier Mensch, weder in der Charente noch anderswo!

Freiheit bedeutet freie Assoziation von Menschen.

Freiheit des Menschen nur bei gleichzeitiger Freiheit der Natur!

Freiheit ist Abwesenheit von Herrschaft, von Armut, von Krieg.

Jenseits der Gefängnismauern blühen die Blumen auf dem Feld.

Staat, Bürokratie und Militär seien dem freien Bürger untertan.

Gib‘ dem Staat, was dem Staate gebührt, aber verweigere ihm Gehorsam, wenn er Dich Deiner Freiheit beraubt!

Tun und Lassen was beliebt, solange die Gemeinschaft es toleriert.

Der Mensch hat das Recht frei zu leben, so wie der Vogel frei fliegt, der Fisch frei schwimmt und die Biene frei den Honig sucht.

Niemand besitzt das Recht, die Freiheit des Anderen zu beinträchtigen!

Solange Schwester und Bruder unfrei sind, bin ich auch unfrei.

Freiheit ist, wenn Oben und Unten, Reich und Arm, Mächtig und Ohnmächtig von der Welt verschwinden.

Freiheit ist, wenn Gleiche unter Gleichen sind.

Der Mensch ist von Natur aus frei.

„Das ist schon einmal gar nicht schlecht. Wenn wir so weiter machen, fürchten die Philosophen womöglich um Arbeit und Lohn.“ François brach in ein fröhliches Gelächter aus. „Da können wir gleich die dritte Runde über Humanismus und Anarchismus einläuten.“

Positive Lebensmaxime: Einmal Rebell, immer Rebell! So wird Herrschaft gebrochen!

Negative Lebensmaxime: Einmal Rebell, dann Konformist! So wird Herrschaft verewigt!

Anarchismus ist Herrschaftslosigkeit.

Anarchismus basiert auf Gesellschaft freier Menschen.

Anarchismus und Humanismus beginnen dort, wo die Mauer der Herrschaft eingerissen wird..

Obrigkeit gehört abgeschafft oder der direkten Kontrolle freier Menschen unterstellt.

Humanismus adelt Anarchismus.

Humaner Anarchismus kennt weder Befehl noch Gehorsam.

Humaner Anarchismus kennt keinen unangemessenen Privatbesitz.

Unangemessener privater Besitz ist der, der über ein ausreichendes Lebensniveau hinausreicht; er ist Diebstahl am Besitz der Allgemeinheit.

Humaner Anarchismus erlaubt keine Armut, keinen Krieg, keine Herrschaft.

Humaner Anarchismus ist die einzige Gesellschaftsform, in der jeder Mensch nach seiner Façon und seinen Fähigkeiten auf Erden selig werden kann.

Humaner Anarchismus ist der ‚Himmel auf Erden‘.

Nur humaner Anarchismus kann die Würde des Menschen verwirklichen.

Anarchismus ist Humanismus, ist Herrschaftslosigkeit, ist Freiheit, ist Liebe.

„So, jetzt lasst uns zum Abschluss zur Liebe kommen. Ohne sie hat das Leben keinen Sinn. Wer will den Anfang machen?“ fragte Laurence. Sogleich schwebten die Vorschläge wie bunte Luftballons durch die Luft, die von den Anwesenden mal hier, mal da herum-gewirbelt wurden.

Liebe ist nicht zu verwechseln mit Sexualität oder Passion. Wenn diese Drei aber zusammenfallen, brechen alle Dämme.

Liebe ist grenzenlos.

Liebe ist der Sinn des Lebens.

Liebe ist unerklärlich.

Liebe ist kein Besitz, ist unbezahlbar, ist kostbarstes Geschenk.

Wo Liebe hinfällt, muss der Teufel weichen.

Liebe in der Jugend ist Selbsterkenntnis und Nehmen; Liebe in der Reife ist Erkenntnis des Anderen sowie Geben und Nehmen; Liebe im Alter ist gegenseitige Verantwortung.

Herrscher wissen nicht, was Liebe ist.

Machos lieben nur sich selbst.

Gegenseitige Liebe setzt gegenseitige Erkenntnis voraus und führt zu gegenseitiger Verantwortung.

Liebe ist ein Tausend-Blumen-Feld.

Liebe ist nie selbstverständlich.

Liebe benötigt tägliches Wasser, um vor dem Vertrocknen bewahrt zu werden.

Liebe kann auf Seelenverwandtschaft beruhen oder auf gleichen Interessen oder ohne jeden Grund vom Himmel fallen.

Wenn Liebe Dich wachküsst, gehst Du als freier und ungebeugter Mensch durchs Leben.

Liebe wird unvergänglich, wenn die Herzen unendlich weit sind.

Liebe gibt Kraft zur Schöpfung.

Liebe ist Loslassen, ist Fliegen, ist Erschaffen, ist Geben, ist Beschützen.

Liebe beginnt bei der Selbst-Liebe, führt zur Nächsten-Liebe und endet bei der Natur-Liebe.

Lieben heißt Leben heißt Freisein.

Wird Liebe zwischen Menschen nicht beantwortet, ist das kein Grund zur Trübsal. Dann wird sie sorgsam im persönlichen Schatzkästlein aufbewahrt. Merke: Liebe kann nie erzwungen werden!

„Meine Lieben, ungefähr kann ich jetzt erahnen, wie Ihr Euch das Leben vorstellt. Nicht umsonst ist uns über die Liebe am meisten eingefallen, denn was wäre ohne sie das Leben schon wert? Unsere Ideen sind bunt zusammengewürfelt und sicher von vielen anderen Menschen ebenso definiert. Aber wichtig ist, dass auch wir sie gedacht haben. Ich werde Euch meine Aufzeichnungen als Erinnerung an unser denkwürdiges Zusammensein in Mouthiers-sur-Boëme zuschicken. Wer weiß, welche Worte uns im künftigen Leben noch begleiten werden? Laurence, ich freue mich, Dich kennengelernt zu haben, ebenso auch Rudolf. Ihr jungen Leute werdet dafür sorgen, dass unsere Völker Bruder-Völker werden. François, Du musst meine Schwester und Deinen Vater von mir grüßen. Wenn ihr Morgen nach Jarnac fahrt, das Schloss Courvoisier besucht und in die Kunst der Cognac-Herstellung eingeweiht werdet, dann fahrt Ihr auf dem Weg dorthin über Champagne-Vigny. Da wartet eine der schönsten Gegenden der Charente auf Euch.“

Die Tante verabschiedete sich mit einer feierlichen Umarmung und einem ‚bisous‘ von den Dreien, da sie als Bäuerin am nächsten Morgen schon in aller Herrgottsfrühe aufstehen müsste. Aber der Cousin von François würde ihnen noch das Frühstück richten.

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Foto: Wikimedia Commons (2010), Weinfelder bei Champagne-Vigny, Cognac-Region, Charente, Autor: JLPC

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Foto: Wikimedia Commons (2011), Schloss Courvoisier am Charente-Ufer in Jarnac (Region Cognac/Saintonge), Autor: Jack ma

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Reichlich müde und hungrig kamen Laurence, François und Rudolf am nächsten Abend nach Aigre zurück. Die Tour über Champagne-Vigny und Jarnac hatte sich gelohnt. Sie hatten sich längst in die Landschaft der Charente verliebt. Und bei der Besichtigung der Courvoisier-Kellerei blieb es nicht aus, dass die Drei einen guten Tropfen erstanden, den sie nach der Rückkehr zu goutieren trachteten.

François wusste bisher nichts über die aufkommende Liebesbeziehung zwischen Laurence und Rudolf. Eine Offenlegung darüber bei der Tante wäre fehl am Platze gewesen. Aber François begann bei aller Diskretion, die Laurence und Rudolf an den Tag legten, zu ahnen, dass sich zwischen beiden mehr als eine Freundschaft anbahnte. Insgeheim fragte er sich, wie er reagieren würde, sollten sich Laurence und Rudolf ineinander verlieben. Was wäre dann mit ihm? Würde Laurence die schon einige Jahre dauernde Zweierbeziehung mit ihm abbrechen, oder würde sie gar, wie sie spaßeshalber andeutete, beide gleichzeitig lieben wollen? Gefühlsmäßig war er hin und her gerissen und hatte insgeheim Angst, seine Liebe zu Laurence könnte beschädigt werden. Sie war doch die Frau, die er unendlich liebte. Sicher, sie war nicht sein Besitz. Ihre Liebe beruhte auf freiem beiderseitigen Entschluss. Doch wäre ein Ende ihrer Liebe zu ihm kaum auszudenken.

Laurence wurde sich beim Besuch in Mouthiers bewusst, wie sehr sie ‚ihre‘ beiden Männer lieb gewonnen hatte. Wenn es möglich wäre, würde sie auf der Stelle entscheiden, mit beiden gemeinsam durchs Leben zu gehen. Sie gaben ihr das, was sich eine jede Frau nur wünschen kann: Anerkennung, Sicherheit, Leidenschaft, Schöpfer-Kraft und Kraft zum selbstlosen Geben. Aber wie würde François darauf reagieren, wenn er von ihrer neuen Liebe zu Rudolf erführe? Laurence wollte weder François noch Rudolf verlieren.

Wie bei seinen beiden Freunden trieben Rudolf in Mouthiers ebenfalls die Gedanken über das Dreiecksverhältnis um. Er wurde geschüttelt von seinen Gefühlen. Laurence mochte er nicht mehr missen. Sie schien ihm die ideale Frau für sich zu sein. Andererseits wäre es ihm unerträglich zu wissen, dass François nicht über sein Liebesverhältnis zu Laurence hinwegkäme.

Angesichts der unausgesprochenen Fragen waren die Drei recht einsilbig auf dem letzten Stück ihrer Radtour von Jarnac nach Aigre. Die Schwüle des Tages kündigte ein nächtliches Gewitter an. Schon wochenlang hatte es nicht mehr geregnet und das trockene Land lechzte nach einem erfrischenden Regenguss.

Beim Abendbrot unterm Ahornbaum im Garten der kleinen Pension durfte ein roter ‚Vin de Pays‘, ein guter Landwein sowie verschiedene Käsesorten nicht fehlen. Der Wein verhalf allen dreien, sich von ihren zwiespältigen Stimmungen freizumachen. Sie waren begeistert von dem Besuch bei der Tante und von dem Gedankenaustausch über ‚Gott und die Welt‘. Ja, wie sollte eine neue, freie Gesellschaft aussehen und welche Lebensformen würden sich entwickeln? Die klassische Familie, die ja in vielen Fällen gerade nicht auf Freiheit und Liebe beruht sondern auf Konvention, würde zwar nicht ersetzt werden, aber es würden sich neben ihr weitere Formen des menschlichen Zusammenlebens entwickeln, die der Freiheit und Liebe mehr Raum ermöglichen könnten, zumindest in der Theorie. Ob das in der Praxis dann tatsächlich der Fall wäre, müsste sich erst beweisen.

Als sich dann das Gewitter mit aufkommendem Wind und Donnerrollen aus der Ferne ankündigte, verlegten die Drei die Fortsetzung des Abends auf Laurence‘ und François‘ geräumiges Zimmer im Nebenhaus der Pension. Da brauchten sie auch keine Rücksicht auf die Wirtsleute nehmen, die im Haupthaus wohnten.

Laurence hatte auf einmal das Gefühl, dass sie am heutigen Abend die Sprache auf ihre Beziehung zu den beiden Männern bringen müsste. Sie konnte und wollte ihre empfundene Liebe für Rudolf nicht länger verschleiern. Sie wollte auch wissen, wie es mit ihr und den beiden weiterginge. Deshalb machte sie den Vorschlag, den aus Jarnac mitgebrachten Cognac zu probieren. Vielleicht würde er ihnen dazu verhelfen, dass sich ihre Zungen lösten.

Nachdem die Drei wiederum auf ihre Freundschaft angestoßen hatten, dieses Mal mit einem köstlichen Schluck Courvoisier, den ihre Gaumen zu schätzen wussten, fragte Laurence die beiden Männer offen heraus: „Was wäre, wenn ich Euch beide lieben würde? Würde das unsere Beziehungen verändern?“

François und Rudolf erschraken ob dieser Geradheit, obwohl sie doch ahnten, dass Laurence so etwas fragen könnte. Jetzt müssten sie sich konkret den Themen stellen, die bisher theoretisch zwischen ihnen diskutiert wurden. Über Sexualität, Passion und Liebe lässt sich trefflich streiten, solange es nicht persönlich wird. Nun aber mussten sie ‚Farbe‘ bekennen, auch wenn es schmerzlich werden konnte.

„Laurence, Du weißt, wie sehr ich Dich liebe, und das seit ich Dich das erste Mal auf einer Mai-Demo 1968 in Paris entdeckte. Wir beide waren damals noch Schüler und aus verschiedenen Richtungen nach Paris gereist, weil wir ahnten, dass etwas für uns Wichtiges in der Hauptstadt passierte. Ich erblickte Deine roten Haare in der Menge und suchte nach Deinem Gesicht, was ich in der Folge nicht mehr aus meinem Gedächtnis verlor. Als wir uns dann zwei Jahre später in der Uni-Mensa wiedertrafen, war das für mich wie ein Fingerzeig, dass uns das Schicksal vereinen wollte. Jetzt sind wir mehr als vier Jahre zusammen. Wir sind gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen und konnten uns auf unsere Liebe verlassen. Nun bin ich einfach unschlüssig und verwirrt. Wie soll ich Dir antworten?“ François, der sonst immer so optimistisch und fröhlich war, wirkte plötzlich traurig und einsam.

„Laurence und François, ich gestehe, dass ich mich wahnsinnig in Laurence verliebt habe, seit ich Euch beide kennengelernt habe. Auch ich bin als Schüler von Heidelberg aus nach Paris gefahren, um den Mai 68 hautnah mitzuerleben. Ich bin sozusagen von Eltern und Schule ausgerissen, weil mich schon seit dem 2. Juni 1967, dem Tag der Erschießung von Benno Ohnesorg in Berlin, der Wind der Revolte gegen das Establishment ergriffen hatte. Deshalb wollte ich unbedingt miterleben, was in Paris geschah und was unsere beiden Völker in der Nachkriegszeit miteinander verband. Mit einigem Zufall hätte ich Euch dort auch treffen können. Nun haben wir Drei uns hier in Ville-Jésus in der Templer-Kapelle zusammengefunden. Ich kann nicht glauben, dass das reiner Zufall war. Wir haben jeden Tag stärker erfahren, dass wir durch Seelenverwandtschaft miteinander verbunden sind. Das geschieht nicht alle Tage, und wir sollten dankbar darüber sein. Allerdings weiß ich auch nicht, wie es mit uns Dreien weitergehen könnte.“

Rudolf erhob sich spontan und nahm François in beide Arme. Dieser ließ es mit sich geschehen; zuerst teilnahmslos, dann aber, mit zunehmendem festen Beharren vonseiten Rudolfs ging auch François auf den deutschen Freund zu. Wie konnte er diesem böse sein, sich in Laurence verliebt zu haben? Nur zu gut konnte er das verstehen, auch, wenn es weh tat.

Als Laurence ihre ‚beiden‘ Männer derart umfangen sah, konnte sie nicht umhin, sich zwischen beide zu drängeln und sie aufzufordern, sich einen Kuss zu geben und sich gegenseitig zu vertragen.

„Wenn Ihr mich wirklich so liebt, wie ich Euch liebe, dann schließt Frieden untereinander und seht unsere Dreiecksbeziehung an, als sei sie das Natürlichste auf der Welt. Ich möchte jetzt mit Euch tanzen. Gerade vor einigen Wochen hörte ich im Radio zwei Stücke von Bob Marley, die ich aufnahm und die ich mit Euch teilen möchte.“

Mit diesen Worten machte Laurence ihren Kassettenrecorder an, zündete eine Kerze an, denn es war bereits im Zimmer dunkel geworden und schloss das Fenster. Draußen begann der Sturm. Eng umschlungen und nach dem Rhythmus tanzend folgten sie dem Lied ‚No woman, no cry!‘.

Bei dem Text der Musik waren sich die beiden Männer nicht schlüssig, ob sich Laurence mit dem Elend der Unterdrückten dieser Welt identifizieren wollte, oder ob sie das Musikstück auf ihr persönliches Leben bezog und im Unterbewusstsein den Schutz der beiden herbeisehnte. Die Musik wirkte beim zweitmaligen Abspielen so stark auf die Drei, dass sie im Tanzen miteinander verschmolzen und begannen, sich gegenseitig zu küssen. Dabei sang Laurence, den Text verfremdend: „Let the fire burn through our night!“ (Lasst das Feuer unsere Nacht hindurch brennen!) Dabei verloren auch François und Rudolf jegliche Scheu voreinander.

Nach einem nächsten kräftigen Schluck Courvoisier legte Laurence das zweite Stück von Bob Marley auf: ‚Stand up, get up!‘

Bei dieser Weise erwachte der rebellische Geist der Drei, und sie waren nicht mehr zu halten. Immer wieder sangen sie mit Bob Marley: „But if you know what life is worth, you would look for yours on earth. So we won’t give up the fight!” (Wenn Du wüsstest, wie wertvoll das Leben ist, würdest Du Dich darum auf Erden bemühen. Deshalb werden wir den Kampf nicht aufgeben!)

Diese Worte waren wie ein Vermächtnis für Laurence, François und Rudolf: Für ihre gemeinsame Liebe zu kämpfen und gegen Ungerechtigkeit in der Welt aufzustehen. Die Magie der Nacht hatte sie verzaubert.

Als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, kam Laurence die Idee, sich in der großen Badewanne bei warmen Wasser zu vereinen und die Flasche Courvoisier bis zum letzten Tropfen zu leeren.

Sie konnten sich gar nicht schnell genug ihrer Kleider entledigen und sich dem warmen Wasser und ihren Körpern hingeben, sich gegenseitig finden, spüren, genießen, küssen und durcheinander lieben wie Suchende, die sich endlich auf den abenteuerlichen Lebenspfaden gefunden hatten. Es war, als ob nur noch sie auf der Welt wären und nur der jetzige Augenblick zählte.

Am nächsten Morgen rieben sie sich erstaunt die Augen, als sie zusammen im Doppelbett aufwachten und sich Laurence mal in François‘, mal in Rudolfs Armen wiederfand. Dabei entfuhr es ihr: „Meine beiden geliebten Männer! Erinnert Ihr Euch an das Pariser Graffito vom Mai 68: Es ist verboten zu verbieten! Genießen wir unsere gemeinsame Liebe! So, und jetzt will ich einen Guten-Morgen-Kuss von Euch beiden!“

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Foto: Wikimedia Commons, Graffito vom Pariser Mai 68, Autor: Espencat

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Ende der Folge Neun

Zum Wochenende kommt hoffentlich die letzte Folge, der Epilog

LG aus Panamá, CE

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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