Weltbürgergesellschaft oder Abschottung?

Integration (2) Welchen Weg schlägt Deutschland ein? Impressionen auf meiner Deutschlandreise

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Auf der diesjährigen Deutschlandreise hatte ich mir vorgenommen, zwei Monate mit Zugewanderten und ihren Unterstützern zu verbringen. Im günstigsten Fall könnte aus dem Besuch ein „Integrations-Konzept“ in meiner alten, und ab kommenden Jahr neuen Heimatstadt Bad Münder entstehen. Wir werden sehen.

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Folge 2

„Merhabtên shlônak?“ („Wie geht’s?“ Leider bin ich der arabischen Schreibweise nicht mächtig. Kann ja noch kommen. So muss die lateinische herhalten.)

„Bi-chêr, al-hamdulillah!“ („Gut, Gott sei Dank!“)

Mein Deutschunterricht, für mich gleichzeitig Arabischunterricht, mit fünf Syrern und einem Palästinenser, erinnert mich an den Portugiesischunterricht vor genau 40 Jahren in dem jungen unabhängigen Guinea Bissau, das gerade sein portugiesisches Kolonialjoch abgeschüttelt hatte. Wieder profitiere ich von der Gastfreundschaft und Herzlichkeit meiner Gastgeber, dieses Mal Muslime, um eine neue Sprache und Kultur zu entdecken. Wir, d. h. die kürzlich angekommenen Flüchtlinge und ich, haben ausgemacht, dass mein Deutschunterricht auch gleichzeitig ihr Arabischunterricht für mich sein soll. Ich fürchte jedoch nach den ersten Eindrücken, ihr Lernfortschritt wird bei Weitem meinen übertreffen. Jede typische Redewendung nehmen sie begierig auf, wiederholen diese mit ausgezeichneter deutschen Aussprache, während ich das Arabisch wesentlich öfter wiederholen muss, obwohl mir die im Rachen gesprochenen Laute aus dem Spanischen geläufig sind. Die jahrhundertelange Herrschaft der Mauren auf der Iberischen Halbinsel hatte die Phonetik des Spanischen entscheidend geprägt.

Meine muslimischen Gastgeber haben mir Kaffee serviert. Mein Beitrag zum Unterricht besteht in einer Baguette und guter Laune. Ohne diese kommt keine rechte Lernatmosphäre auf. Meine sechs Schüler sind zwischen 18 und 50 Jahre alt. Seit einigen Tagen kenne ich ihre Lebens- und Fluchtgeschichten, über die wir ausgiebig gesprochen haben. Selbstverständlich waren sie auch neugierig auf meine persönliche Geschichte. So haben wir rasch eine gegenseitige Vertrauensbasis aufgebaut. Dabei hat zu Beginn der dreizehnjährige Sohn einer Frau aus Damaskus, der seit einem Jahr in der hiesigen Gesamtschule eingeschult ist und bereits ein ausgezeichnetes Deutsch beherrscht, assistiert. Meine muslimischen Schüler wissen, dass mir ihr Schicksal nicht gleichgültig ist. So kommt es wie von selbst, dass Begrüßung und Abschied mit einer gegenseitig versichernden Umarmung geschieht.

Die jetzt mehr als vierhundert Tausend sunnitischen Palästinenser, nach der Staatsgruendung Israels u.a. in den Libanon vertrieben, wurden nach dem Bürgerkrieg (1975 – 90) mehr und mehr sozial ausgegrenzt und ihr Zugang zu akademischen Berufen erschwert. Der 32jaehrige M. wohnte mit seiner Familie außerhalb der zwölf von den UN versorgten Lagern nordöstlich von Beirut. Die schiitische Hisbollah drangsaliert die Palästinenser. Immer wieder gibt es Tote. Obwohl M. Abitur gemacht hatte und sogar ein Jahr auf der Uni studierte, wurde er gezwungen, sein Studium aufzugeben, vor allem nachdem sein Vater während des „Zweiten Libanonkrieges 2006“ durch die Israelis ums Leben gekommen war. Von diesem Zeitpunkt an musste er fünfzehn Stunden am Tag als Koch arbeiten, um seine Familie mit drei kleinen Kindern und seine Mutter zu ernähren. M. ist ein Flüchtling ohne „Bleibewahrscheinlichkeit“. Er wird „geduldet“, darf einer Beschäftigung in Hannover als Koch in einem palästinensischen Restaurant nachgehen, in Abendschicht, bei 1.100 Euro im Monat. Wie lange De Maizieres Damoklesschwert über ihm hängt, bevor er abgeschoben wird, beunruhigt ihn Tag und Nacht. Der Frau und Mutter kann er keine Hoffnung auf Nachzug machen. Dabei hatte er doch hoffnungsvoll im Sommer vergangenen Jahres sein Haus verkauft, um die Flucht nach Deutschland zu finanzieren. Die ging erst nach Amman in Jordanien. Von da ergatterte er einen Flug nach Tripolis in Libyen, um schließlich auf einem heillos überfüllten Kahn die Überfahrt nach Italien zu wagen. Gott sei Dank, dass ein irländisches Schiff die 670 Flüchtlinge auf hoher See aufnahm und nach Italien transportierte, von wo M. ins „gelobte“ Deutschland weiterreiste. Doch seit Jahresanfang 2016 wandelte sich dieses Deutschland mit menschlichem Antlitz in ein Albtraum-Land, das keinen ruhigen Schlaf erlaubt. Ist M. mit der Flucht ein nach deutschen Rechtsvorstellungen unverantwortliches Wagnis eingegangen in der Hoffnung, seinen drei kleinen Kindern eine Zukunftsperspektive zu verschaffen? Im Libanon kann er ihnen den „Luxus“ einer Schulausbildung nicht bezahlen. Geschieht ihm Recht, dass er jederzeit mit Abschiebung rechnen muss, um ein für alle Mal mit seiner Familie ein Leben in äußerster Not und ständiger Angst vor der Hisbollah zu verbringen? Kann Deutschland, kann die Berliner Politik ruhig schlafen, wenn das grundsätzliche Menschenrecht von Flüchtlingen auf ein sicheres und würdiges Leben in Not verweigert wird? Ich sehe wieder in Gedanken die Häfen in Afrika vor mir (die Insel Gorée vor Dakar/Senegal und die Ilha de Mozambique in Mosambik), wo Sklaven auf dem Markt klassifiziert, selektiert und gehandelt wurden, bevor sie in den neu entdeckten Kontinent verfrachtet wurden. Welcher moderne Sklavenhandel wird jetzt von Merkel und Erdogan inszeniert? Das Geschachere um Flüchtlinge in Deutschland stinkt zum Himmel! Mit gutem Willen könnten menschenwürdige Lösungen für Flüchtlinge gefunden werden. Wird die Zivilgesellschaft der Politik beibringen müssen, was Humanismus heißt?

Mein Gott, ich muss mich zusammenreißen, um Morgen bei meinem nächsten Deutschunterricht „meinen“ Flüchtlingen nicht die Hoffnung zu nehmen und um meinen Zorn gegen unerbittliche Berliner Politik einigermaßen im Zaum zu halten!

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Fortsetzung folgt

LG, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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