WELCHE Revolution WIE wollen?

Guinea Bissau (6) Zur Entmystifizierung des Revolutionsbegriffes. Gibt es "revolutionäre" Entwicklungszusammenarbeit? Erlebnisse aus der "Dritten Welt" für die Daheimgebliebenen, 6. Folge

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Foto: Costa Esmeralda (Hermann Gebauer), Einweihung Grundschule in "Tronco Quemado" (1996), Projekt "Desarrollo Humano Sostenible" (Nachhaltige Humane Entwicklung) in Loja Provinz, Ecuador, an der Grenze zu Perú (aride Zone mit weniger als 400 mm/Jahr Niederschlag). Schule von Schulkindern und Eltern selbst erbaut (Einkommen weit unterhalb der absoluten Armutsgrenze von 350 US$/Kopf/Jahr). Finanzierung des Projektes: Entwicklungsprogramm der UN, Regierung von Ecuador und überwiegend Eigenbeitrag der betroffenen Bevölkerung.

Hinweis zum Foto: Es ist zwar nicht in Guinea Bissau während meiner dortigen Tätigkeit (1976 - 1984) aufgenommen, sondern 20 Jahre später während meiner Arbeit in Ecuador (1992 - 1997), soll aber schon einmal auf die Frage, ob deutsche Entwicklungszusammenarbeit Revolution fördern soll, eine klare Antwort geben: Ja! Ich werde bei meinen folgenden biographischen Aufzeichnungen auf Ecuador zurückkommen.

Vorbemerkung zur Folge 6:

Sie wird eingeleitet und beendet durch zwei Fotos, die den Beitrag hoffentlich persönlicher macht. Wenn wir schreiben, sollte auch der hinter den Zeilen stehende Mensch sichtbar werden und sich nicht anonym verstecken. Besonders autobiographische Zeugnisse bedürfen der Sichtbarwerdung des Autors und seines Umfeldes im weitesten Sinne.

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Zu den eingangs gestellten Fragen, denen ich im Weihnachtsurlaub 1977, im buchstäblich „belagerten“ Deutschland zur Zeit des Deutschen Herbstes, nicht ausweichen konnte und wollte, gab ich mir selbst die folgende Frage-Antwort:

Was treibt den Menschen an auf seinem irdischen Gang?

Das Überleben, das gute Überleben, das freie Überleben.

Doch auch das Streben nach neuen Wegen

für kommende Generation

durch recht verstandene Revolution.

Zur Erläuterung dieser Auffassung einige Begriffsklärungen zur Entmystifizierung des Revolutionsbegriffes wie ich ihn seit den 1960er Jahren bis heute verstehe.

Gewaltsamer und friedlicher Widerstand, Zivilcourage, Terror

Diese Begriffe stehen für verschiedene Formen von Widerstand aus der Zivilgesellschaft heraus gegenüber einer als ungerecht bzw. unterdrückerisch empfundenen Herrschaftsausübung vonseiten der Staatsmacht. Dabei wird gewaltsamer Widerstand (mit der Waffe in der Hand) immer dann als rechtens angesehen, wenn friedlicher Widerstand und Zivilcourage staatliche Repression nicht verhindern können. Gewaltsamer Widerstand wird zum Terror, wenn er sich gegen die Zivilgesellschaft richtet. Er wird auch dann zum Terror, wenn er sich gegen Funktionsträger des politischen und wirtschaftlichen Herrschaftssystems richtet, obwohl friedlicher Widerstand möglich und legal ist. (Dieses traf im Fall der RAF und anderen europäischen Stadtguerilla-Organisationen zu.)

Welche gesellschaftliche Revolution?

Revolution als Ausdruck zivilgesellschaftlichen Widerstandes bedeutet grundlegende Veränderung des gegenwärtigen herrschaftsbestimmten Zustandes hin zu größtmöglicher Freiheit der Individuen und der Gesellschaft als ganzer (Marx würde sagen, die Revolution ist die zwingende Konsequenz aus bestehendem Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung der Produktion). Anders ausgedrückt: Im revolutionären Prozess wird die bestehende Machtausübung der Herrschenden zugunsten der sich frei entscheidenden und gemeinschaftlich organisierenden Mitglieder der bisher dominierten Zivilgesellschaft (revolutionäres Subjekt) aufgehoben. Ziel ist: Eine menschenwürdige, horizontal ausgerichtete Gesellschaft zu errichten, in der die universalen Menschenrechte oberste Maxime gesellschaftlichen Handelns sind. Revolutionen sind generell mittel- bis langfristige Prozesse der Abschaffung von Herrschaftsstrukturen sowie der damit verbundenen tiefgreifenden Veränderungen menschlichen Verhaltens. Derartige Prozesse können durch abrupte gewaltsame oder friedliche gesellschaftliche Umwälzungen begonnen werden bzw. Beschleunigungen erfahren.

Warum nicht Reform der Gesellschaft?

Reform an sich ändert an bestehenden Herrschaftsverhältnissen gar nichts. Sie kann aber durchaus ein Schritt in Richtung Revolution sein, wenn sich die Zivilgesellschaft entweder größere gesellschaftliche Entscheidungsmöglichkeiten erkämpft oder ihr diese von den Herrschenden (von „oben“) zugebilligt werden. Im Allgemeinen benutzen die jeweils Herrschenden Reformen, um einen radikalen Machtverlust zu vermeiden und den Widerstand der Zivilgesellschaft zu brechen, d. h. sie „ruhig zu stellen“.

Wer sind Herrschende und wer ist revolutionäres Subjekt?

Herrschende sind überwiegend höchste Funktionsträger und Eigner des weltumspannenden kapitalistischen Systems. Außerdem sind es Träger von weiteren autoritären bzw. diktatorischen Gesellschaftssystemen. Sie bestimmen den tatsächlichen Lauf der Geschichte der überwiegend „entfremdeten“ Zivilgesellschaften. Entfremdung ist dann gegeben, wenn der einzelne Mensch sowie die Zivilgesellschaft keine signifikante Entscheidungsmöglichkeit über persönliche und gesellschaftliche Lebensbedingungen hat. Das revolutionäre Subjekt ist das sich über seine Entfremdung bewusst werdende Mitglied der Zivilgesellschaft, das gegen den Zustand der Entfremdung Widerstand entwickelt. (Wichtig in diesem Zusammenhang ist für mich der Bürger-Begriff)

Voraussetzung und Vorbereitung der Revolution

1. Bewusstwerdungsprozess von Mitgliedern der Zivilgesellschaft über den Zustand von Entfremdung und Domination innerhalb der Gesamtgesellschaft.

2. Dieser Prozess sollte durch Propagierung des angestrebten, alternativen Gesellschaftssystems, in dem die Menschenrechte voll zur Entfaltung kommen, unterstützt werden.

3. Ebenso wichtig ist die Ingangsetzung von konkreten Experimenten bzw. Modell-Projekten, die zeigen, dass ein alternatives Gesellschaftssystem, das auf der Realisierung der universalen Menschenrechte basiert, keine Schimäre ist, d. h. dass materielle wie immaterielle Bedürfnisse aller Menschen ausreichend befriedigt werden können.

Wie Revolution wollen? Auf friedliche oder gewaltsame Weise?

Die friedliche Umsetzung von Revolution ist in jedem Fall die erste Option auf dem Weg zu einem menschenwürdigen Gesellschaftssystem. Erst wenn sich die Unmöglichkeit einer friedlichen Veränderung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse erweisen sollte, kann gewaltsamer Widerstand rechtens werden. In der Regel ist in westlichen demokratischen Staaten eine friedlich durchgeführte Revolution möglich und verfassungskonform. Sie wird dann zwingend, wenn politische und wirtschaftliche nationale Oligarchien bzw. Eliten als Agenten des weltweiten kapitalistischen Systems der Zivilgesellschaft insgesamt oder in Teilen die volle Ausübung der Menschenrechte vorenthalten und die Staatsmacht für ihre Partikularinteressen usurpieren (Diese Situation war für die 68er-Generation gegeben und ist bis heute in der westlichen „demokratischen“ Staatengemeinschaft vorherrschend).

Gibt es „revolutionäre“ Entwicklungszusammenarbeit bzw. sollte sie Revolution fördern?

Selbstverständlich sollte deutsche Entwicklungszusammenarbeit überall auf der Welt, wo es möglich ist und gewünscht wird, Revolution im Sinne der rigorosen Erfüllung von Menschenrechten fördern. Dabei sind jedoch die Prinzipien der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten sowie des Respekts vor der Kultur der Partnerländer einzuhalten. Das bedeutet insbesondere die Unterlassung, das deutsche politische und wirtschaftliche Gesellschaftsmodell übertragen zu wollen, was offizielle Politik des BMZs und der Parteinahen Stiftungen ist. Dabei wird in ethnozentristischer Weise davon ausgegangen, dass das deutsche Gesellschaftsmodell anderen Gesellschaftsmodellen gegenüber superior sei. Die Revolte der 68er Generation gründete sich gerade auf der Einsicht, dass die Restauration des Kapitalismus in Deutschland und das Staatmacht usurpierende Parteiensystem die Volkssouveränität und die volle Gewährleistung der Menschenrechte (zivile, soziale, wirtschaftliche und kulturelle) verhindert und Deutschland zu einem Vasallenstaat der führenden kapitalistischen Weltmacht USA degradiert. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte das Entwicklungsparadigma des „Sustainable Human Development“ (Nachhaltige Humane Entwicklung) bei ihrer Förderung zugrunde legen. Dieses Paradigma wurde von den UN nach Jahrzehnten weltweit gemachter Erfahrungen entwickelt und stellt eine Alternative zum kapitalistischen und sozialistischem Entwicklungssystem unter Berücksichtigung der universalen Menschenrechte dar. Dabei wird das Schwergewicht auf die Unterstützung der menschlichen, sozialen, kulturellen, technologischen und ökologischen Ressourcen des Partnerlandes gelegt.

Des Weiteren ist der weltweiten Friedenspolitik (internationale, multikulturelle Universitäten und Bildungseinrichtungen sowie Blauhelme-Einsatz in vom Sicherheitsrat der UN beschlossenen Konfliktregionen) und der Humanitären Hilfe in Katastrophensituationen Priorität einzuräumen.

Exkurs: Frantz Fanon, Amilcar Cabral, Che Guevara

Nachdem ich Definitionen und Grundlagen meiner Auffassung zur Entwicklungsarbeit in außereuropäischen Ländern zusammengefasst habe, komme ich noch einmal in gebotener Kürze auf Revolutionsansichten einiger Revolutionsführer aus der „Dritten Welt“ zurück. Dabei wird die falsch verstandene Revolutionstheorie und –praxis dieser Führer vonseiten der RAF deutlich. Das hat nicht nur zu den tragischen Ereignissen des Deutschen Herbstes beigetragen, sondern auch allgemein die öffentliche Anerkennung der Notwendigkeit eines revolutionären Prozesses in Deutschland, wie von der 68er-Generation angestoßen, bis zum heutigen Tage diskreditiert.

Frantz Fanon

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Foto: Wikimedia Commons, Frantz Fanon 1925 - 61 (Algerien)

Auf Fanon werde ich selbst hier nicht eingehen, sondern auf die ausgezeichnete Zusammenfassung seines theoretischen und praktischen Revolutionsbegriffes hinweisen, die Robert Foltin erstellt hat. Nachzulesen unter:

http://www.grundrisse.net/grundrisse01/1fanon.htm

Lediglich die folgende Kurzbeschreibung von R. Foltin über Leben und Werk Fanons sei hier angeführt:

Fanon wird 1924 (muss heißen: 1925, CE) in eine vergleichsweise wohlhabende und auf Assimilierung bedachte Familie auf Martinique geboren. In seiner Jugend lernt er Aimé Cesaire kennen, der ihm hilft, eine schwarze Identität zu entwickeln. Im zweiten Weltkrieg schließt er sich dem Kampf gegen die Naziherrschaft an und wird vom französischem Staat ausgezeichnet. Nach dem Schulabschluß in Martinique studiert er in Frankreich Medizin und Philosophie. Die Beendigung seines Studiums führt ihn nach Algerien. wo er eine reformpsychiatrische Anstalt in Blida-Joinville leitet. Dort unterstützt er den FLN (Front de Libération Nationale), der seit 1954 bewaffnet gegen den französischen Kolonialismus kämpft. Seiner Entlassung kommt er durch Demissionierung zuvor. Danach arbeitet er für den FLN in einem Krankenhaus in Tunesien, aber auch als diplomatischer Repräsentant und als Autor der FLN-Zeitung El Moudjahid. Er überlebt mehrere Anschläge des französischen Geheimdienstes. 1960 erfährt er, daß er an Leukämie erkrankt ist Er stirbt 1961. Neben einer großen Anzahl von Aufsätzen hat er zwei Bücher geschrieben, 1952 ist Schwarze Haut, weiße Masken erschienen und 1961 kurz vor seinem Tod die Verdammten dieser Erde, das beinahe zu einem „Kultbuch“ der Bewegungen 1968 und danach wurde und zwar nicht nur in Frankreich, sondern in vielen Metropolenstaaten der Welt.

Amilcar Cabral

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Foto: google.com, Amilcar Cabral 1924 - 73 (Guinea Bissau, Kapverden) hier mit Fidel Castro 1926 - (Cuba) während der ersten Tricontinental-Konferenz in Havanna 1966

Amilcar Cabral war ausgebildeter Agraringenieur kapverdischer Abstammung, der nach dem Universitätsstudium erste praktische Erfahrung im kolonialen Guinea Bissau als Verantwortlicher eines Agrarzensus sammelte. In dieser Eigenschaft gewann er wertvolle Einsichten in die guineische landwirtschaftliche Produktionsweise, die wesentlich differierte zwischen den horizontal organisierten Ethnien „ohne Staat“ (Animisten) in Küstennähe und den feudal strukturierten islamisierten Ethnien im Zentrum und Osten des Landes. Dabei erwiesen sich die animistischen Ethnien während des bewaffneten Befreiungskampfes als die Hauptstütze der Guerilla. Sie hatten auch seit Beginn der Kolonisierung durch die Portugiesen einen langen, erbitterten Widerstand bis in die 30er Jahre des 20 Jh. geleistet. Die islamisierten Ethnien waren dagegen wegen ihrer Feudalstruktur leichter von der Kolonialmacht zu korrumpieren.

Cabral vertrat die Auffassung, dass die afrikanischen Agrargesellschaften eine durch den Kolonialismus unterbrochene Geschichte hätten, die nach dem bewaffneten Befreiungskampf wieder aufgenommen würde. Die gemeinsame koloniale Ausbeutungssituation aller guineischen Ethnien bestand nach der Epoche des Sklavenhandels mit der „Neuen Welt“ in der Ausbeutung von agrarischen Rohstoffen sowie in der Zwangsarbeit zur Errichtung von Transport-Infrastrukturen und der Entrichtung von Steuern (Hüttensteuer). Er widersprach vehement der These der Revolutionstheoretiker aus den Metropolen, dass die Revolution von der industriellen Arbeiterklasse auszugehen hätte, um danach in die Phase des Sozialismus/Kommunismus einzumünden. Er war der Meinung, der Sozialismus könne unmittelbar nach Erlangung der Unabhängigkeit errichtet werden. Dazu sei die Schaffung des „Neuen Menschen“ erforderlich, um kulturelle Gegensätze zwischen den Ethnien zum Verschwinden zu bringen, d. h. den zukünftigen Guineer aus dem Zustand des Obskurantismus und der Ignoranz herauszuholen.

Im Gegensatz zu Fanon bestand Cabral darauf, das nicht nur die gesellschaftlichen Voraussetzungen zur Revolution von Land zu Land verschieden seien, sondern das auch die postkoloniale sozialistische Entwicklung in jedem Land eine ganz spezifische Geschichte durchlaufen würde und verneinte die Idee des Panafrikanismus, zumindest für die nahe Zukunft.

Ernesto Che Guevara

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Foto: google.com Ernesto Che Guevara 1928 - 67 (Cuba, Congo, Bolivien)

Über den Argentinier Che Guevara werde ich hier nur einige Aussagen machen, die im engen Zusammenhang mit der Konstituierung der RAF stehen. Dabei beziehe ich mich im Wesentlichen auf einige Textstellen seiner Botschaft an die „Trikontinentale“ (eine im Jahre 1966 in Havanna erstmalig einberufene Konferenz von Vertretern von Entwicklungsstaaten und Befreiungsbewegungen aus Asien, Afrika und Lateinamerika), die er während seiner Vorbereitungszeit auf seine letzte Guerilla-Tätigkeit in Bolivien zu Beginn 1967 schrieb, zehn Monate vor seiner Ermordung durch bolivianische Sicherheitskräfte, die, wie so oft auch in anderen Teilen der Welt, Unterstützung durch die CIA erhielten. Übrigens war auch Amilcar Cabral auf dieser Gründungskonferenz anwesend und trug dort seinen bekannten Beitrag: „Die Theorie als Waffe“ vor.

Che sah im US-Imperialismus und seiner krebsartigen Ausweitung auf den gesamten Globus den höchsten Ausdruck des weltweiten kapitalistischen Systems und den Hauptfeind, den die sozialistische Revolution mit der Waffe in der Hand besiegen müsse. Er war stark beeinflusst durch Trotskys Theorie der permanenten Revolution. Die Nachkriegssituation während des „Kalten Krieges“ hatte die europäischen Staaten aus wirtschaftlichen Gründen zur Dekolonisierung gezwungen und dem US-Imperialismus mit seiner Strategie des Neokolonialismus die Führungsrolle innerhalb der kapitalistisch ausgerichteten Staatenwelt überlassen müssen.

Che war ein junger Arzt mit relativ begrenzten medizinischen Kenntnissen. Sein Hauptanliegen war die Kenntnisnahme der Elendssituation der lateinamerikanischen Völker, verursacht durch unmittelbare Ausbeutung vonseiten nationaler Oligarchien und mittelbare durch den US-Imperialismus. Dieser intervenierte seit Einweihung des Panamakanals 1914 permanent in den internen Angelegenheiten der lateinamerikanischen Staaten mittels Aneignung seiner Rohstoffe und durch militärische, geheimdienstliche Aktivitäten zur Kontrolle und Bestechung nationaler Regierungen. Auf seinen ausgedehnten Reisen durch den südamerikanischen und karibischen Raum machte er Bekanntschaft mit revolutionären Strömungen, die seine Ressentiments gegen die USA verstärkten. Schließlich hatte er 1956 in Mexiko die entscheidende Begegnung mit Fidel Castro, der ihn einlud, an der kubanischen Revolution teilzunehmen. Seit dieser Zeit wurde er Anhänger der Theorie des bewaffneten Widerstandes und der Theorie der Permanenten Revolution in allen vom Kapitalismus beherrschten Länder des Südens. Letztere Theorie wurde erstmals von Trotsky systematisch entwickelt.

Ebenso wie dieser entwickelte sich Che Guevara nach und nach in eine rücksichtslose Persönlichkeit, wenn es darum ging, die Revolution militärisch voranzubringen. Seine zivilen Aufgaben als Gefängnisdirektor, Gouverneur der kubanischen Zentralbank und Industrieminister nach erfolgreicher Übernahme der Staatsgewalt in Kuba löste er mittelmäßig und ohne übermäßiges Interesse. Mit „missionarischer“ Besessenheit versuchte er sich selbst zum Prototypen des „Neuen Menschen“, des Revolutionärs zu entwickeln, der beispielhaft die Liebe zum Kollektiv über alles stellt. Familie, Kindern, Heimat schwört er ab zugunsten der permanenten Revolution, die Lebensziel bis zum Tod wird, gepanzert mit abgründigem Hass gegenüber seinen Feinden, dem US-Imperialismus und seinen Lakaien.

Zur Veranschaulichung hier Ches eigene Worte aus seiner Botschaft an die Trikontinentale:

(Die Übersetzung stammt von Rudi Dutschke und Gaston Salvatore und erschien erstmalig in Trikont Aktuell 1967 unter dem Titel: „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“ )

Der Haß als Faktor des Kampfes, der unbeugsame Haß dem Feinde gegenüber, der den Menschen über die natürlichen Grenzen hinaus antreibt, und ihn in eine wirksame, gewaltsame, selektive und kalte Tötungsmaschine verwandelt…….

Wie licht und nah würde sich uns die Zukunft darbieten, wenn zwei, drei, viele Viet Nam auf der Erdoberfläche zu Tage träten, mit ihrem Blutzoll und ihren ungeheuerlichen Tragödien, mit ihrem täglichen Heldentum, mit ihren unablässigen Schlägen gegen den Imperialismus, mit dem damit verbundenen Zwang für diesen, seine Kräfte unter dem Ansturm des wachsenden Hasses der Völker der Welt zu zersplittern!

Und wenn wir alle es fertigbrächten, uns zu einen, damit unsere Schläge kräftiger und sicherer würden, damit die Hilfe jeglicher Art für die kämpfenden Völker wirkungsvoller würde, wie groß wäre dann die Zukunft und wie greifbar!

Sollte es uns, die wir an einem kleinen Punkt des Globus die Pflicht erfüllen, zu der wir aufrufen, und das wenige, was wir geben können, dem Kampf zur Verfügung stellen: Unser Leben, unsere Aufopferung sollte es uns an einem dieser Tage bestimmt sein, den letzten Atemzug zu tun auf einer Erde, die schon die unsrige ist, von unserem Blut getränkt; so möge man wissen, daß wir die Tragweite unserer Taten wohl ermessen und daß wir uns nicht für mehr halten als für Bestandteile der großen proletarischen Armee, jedoch stolz darauf sind, von der cubanischen Revolution und von ihrem großen obersten Führer die große Lehre, die von seiner Haltung diesem Teil der Weit gegenüber ausgeht, gelernt zu haben: "Was bedeuten die Gefahren oder Opfer eines Menschen oder eines Volkes, wenn das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel steht".

Jede unserer Taten ist ein Kriegsruf gegen den Imperialismus und ein Appell zur Einsicht der Völker gegen den großen Feind des Menschengeschlechts: die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Wo immer uns der Tod antrifft, er sei willkommen, wenn nur unser Kriegsruf ein aufnahmebereites Ohr getroffen hat und eine andere Hand sich ausstreckt, um unsere Waffen zu ergreifen, und andere Menschen sich daranmachen, die Trauermusik zu intonieren mit Maschinengewehrgeknatter und neuen Kriegs- und Siegesrufen.

"Che"

Ein letztes Wort zu Che: Ich will hier nicht weiter über die zum Mythos gewordene Gestalt von Che Guevara und die Gründe dafür räsonieren. Zugegebenermaßen hat er mich als Student auch bis zur Gründung der RAF in 1970 fasziniert. Als Letztere jedoch mit anderen europäischen Widerstandsgruppen zum bewaffneten Kampf in Deutschland aufriefen und die Bildung von urbaner Guerilla in den Metropolen forderten, weigerte ich mich, wie viele meiner Freunde auch, den Revolutionsbegriff aus der Peripherie für die industriellen Metropolen zu übernehmen. Die Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse in kapitalistischer Peripherie gegenüber kapitalistischer Metropole sowie die unterschiedlichen Bedingungen für Revolution in beiden Regionen führt eindeutig zum Schluss einer möglichen und notwendigen friedlichen Revolution in westlichen industrialisierten Metropolen.

Das Urteil über die RAF und andere europäische Stadtguerilla-Gruppen konnte in den 60er und 70er Jahren bis zum heutigen Tag für mich nur lauten:

„Ihr habt Euch blankem Terror verschrieben. Dieser hat nichts mit weltweit bewaffnet geführter Revolution gegen den Imperialismus zu tun, die in großen Teilen der „Dritten Welt“ seine Berechtigung hat. Die westlichen demokratischen Industriestaaten, die diesen Imperialismus verkörpern, haben allgemein ein materielles Lebensniveau für die Mehrheit der Zivilgesellschaften herstellen können, gerade auch durch ihre neokolonialen Austauschbeziehungen mit der „Dritten Welt“, das der Befriedigung grundlegender materieller Bedürfnisse und darüber hinaus genügt. Deshalb wird die Entfremdungs- und Ausbeutungssituation weniger als in der Peripherie empfunden. Nichtsdestoweniger besteht die fehlende immaterielle Bedürfnisbefriedigung fort, die Voraussetzung ist für die Entwicklung des Individuums hin zum „Ganzen Menschen“, will sagen, zum „Mündigen Bürger“, der imstande ist, aktiv seine Lebensbedingungen mitzubestimmen. Formal geben die Verfassungen dieser Länder die Möglichkeit zur vollen Entwicklung einer sich selbst regierenden Bürgerschaft, die sich von den Partikularinteressen der nationalen wirtschaftlichen und politischen Oligarchien durch friedlich durchgeführte Revolution befreit. Nutzen wir dieses Privileg einer möglichen friedlichen Revolution gegenüber vielen Zivilgesellschaften der „Dritten Welt“ und beginnen mit einer Bewegung, die rigoros die gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse infrage stellt zugunsten einer Bürger-Republik, in der die universalen Menschenrechte zur Leitschnur politischen Handelns werden. Gesellschaftlicher Stillstand im kapitalistischen und vom US-Imperialismus abhängigen Deutschland und Europa wird das Leben zukünftiger Generationen nicht nur im immateriellen Sinn verunmöglichen sondern auch im materiellen. Wir sind ethisch dazu verpflichtet, eine solche Entwicklung zu verhindern.“

Schlusswort zur 6. Folge:

Wie in Folge 5 und 6 zu sehen, wurde der Weihnachtsurlaub in Deutschland für mich wegen des Deutschen Herbstes zu einem besonderen Ereignis des Nachdenkens über mein persönliches Verständnis zur Arbeit in Guinea Bissau. Darüber hinaus stellte ich mir auch immer wieder Fragen über die Beziehung zu meinen beiden Kindern, die ich über alle Massen liebe. Meine „Auswanderung“ zeitigte die schmerzliche Folge, immer nur einmal im Jahr einen Urlaub mit ihnen zu verleben. Das verhinderte, dass ich sie in mein Leben und Arbeiten stärker mit einbinden konnte, was ich unbedingt wollte. Briefe allein sowie Geschichten und Fotos aus der Ferne konnten das direkte Miteinander nicht ersetzen. Deshalb besprach ich mit ihrer Mutter die Möglichkeit eines Urlaubes meiner Kinder in Guinea Bissau. Das konnte 1979 realisiert werden. Zwei Jahre später lebten sie dann ein ganzes Jahr zusammen mit mir in Guinea Bissau, was wohl zum wichtigsten und schönsten Jahr in ihrer Jugendzeit wurde. Aber dazu komme ich später.

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Foto: H. Gebauer (Costa Esmeralda), Weihnachtsurlaub 1977 in Deutschland im elterlichen Haus in Bad Münder/D., mit den Kindern Lena und Pär

LG aus Panamá, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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