Rekurs: Deutscher Herbst, U. Meinhof, Che

Guinea Bissau (5) Erlebnisse in der "Dritten Welt" seit 1976. Aufzeichnungen für die Daheimgebliebenen, 5. Folge

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Foto: google, Fotosammlung Guinea Bissau, (didinho.org) Arbeit auf den „bolanhas“ (Nassreisfeldern), so wie sie in Jal und im Küstengürtel von Guinea Bissau gang und gäbe ist

Nach Unterbrechung der Aufzeichnungen über Stationen in der Dritten Welt, der Deutschlandreise im Mai/Juni geschuldet, soll es nun weitergehen.

Obwohl ich bereits auf meine Motive, in außereuropäischen Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ zu leben und zu arbeiten eingegangen bin, will ich an dieser Stelle auf den Weihnachtsurlaub 1977/78 zurückkommen. Er hat einen prägenden Eindruck für meine zukünftige Tätigkeit hinterlassen.

S. und ich flogen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in die jeweilige Heimat zurück. Da ich in Bissau einen kleinen Grundig-Weltempfänger besaß und über die politischen Ereignisse im Laufe des Jahres 1977 einigermaßen Bescheid wusste, war ich gespannt, in ein Deutschland zurückzukehren, das gerade seinen „Heißen Herbst“ erlebt hatte. Dieser sollte später als „Deutscher Herbst“ in die Geschichte eingehen.

Auf dem Zwischenstopp in Lissabon buchte ich einen Lufthansaflug nach Frankfurt. Beim Einsteigen ins Flugzeug fiel mir sofort die Anwesenheit von zwei „unauffälligen“ Herren mittleren Alters auf, die mit Plastiktaschen bewaffnet jeweils als erster und letzter Fluggast einstiegen, d.h. sozusagen alle Fluggäste fest „im Griff“ hatten. Es konnten nur zwei Männer vom Bundesnachrichtendienst (BND) sein, die in jenem Herbst und Winter ein- und ausfliegende Flugzeuge zu und von deutschen Flughäfen begleiteten. Auf dem Frankfurter Flughafen wimmelte es nur so von schwerbewaffneten Polizisten. Ich fühlte mich in ein belagertes Deutschland versetzt. Die Vorgeschichte zu meiner Ausreise nach Guinea Bissau trat wie ein Film vor mein „inneres Auge“.

An dieser Stelle gebe ich einen Auszug aus der „Familiengeschichte“ wieder, die ich im Jahre 2005 an meinen Sohn schrieb. Danach gehe ich noch einmal auf den Deutschen Herbst, Che Guevara und Ulrike Meinhof sowie die Rote Armee Fraktion ein:

Die Studentenrevolte zu Ende der 60er Jahre zeitigte vielfältige kulturelle, soziale und politische Veränderungen für die bundesrepublikanische Gesellschaft, Veränderungen, die sich erst allmählich zu Beginn der 70er Jahre manifestieren sollten. Ich will hier nur einige wenige aufzählen, die ich für wesentlich halte:

Die Hippie-Bewegung, die sexuelle Revolution und die Emanzipationsbewegung der Frauen waren eng miteinander verknüpft und beeinflussten in ausgeprägtem Masse zuerst das Leben der Studenten untereinander. Die Pille als Prävention gegen unerwünschte Schwangerschaft und als Mittel der Familienplanung gab den jungen Frauen erstmalig die Möglichkeit, ihre Sexualität angstfrei auszuleben. Der ‚Pillenknick‘ ab Ende der 60er Jahre symbolisierte die neugewonnene Freiheit der jungen Frauen und ihren Willen, selbst über ihren Körper zu bestimmen. Das hatte unmittelbar Auswirkungen auf ein emanzipiertes Verhältnis zwischen Männern und Frauen wie auch auf das Verhältnis von Frauen zu Studium und Arbeit. Überall in den Universitätsstädten begannen die Studenten sich in ‚antiautoritären‘, selbstverwalteten Wohngemeinschaften zu organisieren, in denen neben dem bierernsten Studium auch gelebt wurde, wie in südländischen Gesellschaften üblich. Dazu trugen auch die Freundschaften zu den Studenten aus der „Dritten Welt“ bei, die uns biederen Deutschen im Lebensgenuss einiges voraus hatten.

Ein politischer und sozialer Erfolg ohnegleichen war die Einführung des Bafög während der Brandt-Regierung. Wir Studenten und jungen Akademiker wollten uns nicht mit der Klassengesellschaft abfinden. Der allgemeine Zugang zu den Universitäten war eine unserer wesentlichen Forderungen. Und das war nur über ein generalisiertes Stipendiensystem zu erreichen. Unsere vielfältigen Aktionen in Gewerkschaften, Parteien und der Arbeitsstelle überzeugten auch die Arbeiter und Angestellten nach und nach, dass ihre Kinder die gleichen Rechte und Zukunftschancen besitzen sollten wie meine Generation, die ‚Fünfprozentelite der Nation‘. Vor meiner Diplomprüfung noch arbeitete ich an der Uni Heidelberg in einer Reformkommission für die zukünftige Hochschulplanung, in der wir einen Anteil von 50 Prozent Abiturienten, 25 Prozent Mittelschulabgänger und 25 Prozent Grundschulabgänger forderten. Dieses waren sozialpolitische Ziele, die 30 Jahre danach in etwa erreicht wurden.

Des Weiteren kämpften wir für die allgemeine Mitbestimmung in den Betrieben, vor allem in den großen Kapitalgesellschaften. So wurde schließlich in den 70er Jahren das Mitbestimmungsgesetz, einmalig auf der Welt, verabschiedet. Jedoch waren all diese Fortschritte für einen kleinen Teil der Studenten zu ‚revisionistisch‘, schlicht bürgerlich, sozialdemokratisch. Zu diesen Studenten zählte auch die Baader-Meinhof-Gruppe, die sich selbst Rote Armee Fraktion (RAF) nannte, und die, in Ermangelung des revolutionären Eifers der Arbeiterklasse, stellvertretend die Revolution initiieren wollte. Die RAF hatte die Sozialpsychologie der Arbeiter vollkommen falsch eingeschätzt. Diese waren längst dem ‚Konsumterror‘ der bundesdeutschen Gesellschaft verfallen, besaßen mehrheitlich ihr eigenes Auto, ihre Eigentumswohnung oder ein Häuschen im Grünen, erfreuten sich der längsten Ferien von allen Arbeitern auf der Welt, fuhren einmal im Jahr nach Spanien oder Italien. Weshalb noch Revolution machen?

Anfang der siebziger Jahre wurde die erste RAF-Generation gefasst. Ihre Haftbedingungen waren durch rigide Isolation gekennzeichnet, die eine grobe Menschenrechtsverletzung darstellte. Es kam der Begriff ‚Isolationsfolter‘ auf, gegen die sich Widerstand in verschiedensten deutschen Städten, wie auch in Heidelberg, formierte. Unsere Wohngemeinschaft war ebenfalls in diesem Widerstand, der sich durch vielfältige Aktionen äußerte, eingebunden. Im Zuge dessen organisierten wir u.a. Demonstrationen in Städten, wo Gefangene unter Isolationsbedingungen litten….

Langsam solidarisierten sich Angehörige der Komitees gegen Isolationsfolter so stark mit den Gefangenen, dass sie ebenfalls den militanten Kampf im Untergrund aufnahmen, um das bundesrepublikanische System mit Gewalt zu kippen. Diesen Weg der Veränderung der politischen Verhältnisse war ich nicht bereit mitzugehen. Es war wiederum ein autoritärer, elitärer Weg, stellvertretend für Andere Veränderungen gewaltmässig herbeizuführen. Ich schloss mich stattdessen der ‚Dritte Welt-Bewegung‘ an, die die Emanzipation der von den Metropolen beherrschten Länder des Südens beinhaltete. Mit verschiedenen Freunden gründeten wir Ende 1974 die ‚Amilcar Cabral Gesellschaft‘. …

Angesichts der martialischen Polizisten auf dem Frankfurter Flughafen trat mir auch das Begräbnis von Ulrike Meinhof am 15. Mai 1976 ins Gedächtnis, einige Monate vor meiner Ausreise nach Guinea Bissau. Zusammen mit vielen Tausenden Menschen war ich in Berlin, um von ihr Abschied zu nehmen. Am 9. Mai wurde Ulrike erhängt in ihrer Gefängniszelle aufgefunden. Ob es ein Suizid war, konnte nie einwandfrei geklärt werden.

Ulrike Meinhof stand lange Zeit symbolhaft für radikale Kritik am bundesdeutschen politischen System, das sich sogleich nach Gründung des westdeutschen Staates vom ursprünglichen Verfassungsideal einer von Volkssouveränität geprägten Republik entfernte zugunsten eines Parteienstaates, der eng mit dem Großkapital der Republik verflochten war und dessen Interessen primär vertrat. Ulrike und andere Genossen der RAF gaben 1970 den Glauben an eine friedliche Veränderung des gesellschaftlichen Systems auf und griffen stattdessen zu den Waffen, wie es bspw. Che Guevara, die Castro-Brüder sowie zahlreiche Befreiungsbewegungen in der Welt vor ihnen getan hatten. Ich hielt diesen revolutionären Veränderungsweg hin zu einem sozialistischen/kommunistischen Staat in Bezug auf Deutschland und die westliche demokratische Völkergemeinschaft für nicht gerechtfertigt. Dennoch war es mir wichtig, bei Ulrikes Beerdigung zugegen zu sein, war sie doch ein Beispiel für ungebrochenen Widerstand und Zivilcourage gegen einen Staat, der seinem Verfassungsauftrag nicht mehr gerecht wird.

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Foto: Wikimedia Commons, Grabstein von Ulrike Meinhof in Berlin

Wie eingangs erwähnt werde ich in Folge 6 den Komplex Deutscher Herbst, Ulrike Meinhof, Che Guevara noch weiter ausführen. Danach komme ich zur Kooperativgründung von Jal.

LG, CE

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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