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Guinea Bissau (7.2) Gibt es eine herrschaftsfreie Organisation von Leben und Arbeit? Kooperative Jal (Fortsetzung der autobiographischen Aufzeichnungen)

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Foto: google.com/guinee-bissau.net/photos, Nassreisfelder im Hintergrund mit anschliessendem Palmenhain

Nach einer längeren Pause werden die autobiographischen Aufzeichnungen fortgesetzt mit der 2. Folge der Kooperative Jal.

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Als ich an einem schönen April-Nachmittag 1977 zum ersten Mal mit Benjamin und Augusto die bolanhas (Nassreisfelder) von Jal besuchte, war der Reis bereits abgeerntet. Auf den Feldern weideten Rinder, die das proteinhaltige Reisstroh abfraßen und deren Exkremente dabei den Boden düngten. Deiche und Felder, die bis an das mit Mangroven geschützte Flussbett reichten, waren in der seit Dezember andauernden Trockenperiode hart geworden. Trotz fortgeschrittener Nachmittagsstunde machte mir noch eine gehörige Hitze über den Feldern zu schaffen. Erst als wir auf den Pfad in Richtung der tabanca (Dorf) einschwenkten und uns im Halbschatten des langsam ansteigenden Ölpalmenhains von Jal befanden, trug uns der leichte Wind von den Mango- und Cashew-Bäumen des Dorfes angenehm kühle Luft entgegen.

Benjamin, der vorausging, bedeutete uns plötzlich, im Marsch innezuhalten und das Sprechen einzustellen. Wir würden am Brunnen vorbeikommen, wo sich die Frauen vor dem Abend waschen und anschließend mit Wassereimern auf dem Kopf ins Dorf zurückgingen. Männer hätten diesen Waschritus zu respektieren und entsprechend ihr Kommen durch einen Anruf anzuzeigen. Benjamin gab einen Pfeiflaut von sich. Nach ein paar Augenblicken konnten wir dann an den Frauen vorbei ins Dorf gehen. Die hatten sich hastig mit bis zur Hüfte reichenden bunten Tüchern bedeckt. Ihr Gelächter in unserem Rücken begleitete uns bis zu den ersten strohgedeckten viereckigen Lehmhütten.

In den wenigen Monaten, die ich in meiner neuen „Heimat“ weilte, war mir bereits aufgefallen, wie natürlich Frauen und Männer vor allem der animistischen Ethnien mit ihrer Körperlichkeit umgingen. (Auf die islamisierten Völker komme ich später zu sprechen) Bis auf die Stadtmenschen arbeiteten Männer wie Frauen mit freiem Oberkörper, was mir bei der ganzjährigen schwülen Hitze mit Tagestemperaturen über 30 Grad Celsius am angemessensten schien. Nur zwei/drei Monate im Jahr über die Jahreswende und zu Beginn der Trockenzeit blieben Mensch und Natur von der drückenden Luftfeuchtigkeit verschont und erfreuten sich darüber hinaus über frische Nächte mit Temperaturen unter 20 Grad, ganz wie in einem mitteleuropäischen Sommer. Die Kinder bis zum 8ten Lebensjahr liefen gänzlich nackend umher. Des Nachts schliefen die Menschen unbekleidet unter Mückennetzen, soweit diese vorhanden, oder wickelten sich mit Bettlaken ein, um sich der immerwährenden Attacken der Mücken vor allem nach Einbruch der Dunkelheit zu erwehren. Männer und Frauen beindruckten mich mit ihrer überschäumenden Lebenslust, Ungezwungenheit, Optimismus, Offenheit und weitgehendem Fehlen von Depressionen und Heuchelei, zumindest auf dem Land. Für mich wurden die Menschen von Jal rasch zum offenes Buch und forderten mich unausgesprochen auf, ihnen ebenso entgegenzutreten.

Bevor wir zu Benjamins Hütte gelangten, passierten wir eine große ausgehobene Grube, angefüllt mit Hunderten leerer gläserner Bierflaschen der portugiesischen Marke „Sagres“. Diese Flaschen waren das einzige Überbleibsel im Dorf, das an „glorreiche“ Kolonialvergangenheit erinnerte. Benjamin und Augusto klärten mich auf, wie das Jahrzehnt des bewaffneten Kampfes bis zur Unabhängigkeit 1974 das Dorf prägte. Die Männer wurden mit Waffengewalt zu Straßen- und Flugplatzarbeiten herangezogen. Die Frauen mussten ihnen das Essen richten. Einziger Lohn und Kompensation für die Zwangsarbeit war das Bier am Wochenende. Manchmal gab’s auch „aguadente de cana“ von einer der Zuckerrohrschnapsbrennereien.

Wenn die portugiesischen Militärs keinen Alkohol lieferten, mussten sich die Pepel mit traditionell produziertem Alkohol begnügen, wie auch die anderen animistischen Völker. Der wichtigste ist der „aguadente de cajú“ (Cashew-Schnaps), gewonnen aus ausgepresstem Cajú-Saft und destilliert, bzw. fermentiert in gebrauchten 200-Liter-Benzinfässern. Die Hitze sorgt für die Fermentierung, die über Monate, bis zum letzten getrunkenen Tropfen, fortdauert. Dabei ergibt sich nach Wochen auch ein hoher Anteil von Methylalkohol, der zur Ursache für die Erblindung der „homens grandes“ (traditionale Dorfälteste) werden kann. Besonders Männer lieben diesen Schnaps, da er wie aguadente de cana rasch zum Rausch führt. Der Cajú-Schnaps verursacht darüber hinaus starke Kopfschmerzen; deshalb das geflügelte kreolische Wort von der „cabeça grande“ (großer Kopf). Ein zweiter traditioneller Schnaps ist der Palmwein, der während der Nacht aus dem in ein Gefäß tropfenden Saft des Palmenstammes gewonnen wird und am Morgen als willkommener, leicht süßlich schmeckender, alkoholfreier Frühstückstrunk dient, ähnlich der Kokosmilch. Jedoch beginnt auch der Palmwein nach Stunden zu fermentieren und erreicht am späten Nachmittag bereits den Alkoholgehalt von Bier.

In Jal fehlten in den letzten Jahren des Befreiungskampfes immer mehr junge Männer, da sie sich der PAIGC-Guerilla angeschlossen hatten. Die portugiesischen Militärs reagierten mit zunehmender Härte, versuchten die Männer durch Schnaps- und Bierkonsum bei Laune zu halten oder auch als Milizen (mit einem schmalen Gehalt geködert) zu rekrutieren, die die Streitkraft der Portugiesen aus dem Mutterland ergänzen sollten. Die leeren Bierflaschen von Jal wurden jetzt u. a. als Baumaterial für Einfriedungen von Haustieren genutzt.

Benjamin hatte einige Frauen und Männer des PAIGC-Dorfkomitees vor seiner Hütte zusammengetrommelt. Auch einige „homens grandes“ waren anwesend. Ich erklärte in meinem noch holprigen Portugiesisch den Grund meines Besuches: Die mögliche Gründung einer landwirtschaftlichen Dorfkooperative, falls dazu Bereitschaft bestünde. Benjamin war sich bewusst, dass er als noch junger PAIGC-Angehöriger in der „tabanca“ nichts ohne die „homens grandes“ ausrichten könnte. Das hätte er auch gar nicht gewollt, obwohl die Partei die Kader angewiesen hatte, den „homem novo“ zu propagieren. Dazu war er viel zu tief in der Kultur der Vorväter verwurzelt, deren Nichtbeachtung ihm den sofortigen Autoritätsverlust in der Gemeinde beschert hätte. Er und Maria waren in ein weit verzweigtes Netz verwandtschaftlicher Bande eingebettet und mussten nach der Unabhängigkeit herausfinden, was es mit dem „wissenschaftlichen“ Sozialismus im afrikanischen Alltag auf sich haben könnte. Ihr tradiertes gesellschaftliches System der „Gegenseitigen Hilfe“, des kollektiven Landbesitzes, der herrschaftsfreien Entscheidungsfindung und die überkommene Weltsicht und mythische Religiosität ihrer Vorfahren, in den Worten der Nomenklatura zusammengefasst als Ignoranz und Obskurantismus, sollte nach den Vorstellungen der Partei durch Begriffe wie „Nationaler Wiederaufbau“, „Neuer Mensch“, „Demokratischer Sozialismus“, „Nationalisierung von Grund und Boden“, Unterwerfung unter die Losungen der Parteiführung, usw. ersetzt werden. Jedoch hatte sich in den mehr als zwei Jahren nach der Unabhängigkeit kein höherer Parteikader in das Dorf verlaufen. Die oberste kapverdisch stämmige Parteiführung dachte nicht daran, die schönsten Villen der ehemaligen Kolonialmacht, die mit Aircondition ausgestatteten Regierungsgebäude und Volvos zu verlassen, um sich in den tabancas die Schuhe schmutzig zu machen. Was die Bevölkerung von Jal vom Nationalen Wiederaufbau mitbekamen, waren russischen Militärfahrzeuge, die in der Hauptstadt und den Ausfallstraßen zirkulierten.

Mein Erscheinen in Jal, das selbstverständlich unmittelbares Erstaunen hervorrief, da nach Abzug der Portugiesen weiße Gesichter gänzlich verschwunden schienen, weckte die Erwartung, dass ich im Zusammenhang mit dem versprochenen „Nationalen Wiederaufbau“ (reconstrução nacional) stehen müsste. Die kleinen Kinder begrüßten mich mit dem kreolischen Pejorativum „tuga, tuga“, das sie in der Kolonialzeit gegenüber den Portugiesen benutzt hatten, woraufhin ihnen die Mütter beschämt die Hand vor den Mund hielten. Ich erklärte den Anwesenden bei diesem ersten „Palaver“ unter dem ausladenden Mangobaum vor Benjamins Hütte, dass ich selbst nicht mit Geschenken gekommen sei, sondern mit der Absicht, an einer Diskussion über mögliche Selbsthilfeschritte teilzunehmen und gegebenenfalls mit neuen Ideen beizutragen. Diese lägen hauptsächlich im Bereich der Verbesserung der Nahrungsmittelproduktion und der Kommerzialisierung möglicher landwirtschaftlicher Überschüsse in der Hauptstadt. Benjamin und Maria, die ich auf Anhieb sympathisch fand, verpflichteten sich, in der kommenden Woche ein Dorfgemeinschaftstreffen einzuberufen, an der möglichst alle Erwachsenen von Jal teilnehmen sollten.

Obwohl mir das soziale Gefälle der kleinbürgerlichen, schriftkundigen städtischen Elite gegenüber der Landbevölkerung und den Armen in den „bairros“ außerhalb der Steinstadt schon vom ersten Tag meiner Ankunft aufgefallen war, und ich vom ausschließlichen Zugang dieser Elite zu den „armazéns do povo“ (Volksläden) wusste, enthielt ich mich gegenüber den Menschen in Jal jeglicher Kritik an der PAIGC-Nomenklatura. Die Mitglieder dieser privilegierten Gruppe konnten sich vor LiebhaberInnen kaum retten. Auf diese Weise trugen die Partei-Oberen dazu bei, wenigstens in den Städten die chronische Nahrungsmittelknappheit lindern zu helfen und die wenigen importierten Waren unters Volk zu bringen. In den einst stolzen Kolonialläden herrschte gähnende Leere und die einzige Bäckerei in Bissau war stets nach einer halben Stunde leergekauft, nach dem Prinzip des „self-targeting“ (Nur, wer Geld hatte, konnte sich den Luxus von Brötchen leisten, und das waren Wenige).

In Jal lag der Selbstversorgungsgrad der Familien weit unterhalb des Existenzminimums (2.200 kcal und 50 gr Protein pro Tag). Und monetäres Einkommen aus Verkäufen gab es nur aufgrund des Erdnussanbaus auf den höher gelegenen Böden. Diese Monokultur hatten die Portugiesen wie auch die Franzosen in der gesamten Sahelzone zwangsweise durchgesetzt, damit die Familien ihre Hüttensteuer zahlen und darüber hinaus die notwendigsten Geräte zur Landbestellung sowie Textilien und Küchenutensilien erwerben konnten. Während der letzten zwei, drei Monate vor der Reisernte in jedem Frühjahr war die Ernährungssituation katastrophal. Der Reis als Grundnahrungsmittel war dann aufgebraucht und wurde nur notdürftig durch ein wenig Fisch, Maniok, Bananen und Mangos ersetzt. Vor allem Kinder litten wegen der gravierenden Unterernährung in dieser Zeit an den Folgen der tödlichen Zerebral-Malaria, die im Schnitt die Hälfte der Kinder hinwegraffte. Mütter konnten normalerweise bei acht Geburten im Laufe ihres Lebens und etwa 40 Jahren Lebenserwartung vier Kinder großziehen. So war es für die Menschen in Jal nur natürlich, der Nahrungsmittelverbesserung oberste Priorität einzuräumen. Mit einigem Neid sahen sie, wie die Frauen der Mancanhas, eine benachbarte animistische Ethnie, Gemüse mit großem Erfolg und natürlicher Düngung anbauten und auf dem Markt in Bissau verkauften. So etwas hätten sie auch gern gemacht. Nur wurde deren Landbearbeitung durch die Frauen verrichtet, was bei den Pepel ein Tabu darstellte. Diese befolgten eine strikte Arbeitsteilung, bei denen die Landbestellung den Männern obliegt. Frauen erledigen grundsätzlich Aussaat, Unkrautbeseitigung und Ernte, zusammen mit den Kindern. In der traditionalen Produktionsweise der Pepel kommt Gemüseanbau nur ganz begrenzt in der Nähe der eigenen Hütte vor (u.a. Maniok, Tomaten, Malagueta-Pfeffer).

Als ich nach diesem ersten Besuch in Jal nach Bissau zurückkehrte, war ich mir nicht sicher, ob die Dorfbevölkerung einer Eigeninitiative zustimmen würde. Aber sollte dieses der Fall sein, wäre es für mich spannend, inwieweit ich ihre Kultur genauer kennenlernen würde und die Gelegenheit hätte, einer selbstbestimmten kulturellen Weiterentwicklung inmitten einer multiethnischen und sozial scharf gespaltenen Gesellschaft beizuwohnen. Darüber hinaus würde es sicher irgendwann in der Zukunft eine Auseinandersetzung mit der Parteilinie geben, die bis zu diesem Zeitpunkt für den landwirtschaftlichen Sektor nur vage definiert war.

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Foto: google maps, (yin-yang), typischer Dorfmarkt in der Biombo-Region, in der die Pepel beheimatet sind

Fortsetzung folgt.

LG, CE

Siehe auch hier eingestellte Folgen Guinea Bissau (1) bis (7.1)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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