Umriss einer Strategie zur Flüchtlingspolitik

Flüchtlingsproblematik 3 Was sollte aus dem allgemeinen Nebel hervorscheinen?

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Foto: „Smara Refugee Camp“ in Tindouf, Südwest-Algerien, wo West Saharauis seit 40 Jahren auf ein Referendum über die Unabhängigkeit der von Marokko besetzten West-Sahara warten, Autor: statehoodandfreedom.org

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Dritte Folge Flüchtlingsproblematik

(ii) „Failed state“, Staat ohne funktionierende staatliche Institutionen, mit inneren kriegerischen Konflikten und Flüchtlingslagern im eigenen Staatsbereich sowie in Nachbarstaaten

Die Welt hat es zunehmend mit „failed states“ zu tun, deren unabhängige, harmonische Entwicklung nach dem Prozess der Dekolonisierung fehlschlug. Die Welt wird noch viele neue „failed states“ erleben, solange der globale Kapitalismus weiter wütet und Menschenleben wie auch das Leben von ganzen Staaten rücksichtslos der Kapitalverwertung opfert. Den wichtigsten Grund zur Entstehung von diesem Typus von Staat habe ich im oben beschriebenen Kapitel über fehlende Nationenbildung und Neokolonialismus beschrieben.

Wie sollte deutsche und europäische Politik, und die seiner Führer, auf dieses Phänomen, das uns in Zukunft immer mehr Flüchtlinge bescheren wird, reagieren? Oder besser gesagt, welche Beine sollten die europäischen Zivilgesellschaften ihren Oberen machen?

Zuerst einmal ist die Außenpolitik gefordert. Dazu eine grundsätzliche Überlegung, die im zweiten Tabubruch bereits angesprochen wurde: Wenn mehr Sicherheit und weniger Kriege auf der Welt die Zukunft charakterisieren soll, ist es unumgänglich, die UN endlich funktionsfähig zu machen, d. h. einstimmige Beschlüsse des Weltsicherheitsrates herbeizuführen. Der gegenwärtige Zustand einer vom US-Imperium dominierten Staatenwelt gegen ein isoliertes Russland ist der Hauptgrund für die Unentschlossenheit und Unfähigkeit der UN, Konflikte auf der Welt zu lösen. Und das geht vor allem zu Lasten der Bevölkerungen vieler diktatorisch geführter Länder mit inneren Konflikten und ohne überragende Rohstoffvorkommen (Ausnahme: Irak). Deshalb verfallen ganze Staaten, reiben sich in Bürgerkriegen auf, und ihrer Bevölkerung bleibt nichts anderes übrig als Flucht, entweder innerhalb des Landes in geschützte Camps oder in Camps von Nachbarländern.

Was kann Deutschland (besonders Merkel und Steinmeier) und Europa tun, damit die wichtigste Voraussetzung zur Entstehung von „failed states“, nämlich die Uneinigkeit innerhalb des Weltsicherheitsrates und das Fehlen von internationaler, wenn notwendig auch gewaltsamer, Intervention, entfällt? Es ist die Beendigung einer seit Weltkrieg II bestehenden Isolation Russlands. Deutschland und Europa sind gehalten, diesen nicht hinnehmbaren Zustand zu beenden und Russland in ein „gemeinsames Haus“ und gemeinsame Wertegemeinschaft einzubeziehen. Deutschland hat dazu eine Schuld wettzumachen und ein ethisches Gebot, auf Russland zuzugehen. Das Atlantische Bündnis mit den USA hat einen solchen Schritt auszuhalten. Gelingt das nicht, ist dieses Bündnis für die Zukunft nicht mehr tauglich. Ich bin der Überzeugung, dass die US-Zivilgesellschaft bereit sein wird, auf ihre Regierung einzuwirken, die Supermachtrolle aufzugeben, wenn das Gespenst einer weltweiten Isolation der USA Realität werden würde.

Was kann Deutschland und Europa des Weiteren tun, um in Flüchtlingslagern innerhalb von „failed states“ und in den Nachbarländern Zustände herzustellen, die einmal menschenwürdig sind und zum anderen zur Hoffnung Anlass geben, in absehbarer Zeit in die Heimat zurückkehren und ein neues, erfolgversprechendes Leben beginnen zu können?

Hier ist die deutsche und europäische Entwicklungszusammenarbeit in besonderem Masse gefordert. Die Sünden der Vergangenheit sollten ad acta gelegt und solidarische Hilfe begonnen werden, die diese Bezeichnung auch verdient. Was heißt das konkret: Die Katastrophenhilfe in den Flüchtlingsunterkünften, bestehend aus Unterkunft, Nahrung, Wasser, Hygiene und Gesundheit ist mit den wichtigsten Bereichen von Entwicklung zu verknüpfen, nämlich Erziehung, berufliche Ausbildung und erste wirtschaftliche Aktivitäten. Flüchtlinge dürfen nicht länger zu Zehntausenden auf unterstem Lebensniveau „dahinvegetieren“. Sie haben in der Flüchtlingsunterkunft Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben und vor allem auch auf eine gezielte Vorbereitung zur Rückkehr in die Heimat. Das erfordert Erziehung, Berufsausbildung und selbst Studium bis hin zu Universitätsniveau (letzteres, wenn mehr als 100.000 Flüchtlinge in einem Camp oder Region vorhanden sind) und bedingt erste Anfänge von solidarwirtschaftlichen Aktivitäten, die auf engem Raum möglich sind. Gastländer können dazu beitragen, natürliche Rohstoffe zur Verarbeitung zur Verfügung zu stellen und Flüchtlinge könnten mit eigener Produktion und Kommerzialisierung beginnen. All das ist möglich. Es muss nur politisch gewollt werden. Das kostet Geld. Aber dieses ist so nützlicher angewandt, als dass es zur Finanzierung repressiver Institutionen wie Polizei und Militär dient. Menschenwürdige Flüchtlingsunterkünfte in und um „failed states“ herum tragen zum Frieden bei und vermindern den Druck zur Flucht in die Metropolen.

Schlussfolgerung zur Ursachenbekämpfung von Flucht:

Wenn deutsche und europäische Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit seit Weltkrieg II mit zunehmendem Erfolg versagt haben (was mit Fug und Recht behauptet werden kann), und wenn sie zu unerträglichen Lebensbedingungen in bisher „ruhigen“ Staaten und „failed states“ aktiv beitrugen, dann kann es ab sofort für die Bereiche Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit nur die folgende Zielsetzung zur Prävention gegen weitere Flucht geben:

Rigorose Einhaltung des ethischen Grundgebotes (Universales Recht auf Wanderung aus Not heraus und Schutz für den Flüchtling), Brechen des Ersten Tabus (allmähliches Zurückdrängen des menschenverachtenden Kapitalismus durch Einstieg in eine verantwortliche Solidarwirtschaf) und Brechen des Zweiten Tabus (Aufheben der Isolation Russlands und seinen Einschluss in die europäische Völkergemeinschaft mit dem Effekt der Herstellung der Funktionsfähigkeit des Weltsicherheitsrates). Ich bin mir bewusst, dass ein derartiger Schwenk in deutscher und europäischer Politik nur durch eine bewusste Aktion der Zivilgesellschaften durchzusetzen sein wird. Die aktuellen Eliten aus Politik und Wirtschaft werden eher das Schicksal der europäischen Gesellschaften aufs Spiel setzen als freiwillig ihre egoistischen Privilegien aufzugeben. Aber lassen wir uns überraschen. Wenn die Flüchtlingsproblematik in den kommenden Jahren Deutschland und Europa über den Kopf zu wachsen droht, werden sich hoffentlich die Zivilgesellschaften darauf besinnen, wer der eigentliche Herr im Hause Europa ist.

(iii) Menschen auf der Flucht nach Deutschland und Europa

Zur Lösung des Problem der massenhaften Flucht in Richtung Festung Europa, nachdem die Flüchtlinge diesen schweren Entschluss aus einer Situation der Ausweglosigkeit ergriffen haben (da die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern außerhalb Europas unerträglich geworden sind), kann es nur eine Reaktion Deutschlands und Europas geben: Unter Anerkennung der gravierenden Fehler deutscher und europäischer Politik, die die Fluchtursachen in der Vergangenheit hervorgebracht haben, muss ab sofort das ethische Gebot gelten, sichere Fluchtwege nach Europa zu schaffen. Deutschland und Europa dürfen sich unter keinen Umständen zu einer abweisenden Festung entwickeln. Es muss alles getan werden, dass nicht ein Kind, nicht ein Erwachsener, auf der Flucht zu Schaden kommt. Die kostspieligen Maßnahmen zur Abwehr der Flüchtlinge sind allemal besser in Form von menschenwürdiger Entwicklung in Heimatländern und in Flüchtlingslagern sowie zur Herstellung von sicheren Fluchtkorridoren angewandt. Wenn Schäuble seine Schatulle zur Vorbeugung von Flucht in ursprünglichen Heimaten und für sichere Fluchtwege nicht öffnen will und dazu Schützenhilfe von der Kanzlerin bekommt, sollten beide besser beizeiten in die Pension geschickt werden, als dass sie das in Europa zu erwartende Chaos in den kommenden Jahren vergrößern helfen.

Für Deutschland wird es zunehmend schwieriger, innerhalb Europas eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik durchzusetzen. Zu sehr hat das Spardiktat unserer Kanzlerin auf vielen Staaten gelastet und für das Anwachsen innereuropäischer Armut und Ressentiments gegenüber Deutschland beigetragen. Warum sollten sich die übrigen Europäer wieder einmal einem Kanzler-Diktat beugen? Dieses Mal: „Liebe Europäer, wir schaffen das! Helft alle freudig mit!“ Deutschland hat sich die fehlende Solidarität bei der Flüchtlingskrise selbst eingebrockt. Wenn jetzt Großzügigkeit der EU-Partnerländer eingefordert wird, so wird diese erst dann zu erwarten sein, wenn vergangene deutsche Hartherzigkeit und Hegemonialgehabe glaubwürdig aus dem Weg geräumt werden kann. Auch hier ist deutsche Außenpolitik gefragt.

(iv) Flüchtlinge in Deutschland

Ich will kein Menetekel an die Wand malen, aber….

Wenn jetzt nicht die Zivilgesellschaft Protagonist der Bewältigung der Flüchtlingskrise in Deutschland wird, dann wird das Land auf eine gesellschaftliche Zerreißprobe gestellt werden, wie wir das seit Weltkrieg II nicht erlebt haben. Die Obrigkeit kann und muss Eingliederung von Flüchtlingen logistisch und finanziell unterstützen. Die tatsächliche solidarische Aufnahme dieser Menschen in Not mit allem, was an kultureller Feinfühligkeit dazugehört, kann jedoch nur die Zivilgesellschaft selbst organisieren. Sie muss sich mit dem Aufnahme- und Eingliederungsprozess identifizieren können. Das gelingt nur, wenn sie dabei aktives Subjekt ist und schöpferisch diesen Prozess gestaltet. Die deutsche Zivilgesellschaft, die durch den zunehmenden Niedriglohnsektor zutiefst gespalten ist, wird in ihrem Handeln zur Bewältigung der Flüchtlingskrise diesen Niedriglohnsektor haupt- und nebenberuflich in die Flüchtlingsarbeit einbeziehen müssen. Diesbezüglich sind entsprechende Forderungen an öffentliche Kassen zu stellen. Nur so kann das Auseinanderdividieren von benachteiligten sozialen Gruppen vermieden und die vermaledeite Agenda 2010 schrittweise zurückgeschraubt werden. Die Zeit von Appellen an die „Anständigen“- zivilen-Hilfstruppen zur Aufrechterhaltung von innerdeutschen Herrschaftsstrukturen wird endgültig vorbei sein. Schon jetzt kann man vor Ort sehen, wie kreative zivilgesellschaftliche Initiativen die Organisation von Flüchtlingseingliederung in die Hand nehmen. Diese Initiativen sollten gleichzeitig die Chance wahrnehmen, solidarwirtschaftliches Handeln einzuüben und das Dritte Tabu (das Herrschafts-Monopol von Politik und Wirtschaft) zu durchbrechen. Der Zivilgesellschaft stehen viele Möglichkeiten offen, solidarwirtschaftliche Dienstleistungen für Flüchtlinge anzubieten. Das kann über selbstbestimmte eingetragene Vereine, Mikrobetriebe, Kooperativen, Stiftungen u. ä. geschehen. Dabei ist von der Öffentlichen Hand Sorge zu tragen, dass die notwendigen finanziellen Mittel bereitgestellt werden. Innen-, Arbeits-, Wirtschafts- und Finanzministerium, seit Gedenken an das Order-Geben gewöhnt, werden umdenken müssen. Jetzt ist die Stunde der Zivilgesellschaft gekommen, die fordert und nicht mehr bittet. Sollte die Obrigkeit die dienende statt bisher befehlende Rolle nicht annehmen wollen, wird zukünftig die gesellschaftliche Kohäsion infrage gestellt werden.

IV. Schlussbemerkung

Meine zusammenfassenden Gedanken zu einer möglichen Strategie einer Flüchtlingspolitik sind einerseits Wunschdenken (ich mache mir keine Illusion über eventuelles „Vernünftigwerden des Kapitalismus“, besonders nicht im globalen Kontext) und andererseits Gedanken, die an der kruden Realität weltweiter kapitalistischer Ausbeutung ansetzen und mögliche Wege vorschlagen, wie eine bessere Welt ohne Ausbeutung, Krieg, Armut und erzwungener Flucht gestaltet werden könnte. Kapitalismus und Imperien sind Menschenwerk und werden durch Menschen abgeschafft werden. Das ist lediglich eine Frage der Zeit. Diese Zeit abzukürzen liegt an uns selbst. Eines jedenfalls ist sicher: Sollte die deutsche Zivilgesellschaft nicht von allein aufwachen und menschenwürdige Politik aktiv in die Hand nehmen, was von Politik und Wirtschaft nicht zu erwarten ist, dann wird sie durch zukünftige Katastrophen, die durch weltweite Wanderungen und Flucht hervorgerufen werden, zum Handeln gezwungen werden. Ob dann allerdings Menschenwürde im Zentrum menschlichen Handelns stehen wird, sei dahingestellt.

Schluss

LG, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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