Wünsche für 2013

Jahreswende Der alte Mann am Meer hat keine Wünsche mehr. Was aber wünsche ich mir im Wahljahr 2013?

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Wenn ich zu meinem Strandlauf aufbreche, steht die Sonne noch hoch über den Klippen von "Bella Vista", dem noblen Domizil von wohlhabenden Ausländern, die sich an der "Riviera" von Panama am Pazifischen Ozean einen idyllischen Alterssitz erworben haben. Seit Monaten begegnet mir vor den Sandsteinfelsen am Strand ein alter Mann mit zerrissenem, schmutzigen Hemd und kurzen Hosen, die ebenfalls bessere Tage gesehen haben. Sein Hund verstärkt den jämmerlichen Eindruck, den diese traurige, einsame Gestalt auf mich macht. Meine Freude über die überschäumende Natur und das täglich veränderte Schauspiel der Gezeiten und des Horizonts wandelt sich im Angesicht des alten Mannes augenblicklich in Wehmut über die Vergänglichkeit des Lebens und die Ungerechtigkeit der Verteilung von Glück und Unglück unter den Menschen.

Der Alte, der immer wieder dieselben Fetzen am Leibe trägt, pflegt eine Platiktüte aus einem Warenhaus bei sich zu tragen, in die er seine klägliche Ausbeute an kleinen Krebsen und Austern, die er zwischen den Steinen im Watt erbeutet, verstaut. Wenn die Sonne hoch steht, flüchtet er sich mit seinem Hund unter einen grossen Mangrovenstrauch und wartet die hereinbrechende Dämmerung ab, um am Strand von Bella Vista vorbei nach "San Carlos" zu gelangen. Dort tauscht er seine "Beute" gegen gekochten Reis ein, den ihm die dortigen Fischer vor ihrem Nachhauseweg zurücklassen. Beginnt die Dunkelheit, richtet er sein Lager auf Kartonresten in einem Fischerboot, in Gesellschaft seines Hundes und anderer streunender Hunde. Die Aasgeier lassen derweil von ihren Fischresten am Strand ab und lassen sich auf der Uferböschung zur Nacht nieder.

Wir haben mit der Zeit ein Begrüssungsritual eingerichtet: "Señor, wie geht's?" rufe ich ihm zu. Und er winkt lächelnd zurück. "Gracias, und Ihnen?"

Wenn der Hund mich beim Laufen begleitet, weil er Spass an der Bewegung hat, habe ich Angst, er könnte seinen Herrn vergessen. Doch der beruhigt mich. Der Hund kennt allein den Weg zurück zu seinem Herrn.

Heute habe ich den Alten unter dem Mangrovenbusch erst gar nicht bemerkt, denn sein Hund bellte mir nicht entgegen. Erst beim Zurückblicken sah ich, wie mir der Alte, unter dem Gebüsch halb versteckt, mit dem Arm einen müden Gruss zuwarf. Er schien mir einen noch gedrückteren Eindruck als sonst zu machen. Aber ich hatte keine Zeit zum Verweilen, wollte ich doch heute an den Fischern vorbei bis "Rio Mar" durch das Watt laufen, dort, wo sich die Surfer mit der Wucht der Wellen messen. Vielleicht würde ich den Alten auf dem Rückweg antreffen.

Und so kam es dann auch. Dort, wo Hunderte von Pelikanen jeden Abend auf riesigen Bäumen über den Felsen von Bella Vista übernachten, fand ich den Alten auf seinem Heimweg wieder. Unten am Strand hielten wir beide inne und bewunderten stillschweigend das Schauspiel, das uns die stolzen und weisen Vögel bei ihrer Heimkehr auf "ihre" Bäume boten.

"Señor, wo haben Sie Ihren Hund gelassen?"

"Seit heute bin ich allein. Er ist gestorben. Einfach so. War schon sehr alt. Wer weiss, wie lange ich es noch mache?"

"Señor, so etwas soll man nie sagen. Sie sind doch noch rüstig!"

"Wenn man wie ich allein auf der Welt ist und mittellos in die Jahre kommt, dann schwindet die Lebenslust. Sehen Sie, was mir bleibt? Es sind die Hunde, die Geier, die Pelikane und das Meer. Ich bin vom Mitleid der Fischer abhängig. "

In kurzen Worten erzählte er mir seine freudlose Lebensgeschichte, eine Geschichte, die er mit Abermillionen von Armen und Obdachlosen dieser Welt teilt.

Inzwischen war über dem Meer gen Süden der Horizont nur noch schwach rosa gefärbt. Im Osten stieg der Mond erst blass, dann mit immer stärkerer Macht wie ein grosser silberner Teller am Firmament empor. Jetzt konnten wir selbst unsere Schatten auf dem Sand verfolgen.

"Ich muss jetzt gehen und mein Lager richten. Hoffentlich haben mir die Fischer etwas Reis zurückgelassen. Heute Nacht werde ich zum ersten Mal ohne meinen Hund schlafen müssen. Señor, ich wünsche Ihnen ein gutes Neues Jahr. Für mich habe ich keine Wünsche mehr."

Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg nach San Carlos. Im Mondschein sah ich ihm nach, wie er hinter den auf dem Strand verstreuten Felsbrocken verschwand. Heute, kurz vor Jahresende, hatten wir unser erstes längeres Gespräch. Vielleicht war es auch das Letzte. Seine Worte waren so trostlos dahingeworfen, als hätte er selbst schon seinen Abschied aus dieser Welt beschlossen.

Zum Laufen war mir nicht mehr zumute, dafür aber zum Grübeln. Das Wattenmeer zur Rechten war silbern beschienen. Der Strand und die Böschung vor mir, dem Mond entgegen, riefen mir Schneelandschaften aus meiner Kindheit ins Gedächtnis, obwohl die Brise meinen nackten Körper warm berührte. Unwillkürlich musste ich an die Einsamen und von der Gesellschaft Ausgegrenzten denken, die ich auf jeder Reise in die Heimat immer zahlreicher antreffe. Der alte Mann hatte für das kommende Jahr keine Wünsche mehr. Wie stand es da mit mir?

Ich habe, Gott sei es gedankt, noch Wünsche! Wie kann in unserer deutschen Wohlstandsgesellschaft die Zahl der Armen und Alleingelassenen immer grösser werden, während der Reichtum Einzelner ins Unermessliche gesteigert wird? Ja, ich habe Wünsche für 2013! Vor allem habe ich den Wunsch, dass die Verursacher von Elend, inmitten von Reichtum, aus ihrer selbstgerechten Herrschaft vertrieben werden. Und diese Verursacher von Misere und Armut sind gerade zum Jahreswechsel wieder angetreten, um sich erneut die Herrschaft durch das Volk bestätigen zu lassen. Wir kennen sie zu Angesicht, wie sie um Wiederwahl heischend jeden Tag aufgeplustert durchs Fernsehen stiefeln. Es genügt den Elends-Verursachern auch nicht länger, nur Deutsche unter ihre Seilschaften-Knute zu zwingen. Auch die übrigen Europäer müssen diszipliniert werden und am deutschen Wesen genesen.

Aber neben diesen Wunsch tritt noch ein wichtigerer. Die Herrschenden haben nur die Macht, die wir, die Bürger, ihnen geben bzw. überlassen, aus Bequemlichkeit, aus Angst vor eigenen materiellen Konsequenzen, aus Feigheit, uns mit den Bedürftigen zu solidarisieren. Da helfen auch noch so intelligente und "linke" Salon-Gespräche nicht darüber hinweg.

Ich wünsche mir nichts lieber, als dass ein Stück Humanismus in unsere Gesellschaft einziehen möge!

Auf ein Neues Jahr und ein Deutschland, das von uns Bürgern herrschaftsfrei regiert wird!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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