Weihnacht an der Costa Esmeralda

Magische Nacht Suche nach Antwort: Wird die negative Seite der „condición humana“ obsiegen?

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Foto: Vollmond über der Costa Esmeralda, Autor: Hermann Gebauer

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Nur noch wenige Stufen hinunter zum wartenden Strand. Zum Sonnenuntergang gibt es keine Menschen mehr, die Spuren hinterlassen. Ich bin allein am Meer, das schon einen 30 Meter breiten, nassen Sandstreifen freigegeben hat auf seinem Rückzug Meer einwärts. In welche Richtung soll ich laufen? Es kann nur gen Westen gehen, Richtung San Carlos. Die Sonne ist zu verlockend, so golden am wolkenlosen Himmel. Ihr Glanz bemalt die Wellen und vermischt sich mit dem Blau des Himmels. Ich muss die Sonne ganz in mich hineinnehmen, sie einatmen, solange sie noch nicht hinter den Uferfelsen hinabgesunken ist.

Dann kommt die Wende gen Osten, gen Coronado. Noch ist Himmel und Meer in dieser Richtung ein einziges Gemisch aus Blau, Grau und Weiß. Doch schon steigt die Mond-Göttin schwach silbern und beinahe vollkommen rund aus dem Wasser empor. Die Ahnen haben sicher diesen seltenen Augenblick des Abschieds des Sonnen-Gottes bei gleichzeitiger Ankunft der Mond-Göttin ebenso genossen, wie ich an diesem Abend des 24. Dezember. Je mehr der Mond das dunkler werdende Firmament hinaufklettert, je ausgeprägter wird seine silberne Scheibe. So wie mich der Sonnen-Gott anzog, so zieht mich jetzt die Mond-Göttin in ihren Bann. Mein Schatten, der hinter mir herläuft, gewinnt zunehmend an Kontur.

Der Ozean ist still. Er macht seinem Namen alle Ehre. Die sanften, jetzt silbern glänzenden Wellen bilden erst im letzten Augenblick, bevor sie sich am Strand verlaufen, eine feine, weiße Schaumkrone. Einige Strandläufer und Meeresreiher genießen das Naturschauspiel wie ich. Diese heraufziehende Nacht werden wir allein besitzen. Derweil sind die Menschen im Familienkreis um den Weihnachtsschmaus versammelt. Schiffe, die sonst wie eine Perlenkette des Nachts am Horizont auszumachen sind und sich auf die Kanal-Einfahrt vorbereiten oder den Kanal verlassen, ankern in der Einfahrt, um der Ozeanbucht vor der Costa Esmeralda eine ruhige, magische Weihnachtsnacht zu schenken.

Ich kehre zu „meinem“ Strand zurück. Das Meer hat mir inzwischen einen weiter ausladenden, nassglänzenden Streifen vor der Uferböschung überlassen, auf dem sich meine Fußsohlen so unbeschreiblich wohl fühlen, als sei dieser feuchte, feste Sand der angenehmste Boden für nackte Füße, um endlich Ruhe auf der Erdenwanderung zu finden.

Nach kurzem Verweilen treibt es mich ins warme, silbern bespiegelte Meer, immer die Mond-Göttin im Auge behaltend. Ich lege mich auf den Rücken ins Wasserbett und lasse mich von den Wellen hinaustragen in die magische Nacht.

Was machen jetzt wohl meine Lieben in der Ferne? Meine Frau weiß ich bei den Flüchtlingen in der Weite der Sahara. Meine Kinder sind in Deutschland und kämpfen um ihre Familien und um Arbeit. Die deutschen Freunde sind zumeist in guter Rente. Nach der 68er-Revolte hatten sie sich arrangiert und jetzt ist Ruhe angesagt. Die Freunde in der Peripherie haben dagegen wenig Ruh. Ihr Kampf um gerechtes Dasein geht unverdrossen weiter. Ja, und was mache ich?

Vier Jahre sind es jetzt an der Costa Esmeralda. Nach Jahrzehnten der Mühen in so vielen Ländern, nach Frustrationen und kleinen Erfolgserlebnissen, nach Bürgerkriegen und durchlebten Katastrophen mit den Elenden dieser Welt bedeutet die Costa Esmeralda Ausruhen und Reflexion über vergangenes Leben und Lieben. Doch will keine rechte Ruhe aufkommen. Zuviel Leid, zu viel Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit geschieht in der Welt, in der alten Heimat, in Deutschland und in Europa. Als ich ins Ausland ging, glaubte ich, mich in der Peripherie nützlicher einbringen zu können als im privilegierten Deutschland. Heute, und besonders angesichts der Eurokrise und der Flüchtlingsproblematik, ist mir jedoch mit vielen anderen Deutschen bewusst, dass das Land trotz Wiedervereinigung abermals in seiner Geschichte total versagt hat. Das Heimatland ist im Innern in einem bedauernswerten Zustand und außerdem einer der Hauptschuldigen an der heutigen Misere in der Welt. Es ist, als ob das Land seit dem Ersten Großen Krieg mit dem Makel eines Verursachers von Zerstörung ausgestattet ist. Die beiden Großen Kriege haben das aller Welt bildhaft vor Augen geführt. Die 70 Jahre Nachkriegszeit hat sich Deutschland in diskretem Masse im Fahrwasser der weltweiten Verwüstung durch das US-Imperium bewegt und meint, es sei damit hervorragend gefahren. Denn die ökonomischen Daten sind ja auch hervorragend, wenn die Not der Aber-Millionen Ausgegrenzten unterm Tisch verdeckt gehalten werden.

Ich blicke der besänftigend scheinenden Mond-Göttin am Nachthimmel ins Antlitz. Könnte sie mich doch streicheln und mir eine Antwort auf die immer wieder aufkommende Frage geben: Warum ist die deutsche Variante der „condición humana“ immer negativ geneigt? Warum überwiegen nicht die positiven Kräfte oder sind zumindest gleich stark? Wie im Zeitraffer läuft mein Leben vor dem inneren Auge vorbei. Deutsche Türen wurden mir schon seit Ende des Studiums hastig verschlossen, wenn ich mich näherte. Sicher, ich hatte diesen Weg der Rebellion bewusst gewählt mit den Prinzipien von Anarchismus und Humanismus, die ich meinem Leben voranstellte. Ich wusste von Beginn an, auf was ich mich einließ. Diplomatische Kompromisse und Rückgratverkrümmungen waren mir von jeher ein Gräuel. Glücklicherweise gab es in meinem Leben andere als deutsche Türen aufzustoßen. Dafür bin ich dankbar. Die Abrechnung mit dem „Deutschen Wesen“ hat die Tür zur Welt geöffnet. Und das ist gut so und musste so sein.

Trotzdem ist mein Mutter- und Vaterland nicht aus meiner Welt heraus. Es bleibt Teil meiner Identität. Sie ist einerseits zusammengesetzt aus Liebe zur Familie, zu Freunden, zur Heimat und zu Landschaften sowie zu positiven kulturellen Manifestationen. Andererseits besteht sie aus der rigorosen Ablehnung des „Deutschen Wesens“, des deutschen gesellschaftlichen Systems der Un-Gleichheit, der Un-Freiheit und Selbstgerechtigkeit von mediokren, machtgierigen Seilschaften, die jegliche Zivilcourage und Unabhängigkeit im Geist in der Nachkriegszeit nicht mehr unter Stiefeln zertrampeln, die aber dafür Nonkonformisten, Anarchisten und überzeugten Humanisten die kalte Schulter zeigen. Die Tür zur Freiheit des Deutschen muss fest verriegelt bleiben. Herrschaft und Privilegien könnten verloren gehen.

„Du, Mond-Göttin, verstehst mein Leid, mein Sehnen, meine Fragen. Du und das silberne Meer beruhigen mich in magischer Nacht und ermutigen mich, Antwort auf schmerzende Fragen immer wieder in mir selbst zu suchen.“

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Liebe dFC, auf ein "gutes" kommendes Jahr 2016.

CE

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

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