Weltbürgergesellschaft oder Abschottung

Integration (1) Welchen Weg schlägt Deutschland ein? Impressionen auf meiner Deutschlandreise

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Ich bitte um Entschuldigung. Noch komme ich mit dem Einsetzen von Fotos schlecht zurecht. Deswegen Verdoppelung.

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Auf der diesjährigen Deutschlandreise hatte ich mir vorgenommen, zwei Monate mit Zugewanderten und ihren Unterstützern zu verbringen. Im günstigsten Fall könnte aus dem Besuch ein „Integrations-Konzept“ in meiner alten, und ab kommenden Jahr neuen Heimatstadt Bad Münder entstehen. Wir werden sehen.

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Ein sonniger und warmer Donnerstagmorgen vor Pfingsten. Es ist neun Uhr. Ich sitze gleich neben dem Eingang des Cafés, das gerade einen neuen türkischen Besitzer hat, und schlürfe vom Husten befreit meinen Cappuccino. Verdammt kalt war es im April bei meiner Ankunft in Deutschland. Ein schrecklicher Husten hielt mich wochenlang in unbarmherzigem Griff.

Mir fällt auf, dass fast alle Cafés und Restaurants jetzt in türkischer oder italienischer Hand sind. Zu meiner Schulzeit wurde der kleine Eiskiosk auf dem Schulweg, bei dem wir eine köstliche Erdbeer-Kugel für zehn Pfennige erstehen konnten, von einem ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen betrieben.

In der kleinen historischen Altstadt ist heute Wochenmarkt in der Fußgängerzone vor dem Alten Rathaus. Rechts und links von mir sitzen dicht gedrängt die Münderschen Bürger, die dem Markttreiben zuschauen. Sie kennen sich alle. Sind einigermaßen betucht und mehrheitlich im Rentenalter. Vom ewigen Gezerre zwischen SPD- und CDU-Anhängern ist an diesem frühsommerlichen, friedlichen Morgen nichts zu spüren. Gegenseitige Schuldzuweisungen für den langsamen, stetigen wirtschaftlichen Niedergang sind aus den Unterhaltungen um mich herum nicht auszumachen. Im Gegenteil beflügelt die morgendliche Wärme den Konsens für den gemeinsamen Lebensgenuss einer Mittelschicht, die nicht wahrhaben will, dass unter dem kleinstädtischen Mantel der soziale Frieden brüchiger wird. Das Weiterso von 18.000 Menschen, davon 8.000 in der Kernstadt, ist wie im übrigen Deutschland das Credo, obwohl die jungen Menschen keine Lebensperspektive mehr in der Heimat sehen. Bloß hier raus nach Schule und Ausbildung und rein in die glitzernden Ballungszentren. Örtliche Geschäfte und Betriebe schließen. Warum nur? Es könnte doch so schön im beschaulichen Deister-Süntel-Tal sein.

Noch eines hat sich in meiner alten Heimatstadt geändert und das schlagartig. Das Merkelsche „Wirschaffendas“ vom letzten September gärt unruhig unter der gesellschaftlichen Oberfläche. 300 Flüchtlinge hat die Stadt ungefragt behördlicherseits zugewiesen bekommen. Mit Stolz wird mir erzählt, dass alle zugewanderten Notleidenden in Privatwohnungen untergebracht wurden. Die mittelständische Zivilgesellschaft in der Fußgängerzone will heute davon nichts wissen. Mein Tischnachbar, der zufrieden an einer Spargelstange herumknabbert, bietet mir eine ebensolche mit den Worten an: „Roh ist der Spargel echt knackig. Schmeckt wie frische Erbsenschoten. Müssen Sie unbedingt probieren. Ich esse Spargel nur roh.“

Ich bedanke mich, mache mich mit Erfolg an den Erbsenschoten-Spargelgenuss, bezahle meine Rechnung und begebe mich auf den Weg in die zur Marktstraße parallel verlaufende Gasse. Um 10 Uhr wollte ich dort beim „Umsonstladen“ sein, dem heutigen Treffpunkt von Zugereisten und Menschen aus dem Niedriglohnsektor, kurz dem von der Mittelschicht ausgegrenzten und ungeliebten gesellschaftlichen Sektor, der den sozialen Frieden in der Stadt beunruhigt und die satten Gehirne der Alteingesessenen zur Stellungnahme in der einen oder anderen Richtung zwingt.

Vor und im Umsonstladen drängeln sich vornehmlich Flüchtlinge, Familien mit kleinen Kindern. Im Laden selbst geht es professionell zu. Eine ganze Mannschaft von Ehrenamtlichen, unter ihnen etliche Integrationslotsen, bedienen die Kunden, kümmern sich um die Kleinen und haben einen Kaffeetisch zum Plaudern hergerichtet. Einige Gesichter der Integrationslotsen sind mir bereits vom Vortag bekannt, als ich die Mündersche Tafel besuchte. Die Flüchtlinge kommen vorwiegend aus dem Irak, Syrien, Afghanistan, einige aus Afrika und aus dem Balkan.

Ich setze mich an den sonnenbeschienenen Kaffeetisch gleich hinter dem Schaufenster und beginne eine Unterhaltung mit einigen ehrenamtlichen Helfern. Hier im Laden, auch gestern bei der Tafel, zeigt die kleine Stadt ihr anderes Gesicht, das Gesicht der Empathie mit Menschen in Not: „Liebe deinen Nächsten und teile mit ihm, was Du hast. Nicht: Liebe dein Geld und genieße eigennützig deinen Besitzstand, sei dieser ehrenhaft erworben oder nicht!“ Letzteres wird in der Marktstraße keine zweihundert Meter entfernt zelebriert.

Wieder wird mir bewusst, warum ich diese gespaltene Beziehung zu meinem Heimatland habe. Scham und Ablehnung einerseits, Liebe und Stolz andererseits. Ja, diese Ehrenamtlichen machen mich stolz. Dieses Willkommen dem Fremden gegenüber, diese Weltbürgerkultur, die ein Teil der Deutschen entwickelt hat, die selbstverständlich den fremden Gast an den Tisch bitten, um mit ihm das Leben zu teilen.

Ich stelle mir die jugendlich fröhlich lachende Kanzlerin vor, wie sie hier im Umsonstladen die Kinder der Flüchtlinge herzt, die Mütter aus Kriegsländern wie auch aus dem Balkan umarmt und bereitwillig Fotos über sich ergehen lässt. An ihrer Seite ein gestrenger Innenminister, der hin und wieder versucht, seinem versteinerten Gesichtsausdruck ein gequältes, menschenfreundliches Lächeln überzupinseln. Gabriel in einiger Entfernung, gezwungen, gute Miene zum Spiel zu machen, mit dem die Kanzlerin ihn und jeden jäh überrascht hat, in Deutschland und Europa. Gabriel, der diese Show doch liebend gern selbst angeschmissen hätte. Dann steht da noch ein Herr Seehofer in der Türschwelle des Umsonstladens, der ärgerlich die Kinder der Flüchtlinge, die schwärmend und ungefragt in sein schönes Bayern einfielen, von sich stößt.

Ich verwische diese Vorstellung schnell, denn jetzt steht diese Dame mit ihren drei Herren an ihrer Seite auf dem Wochenmarkt, da, wo die Münderschen Biedermänner und Biederfrauen ihre selbstgerechte Leitkultur ausleben. Willkommen war einmal. Der Fremde muss am großen mittelmeerischen Wassergraben um die Festung Europa herum mit militärischer Gewalt abgewehrt werden. Diejenigen, denen ein Eindringen in das Herz der Festung, in Deutschland, in einem unbedachten Moment gelungen ist, müssen kategorisiert werden in “Menschen mit Bleibewahrscheinlichkeit“, in „Geduldete“ und in sofort „Abzuschiebende“. Deutschland hat ja Übung in der Klassifizierung von Fremden. Da ist der Herr Innenminister in seinem Element. Und er ist sich nicht zu schade für die Drecksarbeit, die er für die Kanzlerin und die beiden anderen Herren Gabriel und Seehofer erledigt. Die deutsche Mittelschicht auf dem Wochenmarkt fürchtet ein übermäßiges Anschwellen von Fremden und Menschen aus dem Niedriglohnsektor. Die plötzliche Laune der Kanzlerin im Umsonstladen war ein kurzes Intermezzo im bürgerlichen Kleinstadtmilieu. Jetzt ist Schluss mit Menschlichkeit. Deutschtümelei und Abschotten ist das Gebot der Stunde. Weltbürgergeist steht dem Deutschen schlecht zu Gesicht. Oder vielleicht doch nicht? Könnte der humanistische Geist des Umsonstladens in der kleinen Gasse allmählich den Geist des nationalen bürgerlichen Mainstreams auf der Marktstraße unterwandern, so dass selbst dem Hohen Besuch aus Berlin angst und bange würde?

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Fortsetzung folgt.

LG und noch eine schöne Woche, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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