Oder der Wilde Sommer der Anarchie

Laurence (6) Nächste Folge der Sommer-Novelle, gerade rechtzeitig zur Flüchtlingsproblematik und zunehmendem Rechtsruck in Deutschland

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Foto: Wikimedia Commons, Landkarte der Demarkationslinie (1940 bis 1944) in Frankreich während des zweiten Weltkrieges, Evakuierung/Flucht im Frühjahr 1940 von François‘ Familie aus Petite Rousselle in Lothringen an der saarländischen Grenze nach Mouthiers-sur-Boëme bei Angoulême (Charente), d. h. von ang‘e‘schlossen zu ‚U‘nbesetzte Zone. Mouthiers-sur-Boëme liegt noch in der Nordzone, wenige Kilometer entfernt zur „freien“ Südzone

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„François, Du musst mir unbedingt die Odyssee Deines Vaters und Deiner Mutter während des Zweiten Weltkrieges erzählen.“

„Ich bin ebenso gespannt auf Deine Familiengeschichte. Wir werden uns zwei schöne Tage machen. In Mouthiers-sur-Boëme werden wir bei meiner Tante mütterlicherseits übernachten. Auf dem Hinweg können wir in La Couronne Station machen und uns die bekannte Abtei anschauen, deren Bau bereits im 12. Jh. n. Chr. zur Zeit der Gründung des Templer-Ordens begonnen wurde.“

François und Rudolf waren am nächsten Morgen schon früh mit ihren Fahrrädern zu einer 50 km Tour aufgebrochen. Sie wollten von Aigre aus über La Couronne nahe Angoulême nach Mouthiers-sur-Boëme fahren. Dorthin war die Familie von François‘ Vater, die im lothringischen Petite Rousselle zu Hause war, im Frühjahr des Jahres 1940 geflüchtet. Der drohende Einmarsch der Wehrmacht nach Frankreich setzte eine Flüchtlingsbewegung von beinahe Hunderttausend Lothringern und Elsässern nach Charente in Bewegung. Erst wenige Monate vor der Evakuation hatte der Vater seine Bergmannsausbildung in den Steinkohlebergwerken absolviert, wie das in seiner Familie seit der Erschließung der Kohlevorkommen in den 60er Jahren des 19. Jh. Tradition war.

Das Schicksal wollte es, dass der Ort Mouthiers-sur-Boëme gerade noch innerhalb der Nordzone des durch die Demarkationslinie geteilten Frankreichs lag. Das hatte zur Folge, dass François‘ Vater zusammen mit den übrigen Lothringern und Elsässern schon im Herbst 1940 von der deutschen Besatzungsmacht in die alte Heimat zurückgeschickt wurde. Während der Sommermonate in Mouthiers-sur-Boëme lernte der Vater seine zukünftige Frau ausgerechnet auf dem Bauernhof kennen, auf dem die Familie des Vaters untergeschlüpft war. Die Jungverliebten waren damals 18 Jahre alt und versprachen einander die Treue, um nach hoffentlich baldigem Kriegsende in Petite Rousselle eine Familie zu gründen. Heute führt in Mouthiers-sur-Boëme eine verwitwete Tante den Hof der Großeltern weiter. Ihr Verlobter wurde zum Bau des Atlantikwalls bei La Rochelle in der Region Charente -Maritime abkommandiert, wo die Wehrmacht einen U-Boot-Bunker errichtete. Dort starb er aufgrund unerträglicher Arbeitsbedingungen an Hunger und Tbc. Dieses Schicksal ereilte ebenso ungezählte ehemalige französische Kriegsgefangene und vor allem Zwangsarbeiter aus besetzten osteuropäischen Ländern.

François hatte seine Tante ein paar Mal in seiner Kindheit besucht, um sich in den Schulferien zu erholen und einmal richtig satt zu essen. Die Nachkriegszeit im lothringischen Petite-Rousselle (Kleinrosseln), direkt gegenüber der saarländischen Nachbargemeinde Grossrosseln und 10 km von Saarbrücken entfernt, war für die Bergmannsfamilien voller Entbehrungen, so dass viele Kinder in den Ferien aufs Land zu Verwandten geschickt wurden.

Laurence hatte die beiden Freunde mit den folgenden Worten verabschiedet: „Meine beiden lieben Männer, macht Euch zwei schöne Tage und quatscht Euch aus über deutsch-französische Geschichte und Eure Familien. Jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir unsere europäische Identität entdecken oder besser noch, unsere Identität als Weltbürger. François, ich kann mir vorstellen, dass Dein Vater und Deine Mutter bereits seit Kriegsende die Nase endgültig von Nationalismus-Gedöns voll hatten.“

„Damit hast du absolut recht. Immer hat die große Politik in Lothringen und im Elsass aber auch im Saarland und der Pfalz unseren Familien mal die eine, mal die andere Nationalität übergestülpt, ohne die Menschen danach zu fragen. Diese Zeit muss nun endgültig vorbei sein. Ich jedenfalls beteilige mich nicht mehr an diesen Spielen der Herrschenden. Laurence, wenn wir die Wurzeln meiner Familie in Mouthiers-sur-Boëme ausgegraben haben, kommen wir umgehend zu Dir zurück. Ich kann zwar nicht für Rudolf sprechen. Aber wie es scheint, fühlt er sich in unser beider Gemeinschaft wohl. Stimmt’s Rudolf?“

Diese Wendung des Abschieds machte Rudolf reichlich verlegen. Innerlich durchlebte er noch die gestrige Deutsch-Stunde und seine erste intime Begegnung mit Laurence. Doch das durfte er sich gegenüber François nicht anmerken lassen.

„Sicher komme ich genauso gern nach Aigre zurück wie Du. Schließlich müssen Laurence und ich die Deutsch-Stunden fortsetzen. Doch Laurence, was wirst Du derweil ohne uns machen?“

„Da macht Euch mal keine Gedanken drum. Ich werde jedenfalls mit einem vorzüglichen Roten Bordeaux auf Euch warten. Und für die Zwischenzeit habe ich mir Albert Camus vorgenommen. Immer schon wollte ich seine ‚Pest’ noch einmal lesen, die mein Vater wie die Pest hasst. Auch habe ich von Camus einen Bericht über die armseligen Verhältnisse der bäuerlichen Bevölkerung in der Kabylei, den er mit 26 Jahren für eine algerische sozialistische Zeitschrift geschrieben hatte. Ich werde diesen Bericht mit dem vergleichen, was mir meine Großmutter in Oran erzählte, wo ich die ersten zwölf Jahre meines Lebens verbrachte. Als Kind verstand ich das ganze Drama der Kabylei nur bruchstückhaft. Mein Vater regte sich immer über die Kritik von Camus am französischen Kolonialsystem auf und beschimpfte ihn als Kommunist, Anarchist und Vaterlandsverräter. Er war besonders aufgebracht, als Camus 1957 jüngster Literatur-Nobelpreisträger wurde, und das während des algerischen Befreiungskampfes. Doch soweit ich weiß, war Camus bis zuletzt Verteidiger eines französischen Algeriens. Vielleicht hat ihm das auch sein Leben gekostet. Wer weiß das schon, ob sein Autounfall 1960 nicht ein absichtlich herbeigeführter Mord war? Camus hatte viele Feinde. Die algerische Befreiungsfront FLN war jedenfalls nicht gut auf ihn zu sprechen, ebenso die Regierung in Moskau. Camus war stets ein scharfer Kritiker des diktatorischen Sowjetsystems gewesen, insbesondere auch seiner brutalen Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes im Jahre 1956. So, jetzt entlasse ich Euch aus meiner Gedankenwelt. Macht Euch auf den Weg!“

François und Rudolf wählten für ihre Radtour die Nebenstraßen aus, wo sie beide nebeneinander fahren und sich ungestört unterhalten konnten. Dabei genossen sie auch in vollen Zügen die liebliche, leicht hügelige Landschaft. Auf einigen Weinhängen hatte schon die Weinernte begonnen. Wann immer die beiden eine kurze Pause einlegten, versorgten sie sich mit ausreichend Trauben. Diese Fahrt war die erste Gelegenheit, die die beiden jungen Männer ohne die Anwesenheit von Laurence verbrachten. Und so war es nur natürlich, dass sie bald auf Laurence zu sprechen kamen. Vor allem wollte François wissen, was Rudolf über Laurence dachte. Ihm war nicht entgangen, dass Laurence für den neuen Freund eine herzliche Sympathie aufbrachte. Rudolf seinerseits hatte vor, so wenig wie möglich mit François über Laurence zu sprechen. Wie auch sollte er offen eingestehen, dass er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte? Was sollte François über ihn denken? Die erst frische Freundschaft der Drei könnte mit einem Schlag zerschnitten werden, falls François die aufkommende Passion zwischen Laurence und ihm gefühlsmäßig nicht aushalten würde.

„François, Ihr beide seid zur rechten Zeit in mein Leben gefallen. Wie ich Euch schon erzählte, hatte ich eben eine qualvolle Trennung von meiner ersten großen Liebe überstanden. Meine Magisterarbeit wollte ich auch nutzen, um mich in einem selbstgewählten ‚Emeriten-Dasein‘ emotional wieder völlig freizuschwimmen und um mich ausschließlich einer Kopfarbeit zu widmen. Als ich Euch wie aus heiterem Himmel kennenlernte, wurde mir bewusst, dass ich in letzter Zeit unter fehlenden sozialen Kontakten zu Gleichgesinnten litt. Ihr seid für mich nicht nur Geist- sondern auch Seelen-Verwandte. Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass wir Drei uns hier in der Charente treffen mussten. Ob es Zufall, Schicksal oder Karma ist, was uns zusammenführte, ist dabei egal. Immerhin ist unsere Begegnung real, und wir sollten das Beste daraus machen.“

„Rudolf, dass Du mit mir und Laurence gedanklich auf der gleichen Welle schwimmst, wollte ich weniger wissen, obwohl das für uns Drei wichtig ist. Nein, ich würde gern von Dir hören, was Du über Laurence als Frau denkst, nicht als Mensch an sich? Ich bin, wie Du sicher bemerkt hast, wahnsinnig in sie verliebt. Sie ist für mich eine Frau wie aus dem Bilderbuch. Dass sie mich auch liebt, ist für mich ein kleines Wunder. Warum gerade ich? Mir ist auch nicht entgangen, dass unsere gemeinsamen Freunde von ihr mehr als angetan sind. Laurence hätte sich ebenso in einen meiner Freunde verlieben können. Rudolf, ich wüsste nicht, wie ich damit fertig würde, wenn eines Tages die Liebe zwischen mir und Laurence ein Ende fände. Du hast ja so etwas mit J. schon einmal erlebt. Deine Erfahrungen wären sicher hilfreich für mich.“

Wie Rudolf es schon an sich selbst erfahren hatte, war für François das „Wunder“ der Liebe unerklärlich. Und François wusste, dass ihn dieses „Wunder“ verletzlich machte. Denn ist es nicht des Menschen unausgesprochener Wunsch, das kunstvolle, gläserne Liebes-Geschenk auf unserem rutschigen Lebensgang für immer vor dem plötzlichen oder langsamen Zersplittern zu bewahren?

Rudolf begann sich in François hineinzudenken. Schuldgefühle kamen in ihm auf. Wie hatte doch Chamfort gesagt: Jouis et fais jouir, sans faire de mal ni à toi, ni à personne : voilà, je crois, toute la morale. Müsste nicht der ausgelebte Hedonismus von ihm und Laurence seine Grenze in François‘ Verwundbarkeit finden?

„François, ich muss gestehen, dass Laurence eine Frau ist, die einen Mann verrückt machen kann. Sie selbst wird aber ihre Liebe und Zuneigung mit nur wenigen Menschen teilen können. Nimm ihre Gefühle für Dich einfach als ein Geschenk und frage nicht danach, ob Du dieses verdient hast oder nicht. Nimm es so an, heute und so lange, wie Ihr beide es als gemeinsamen Grund Eurer Existenz begreift. Das gegenseitig mit freiem Willen Geschenkte kann jeden Moment vom Einen oder Anderen oder von Beiden gleichzeitig genommen werden, so wie es gegeben wurde. Sollte die Liebe vergehen, wirst Du darüber hinwegkommen, da bin ich mir sicher. Die Zeit wird Dir dabei helfen. So ist es auch mir ergangen. Die Liebe ist zuerst wie der Sturm auf hoher See, reine Passion, die sich langsam in ruhige, besinnliche Wellenbewegungen wandelt. Dann taucht irgendwann die Frage auf: Wird die Welle ewig dauern, oder wird sie in ihrem Schwung endgültig einhalten. Bei J. und mir ist der Bruch total, doch die Erinnerung bleibt wertvoll, und das zählt.“

Die beiden jungen Männer fuhren nach dieser Unterhaltung eine ganze Weile schweigend nebeneinander her. Sie waren beide in Gedanken bei Laurence, bei der Liebe, bei der Passion, bei der Freiheit und dem Willen, das Leben so zu nehmen, wie es ihnen geschenkt wurde. Von wem? Darüber machten sie sich erst einmal keine Gedanken. Das Leben war einfach da und hatte seinen Sinn aus sich selbst heraus. Sonst würden sie doch nicht in diesem Leben stehen.

Bevor sie nach einer dreistündigen Fahrt in La Couronne ankamen, offenbarte Rudolf seinem Freund eine erste Einsicht in seine Familiengeschichte: „François, auch meine Familiengeschichte hat etwas mit der Charente zu tun. Allerdings mit Charente-Maritime, genauer gesagt, mit La Rochelle und dem Atlantikwall, den die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg errichtete. Mein Vater war als junger Architekturstudent Schüler von Albert Speer, dem Architekten und späteren Rüstungsminister von Hitler in den Jahren 1942 bis zum Kriegsende. Speer war auch für den Ausbau des Atlantikwalls verantwortlich, dessen Bau in Frankreich von Feldmarschall Rommel nach dem verlorenen Afrika-Abenteuer seit Ende 1943 energisch vorangetrieben wurde. Speer empfahl Rommel, meinen Vater beim Bau des U-Boot-Bunkers in La Rochelle einzusetzen. Dort verdiente er sich während des Krieges die ersten beruflichen Sporen. Wie Speer verehrte er Hitler ebenfalls und identifizierte sich uneingeschränkt mit dem Dritten Reich. Mein Vater heiratete schon im Studentenalter, noch vor der Kristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Meine Mutter, die damals mitten im Medizinstudium steckte und gemäß Nürnberger Rassegesetze als sogenannter jüdischer Mischling zweiten Grades, bzw. ‚Vierteljüdin‘ eingestuft war, konnte durch die Heirat mit einem aufstrebenden, prominenten Nazi-Mitglied einige ihrer Verwandten vor dem sicheren Tod in Konzentrationslagern des Dritten Reiches retten. Das tat sie besonders auf den Reisen nach La Rochelle, wenn sie meinen Vater besuchte und die Verwandten mit Hilfe französischer Fluchthelfer durch die nahegelegene Demarkationslinie in der Charente schleuste. Von diesen Aktivitäten durfte selbstverständlich mein Vater nichts wissen. Er steckte sowieso bis über beide Ohren in seiner, wie er immer wieder betonte, verantwortungsvollen Tätigkeit des Ausbaus des U-Boot-Bunkers in La Rochelle und der Arbeits-Organisation von Tausenden von Zwangsarbeitern.“

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Foto: Wikimedia Commons, U-Boot-Bunker der deutschen Wehrmacht in La Rochelle, Charente-Maritime, Autor: Alain Pep.per

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“Rudolf, unsere Väter und Mütter hätten sich mit etwas Glück oder auch Pech, wie man es nimmt, in der ersten Hälfte der vierziger Jahre hier in der Charente begegnen können. Es muss damals eine fürchterliche Zeit gewesen sein. Was können wir froh sein, dass diese Kriegswirren schon dreißig Jahre hinter uns liegen und wir Drei uns heute in Friedenszeiten an dieser Region so recht erfreuen können. Meine Tante wird uns heute Abend über die Kriegszeiten an der Demarkationslinie sicher mehr erzählen. Ich hatte sie von unserem Kommen unterrichtet. Aber sieh‘ mal, da vorne kann man schon die ersten Häuser von La Couronne erkennen.“

François und Rudolf legten bei der Abtei Notre Dame de La Couronne, deren Bau im 12 Jh. nach Chr. begonnen worden war, eine Mittagspause ein. Dabei hatten sie ausgiebig Gelegenheit, die verschiedenen Phasen des Klosterbaus nachzuvollziehen, der während des Hundertjährigen Krieges und der Religionskriege im 16. Jh. zwischen Katholiken und Hugenotten verschiedenste Verwüstungen hatte über sich ergehen lassen müssen.

„Rudolf, was wurden Religionen in der Menschheitsgeschichte für Machtkämpfe missbraucht! Es ist nicht zu glauben, wie Menschen sich immer und immer wieder von Herrschenden mittels Religionen manipulieren ließen. In jüngster Zeit sind politische Ideologien als Manipulationsinstrument dazugekommen. Das kann meines Erachtens heute nur durch eine humanistische Erziehung im Sinne der Aufklärung und der Stiftung eines Weltbürgertums durchbrochen werden. Staatlicher Religionsunterricht sollte an den Schulen grundsätzlich durch einen Ethikunterricht ersetzt werden.“

„Du hast recht. Ich stehe auch immer wieder kopfschüttelnd vor diesen religiösen Zeit-Zeugnissen. Der Rückgriff auf Religionen und Ideologien und das Kleben der Menschen an diesen ist nur durch die Ohnmacht des Menschen gegenüber seinem Lebens-Schicksal und der Suche nach Lebens-Sinn zu erklären. Machtgierige weltliche und religiöse Herrscher bedienten sich stets dieser Menschen-Schwäche und konnten somit die Grundbedürfnisse nach Freiheit und Liebe unterdrücken. Analog der Parole: Sous les pavés, la plage! der 68er Revolte, sinngemäß: Unter dem Pflaster liegt der Strand! d. h. die Freiheit, meine ich, wir sollten heute vor allen religiösen historischen Bauten Schilder mit der folgenden Parole anbringen:

Jenseits religiöser und ideologischer Paläste, jenseits steingewordener Zeugnisse von Devotion, Heuchelei, Elend, Unterdrückung, Herrschaft und Sklaverei, beginnt das wahre Reich der Freiheit.

Ich gebe zu, dass in diesen Palästen häufig eine unermessliche Zahl künstlerischer, oft einmaliger Schöpfungen steckt. Ihre Urheber hatten sicher mehrheitlich weniger im Sinn, den Machtgelüsten der Herrschenden zu dienen, sondern strebten mit ihren Kunstwerken selbst hehre Ziele an oder auch eigensüchtige. Doch letztendlich zählt ihre Dienstbarkeit gegenüber Mächtigen und deren Herrschaftsstreben, und das ist zu verurteilen. Ich selbst gestehe, dass ich wahre Kunstwerke, die im Namen von Religion oder Ideologie geschaffen wurden, bewundere, doch kann ich sie nicht losgelöst von ihrem gesellschaftlich-historischen Zusammenhang sehen. Wahre Kunst muss herrschaftsfrei sein.“

Das letzte Teilstück der Radtour nach Mouthiers-sur-Boëme war schnell zurückgelegt. Vor dem Bauernhof der Tante am Boëme-Fluss angekommen gab es zur Belohnung einen malerischen Blick im Nachmittagssonnenschein auf die Kirche Saint-Hilaire.

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Foto: Wikimedia Commons, Abbaye Notre-Dame-de-La-Couronne

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Foto: Wikimedia Commons, Église Saint-Hilaire, Mouthiers-sur Boëme

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„Mein lieber François, ich habe Dich und Deinen Freund schon erwartet. Seid herzlich willkommen. Im Hof ist der Kaffeetisch für Euch gerichtet. Es gibt Apfelstrudel, wie Du ihn von Deiner Mutter kennst. Aber wo habt Ihr denn Laurence gelassen. Ich wollte doch auch Deine Freundin kennenlernen?“ Die Tante kam beiden jungen Männern am Hoftor entgegen und drückte ihnen die obligatorischen ‚bisous‘ auf beide Wangen.

„Tante,“ log François, „Laurence ging es heute nicht so gut. Sie lässt sich entschuldigen. Beim nächsten Besuch wirst Du sie sicher kennenlernen.“

Ohne sich das gegenseitig einzugestehen, stellten sich François und Rudolf vor, wie schön es gewesen wäre, Laurence in ihrer Mitte zu haben. Allein ihre Anwesenheit hätte der Fahrradtour die richtige Würze verliehen. Mit einiger Wehmut dachte Rudolf daran, wie er sie schon nach nicht einmal einem Tag vermisste. Eine Fahrt an ihrer Seite, ihre langen roten Haare im warmen Wind der Saintonge um ihr markantes Profil wehend: Was hätte er mehr vom Leben erträumen können?

„So, jetzt lasst Euch nicht länger bitten, stellt Eure Räder ab. Eure Schlafzimmer zeige ich Euch später.“ Die Tante bewirtschaftete den Hof zusammen mit ihrem einzigen Sohn, der seinen Vater aufgrund des frühen Todes beim Bunkerbau in La Rochelle nie kennengelernt hatte. Dieser Cousin von François war verheiratet und wohnte mit Frau und zwei kleinen Kindern in dem Anbau, in dem schon François‘ Vater und dessen Familie zur Zeit der Evakuierung gewohnt hatten.

Rudolf fühlte sich plötzlich von Schuldgefühlen gepackt. Hatte sein Vater vielleicht den Tod des Ehemannes der Tante mitverursacht? Trifft sein Vater Mitschuld daran, dass François‘ Cousin vaterlos aufgewachsen war?

François nahm Rudolf verständnisvoll zur Seite, als sie ihr weniges Gepäck auf ihre Schlafzimmer trugen. „Rudolf, mach Dir keine Sorgen, ich werde meiner Tante und dem Cousin gegenüber die Anwesenheit Deines Vaters in La Rochelle während des Krieges nicht erwähnen. Das würde nur alte Wunden neu aufreißen. Du musst verstehen, dass die Menschen hier immer noch vom Kriegsgeschehen geprägt sind. Die Aussöhnung der Völker ist eine Sache von Generationen. Sollte Dich die Tante oder der Cousin nach den Kriegsjahren Deiner Eltern fragen, so erfinde einfach eine Geschichte.“

Vor dem Abendessen machten die Erwachsenen noch eine Fahrt auf dem Kutschwagen in die Umgebung von Mouthiers-sur-Boëme. Dabei erzählte die Tante, wie sich die Eltern von François näher gekommen waren. Im Sommer 1940 halfen die zugereisten Familien aus Lothringen und Elsass den örtlichen Bauern auf den Höfen so gut sie konnten. Die Tante war bereits verlobt. Ihr Verlobter aus dem Nachbarort war zur Armee eingezogen und hatte jeden Monat einmal Ausgang. Ihre jüngere Schwester und spätere Mutter von François, die gerade 18 Jahre alt geworden war, ging jeden Morgen gemeinsam mit François‘ Vater aufs Feld und wies ihn in die Arbeit auf dem Hof ein. Bald hatten die beiden jungen Leute aneinander Gefallen gefunden.

Als dann die deutschen Truppen einmarschierten und in Angoulême eine Feldkommandantur einrichteten, wäre der Vater am liebsten auf dem Hof geblieben. Aber die deutschen Besatzer kannten keine Rücksicht und forderten die Flüchtlinge auf, in ihre ursprüngliche Heimat an der deutschen Grenze zurückzukehren. Sie hatten vor, Lothringen und Elsass in den Zweite Reich-Grenzen von 1870 bis 1919 zu annektieren. Zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren viele junge Lothringer und Elsässer begeistert für Deutschland in den Krieg gezogen. Die Stimmung gegenüber Hitler-Deutschland war 1940 jedoch umgekippt. Das Nazi-Regime wurde von der Mehrheit der jungen Leute abgelehnt und viele junge Männer versuchten unterzutauchen, um einer Zwangsrekrutierung zur Wehrmacht zu entgehen. Nicht wenige unter ihnen schlossen sich der von De Gaulle aus London geleiteten ‚Résistance‘ an und gingen in den Untergrund. François‘ Vater hatte sich diese Option ebenfalls überlegt. Aber er wollte die Eltern und Großeltern sowie seine jüngere Schwester nicht allein lassen. So geschah es, dass er zur Wehrmacht zwangsrekrutiert wurde und seit 1942 an der Ostfront in Russland eingesetzt wurde. Er gehörte zu den 130.000 französischen ‚Malgré-nous‘ (gegen unseren Willen eingezogen) aus dem Elsass und der Moselregion, denen die Nazis unter Androhung einer Deportation ihrer Familien in Konzentrationslager keine andere Wahl ließen, als in der Wehrmacht oder in der Waffen-SS zu dienen. Seine Verlobte in Mouthiers-sur-Boëme wartete oft vergebens auf Feldpost. Doch nie verlor sie den Glauben an die Rückkehr des Geliebten, der dann auch das Glück hatte, heil aus dem russischen Kriegsgefangenenlager bei ‚Tambov‘ nach Petite Rouselle zurückzukehren. Beinahe die Hälfte dieser ‚Malgrés-nous‘ kam niemals mehr in die Heimat zurück. Entweder waren sie im Kriege gefallen oder in russischer Gefangenschaft umgekommen. Die Hälfte unter den Heimkehrern waren Kriegsinvalide. Fälschlicherweise wurden die ‚Malgré-nous‘ nach Kriegsende häufig als Vaterlandsverräter oder Kollaborateure des verhassten Naziregimes bezeichnet, eine ungerechtfertigte Beschuldigung, gegen die sich François‘ Vater vehement zur Wehr setzte. Das traf auch auf die Teilnahme an einem der scheußlichsten deutschen Kriegsverbrechen auf französischem Boden zu, an dem Massaker in ‚Oradour-sur-Glane‘.

François hatte von seinem Vater einige Kriegserlebnisse in Russland erzählt bekommen, aber seine Mutter sprach so gut wie nie über die Kriegsjahre an der Demarkationslinie. Die Eltern hatten offenbar beschlossen, ihren beiden Söhnen, François hatte noch einen jüngeren Bruder, wenig über ihre persönlichen Erlebnisse während des Krieges zu erzählen. François vermutete, dass dieses aus der Rücksicht geschah, die Kinder nicht mit den erlebten Grausamkeiten des Krieges zu belasten und sie auch vor der Entstehung möglicher Ressentiments gegenüber Deutschland zu bewahren. Wahrscheinlich hatten sich die Eltern gesagt, die Nachkriegsgeneration sollte die Chance bekommen, sich unbeeinflusst Meinungen zu bilden, um eine spätere Aussöhnung zwischen den Völkern nicht schon im Ansatz zu torpedieren.

Nach dem Abendessen konnte François seine Tante trotz anfänglicher Widerstände dazu bewegen, noch etwas über das gefährliche Leben an der Demarkationslinie zu erzählen und besonders über das Massaker von ‚Oradour-sur-Glane‘, das sich tief in das Gedächtnis der Franzosen eingebrannt hatte. Dabei erfuhren François und Rudolf, dass sowohl François‘ Mutter als auch seine Tante aktiv als Fluchthelferinnen und Unterstützerinnen der Kämpfer der Résistance tätig waren, und das trotz der nahezu täglichen Überwachung vonseiten der französischen Milizen, die mit den Deutschen kollaborierten, sowie von den Angehörigen der Feldkommandantur in Angoulême selbst.

Rudolf schwieg zu Ende der Erzählung betreten und hätte am liebsten seiner Wut freien Lauf gelassen. Sicher, er wusste bestens Bescheid über die Abermillionen Opfer des Naziregimes. Das war sowohl in der Schule als auch in seinem Geschichtsstudium obligatorischer Lehrstoff. Doch dieses konkrete Ereignis in Oradour-sur-Glane, das am 10. Juni 1944, vier Tage nach der Landung der alliierten Truppen in der Normandie, in einem kleinen Dorf zwischen Angoulême und Limoges stattfand, überstieg seine Vorstellungskraft. In Oradour wurden 642 französische Bürger auf fürchterlichste Weise von Truppen der Waffen-SS ermordet. 190 Männer wurden erst in Scheunen zusammgepfercht, dann angeschossen und bewegungsunfähig gemacht, um sie schließlich bei lebendigem Leibe zu verbrennen. 247 Frauen und 205 Kinder wurden in die Dorfkirche verfrachtet. Danach wurde ein Brandsatz hineingeworfen, der Frauen und Kinder zur verzweifelten Flucht aus Fenstern und Türen trieb. Dort wartete Maschinengewehrfeuer auf sie, dem bis auf eine Frau alle zum Opfer fielen. Der Ort insgesamt wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die an dem Massaker beteiligten Truppenführer rechtfertigten das Verbrechen als einen Racheakt an der Gefangennahme und Erschießung eines SS-Sturmbannführers durch die Résistance.

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Foto: Wikimedia Commons, zerstörte Kirche in Oradour-sur-Glane, in der am 10 Juni 1944 insgesamt 247 Frauen und 205 Kinder auf grausamste Weise von der Waffen-SS ermordet wurden; 190 Männer wurden in Scheunen des Dorfes bei lebendigem Leib verbrannt und der Ort insgesamt dem Erdboden gleichgemacht

Ende 6. Folge

Die 7. Folge wird sicher nicht lange auf sich warten lassen.

LG aus Panamá, CE

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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