Weltbürgertum gegen Krankheit der Religionen

CHARLIE HEBDO Werden aus dem Attentat am 7.1.2015 bessere Lehren gezogen als aus dem Attentat am 11.9.2001?

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http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a9/Jerusalem_Dominus_flevit_BW_1.JPG

Foto: Wikimedia Commons (2008), Jerusalem, Schnittpunkt dreier monotheistischer Weltreligionen, Kirche: Dominus Flevit mit Blick zum Tempelberg, Autor: Berthold Werner

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Wer erinnerte sich beim gestrigen Attentat auf Charlie Hebdo nicht an das Attentat vom 11. September 2001 und an den tumben „Kreuzfahrer“ George W. Bush, der auszog, der Welt das Fürchten bzw. den Respekt vor dem christlichen Abendland, sprich dem christlichen kapitalistischen Empire, beizubringen? Wer erinnert sich nicht daran, dass dieses christliche Abenteuer der „Willigen“ gründlich in die Hose ging und im Nahen und Mittleren Osten die „Büchse der Pandora“ öffnete?

Wer erinnerte sich nicht an die großspurigen Ankündigungen eines Herrn Obama in Kairo, den Dialog mit den Kulturen zu beginnen, was ihm u.a. den Friedensnobelpreis eintrug, was aber als leere Worthülse alsbald im Abfalleimer der Geschichte entsorgt wurde?

Wer erinnerte sich nicht in Deutschland an PEGIDA und das Erwachen des dumpfen, schlafenden Nationalismus, der nur geweckt zu werden braucht, um längst verschwunden geglaubte unmenschliche Geister wieder zum Leben zu erwecken? Wer erinnert sich nicht im PEGIDA-Zusammenhang an die Beschwörungen des Offiziellen Berlins, doch „anständig“ gegenüber anderen Kulturen zu sein und diese Bundestags-Parteien-Diktatur mit ihren Grosskopferten zu retten, tapfer aufzustehen und den christlich-abendländischen Kapitalismus wehrhaft zu verteidigen?

Wer muss sich jetzt in der abendländischen Welt nicht die Rufe zur Verteidigung dieser Welt anhören, wie es in Israel auch seit Jahr und Tag der Fall ist, das Judentum wehrhaft zu verteidigen?

Es werden schon die besten Strategien der Abwehr gegen die Feinde unserer europäischen Mutter- und Vaterländer geschmiedet, immer unter dem Blickwinkel: Was kostet das? Wer kann was dabei verdienen? Welche Ministerien brauchen mehr Mittel? Wie kann Überwachung der Bürger perfektioniert werden?

Integration von außereuropäischen Ausländern, Flüchtlingen, Asylanten in die Mehrheitsgesellschaften wird dabei aus „political correctness“ stets im Nebensatz erwähnt, in der Realität aber schließen sich die abendländischen christlichen Gesellschaften in ihren Festungen ein wie selten zuvor in der Menschheitsgeschichte. Es gibt etwas Wertvolleres als die Religion zu verteidigen: Es ist das „Goldene Kalb“, um das diese Gesellschaften tanzen, der Kapitalismus, der die Habenden von den Habenichtsen auf der Welt trennt. Und dieses eint die drei monotheistischen Religionen in ihrem Verhalten, die eine jede ihr „Goldenes Kalb“ mit den dazugehörigen Herrschaftsstrukturen verteidigt bis aufs Blut.

Diese drei Religionen, Christentum, Judentum und Islam sind in sich krank und unfähig, ihre Dogmen von der absoluten Wahrheit abzulegen und wahrhaft aufeinander zuzugehen. Warum? Weil eine jede als Instrument für politische Herrschaftsstrukturen zu deren Verteidigung anzutreten hat, Herrschaftsstrukturen die auf keinen Fall infrage gestellt werden dürfen. Und die Zivilgesellschaften dieser Welt unterwerfen sich diesem Diktat wie wehrlose Lämmer.

Es hat in der jüngeren Geschichte zwei lichte Momente gegeben, Religionen und die hinter ihnen stehenden politischen und wirtschaftlichen Herrschaftsstrukturen zu überwinden: Die Aufklärung im 18. Jh und die Erklärung der universalen Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg. Beide Ereignisse waren auf die Freiheit und den Frieden der Menschheit gerichtet, auf die Überwindung der Religionen als Unterjochungsinstrument der Herrscher, auf die Überwindung von Nationalismen sowie auf das Streben nach dem „Einen Menschen“, unabhängig von Rasse, Religion, Kultur, Nationalität, Geschlecht, Alter, sozialer Zugehörigkeit, ausgestattet mit gleichen Rechten und Pflichten. Jedoch haben religiöse und politische Macht das Wachsen dieses „Einen Menschen“, dieses Weltbürgers als Grundlage für eine friedliche und freiheitliche Welt seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zu verhindern gewusst. Und diese verhängnisvolle Entwicklung verstärkt sich seit dem 11. September 2001 stetig, da es gilt, die materielle Verteilung von begrenzten Ressourcen auf dem Globus für die jeweilige religiöse, kulturelle, politische Welt zu sichern auf Kosten der „Anderen“, der „Auszugrenzenden“.

Das Attentat in Paris war vorauszusehen. Ein solches in Deutschland zu erfahren, ist nur eine Frage der Zeit. Es gibt keinen Bunker, der uns vor derlei Attentaten schützt, auch wenn unsere Politiker uns das einreden wollen und schon die bunkerschaffenden Messer wetzen. Es gibt nur eine wahrhaft offene Gesellschaft, die uns davor schützen kann. Eine Gesellschaft, die nicht länger ausgrenzt, eine Gesellschaft des „Einen Menschen“, eine menschliche Gesellschaft, die Menschenrechte ernst nimmt, eine nicht-kapitalistische Gesellschaft, in der Herrschaft von Bürgern genauestens kontrolliert wird, eine Gesellschaft, in der Spiritualität und Religiosität geachtet werden, diese aber nicht als Herrschaftsinstrumente toleriert werden, eine deutsche Gesellschaft, die gleichzeitig eine europäische wie auch eine Weltbürger-Gesellschaft ist.

Uns stellt sich in dieser Stunde der Trauer über die Opfer des Pariser Attentats und der uneingeschränkten Solidarität mit unseren französischen Schwestern und Brüdern die Frage: Wie kann krankhaftes Verhalten von Religionen und den dahinterstehenden weltlichen Systemen hin zu einem gesunden Miteinander der Menschen und Völker überwunden werden?

Erster Schritt: Wir sollten endlich durchschauen, dass unsere politischen und wirtschaftlichen Eliten uns unmenschliche Gesellschaftssysteme aufoktroyieren, um ihre Herrschaftsansprüche aufrechtzuerhalten. Zur Vernebelung bedienen sie sich der Religion, der Schimären von „Sozialer Marktwirtschaft“, westlicher Demokratie und westlichen Wertvorstellungen, parlamentarischem Pluralismus u.v.a.m. Im Zuge dieser Herrschaft wird rigoros ausgesiebt. Wer diese Herrschaft nicht anerkennt, wird ausgegrenzt, muss auswandern, muss arm werden und resignieren oder beginnt mit Terror umsichzuschlagen. Der erste Schritt sollte der Schritt der Bewusstwerdung über die gesellschaftlichen Verhältnisse sein und der Bewusstwerdung des „Einen Menschen“ auf der Welt. Diese Bewusstwerdung richtet sich gegen alle Bestrebungen der Mächtigen, uns Menschen teilen zu wollen in „Anständige“ (sprich Unterworfene unter gegebene gesellschaftliche Verhältnisse, d.h. in Konformisten) und „Unanständige“ (sprich diejenigen, die Widerstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse leisten in Richtung des „Einen Menschen“).

Zweiter Schritt: Als Zivilgesellschaft müssen wir beginnen, das politische Handeln in unserer Republik zu bestimmen, im Sinne von Volkssouveränität. Wir brauchen endlich eine deutsche Friedenspolitik, die auch diesen Namen verdient. Dazu ist die Besinnung auf die universalen Menschenrechte und ihre Verwirklichung in Deutschland, Europa und der Welt absolutes Muss, wenn langfristig Terror und Fundamentalismus überwunden werden sollen. Religionen und Kapitalismus dürfen nicht länger die Zivilgesellschaften knebeln. Reparaturarbeiten, um unser unmenschliches kapitalistisches, todbringendes Gesellschaftssystem aufrechtzuerhalten, wie es die politischen und wirtschaftlichen Eliten immer wieder versuchen, helfen nur solange, bis die nächsten Terrorakte geschehen. Es ist endlich an der Zeit, multikulturelle Sozialisationsprozesse für junge Menschen in Gang zu setzen, die ein friedliches Miteinander des „Einen Menschen“ in gegenseitigem Respekt und Austausch einüben. Das kann nur über staatlich gesponserte Bildungs- und Ausbildungssysteme in Deutschland, Europa und der Welt funktionieren. Dazu müssen wir als Zivilgesellschaft unsere politische Elite zwingen, wollen wir nicht von einer Katastrophe in die andere schlittern und die Zukunft nachkommender Generationen infrage stellen. Nehmen wir dem Offiziellen Berlin Stück für Stück das Heft des Handelns aus der Hand und werden uns als Zivilgesellschaft unserer historischen Subjektrolle bewusst. Das ist die beste Unterstützung, die wir unseren französischen Schwestern und Brüdern in dieser Schicksalsstunde zukommen lassen können. LG, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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