Zerstörung des Amazonas-Lebensraums

YASUNI (1) Wie das reichste Ökosystem der Erde im ecuadorianischen Amazonasgebiet von Öl-Multis geplündert wird (Fiktion)

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Foto: Huaorani-Frau mit Kind (Website Yasuni)

Liebe dFC,

vor einer Woche versprach ich einigen Bloggern, eine Fiktion über die Zerstörung des nördlichen ecuadorianischen Amazonasgebietes, dem Yasuni-Gebiet, in der dFC zu veröffentlichen. Der Yasuni-Nationalpark gilt heute als das reichste Ökosystem der Erde.

Mein Versprechen möchte ich hier mit einer ersten Folge einlösen. Die Fiktion sollte noch einmal zum Nachdenken über die Ausbeutung fossiler Brennstoffe in Deutschland anregen und ausserdem die Phantasie des Lesers in ein einmaliges Ökosystem in Südamerika entführen.

Yasuni (1)

Wie aus dem Nichts tauchte die Indiofrau mit ihrem Baby im Scheinwerferlicht auf. Bill sah nur noch, wie sie mit schreckverzerrtem Antlitz ihr Kind im letzten Moment von sich schleuderte, bevor er sie mit seinem Pick-up schwer am Kopf erwischte.

Es spielte sich alles in Sekundenschnelle ab. Die Schleusen des tropischen Regens hatten sich in der rasch hereinbrechenden Dunkelheit weit geöffnet. Wie ein silberner Vorhang in nur einem Meter Entfernung vor dem Auto hatte die Sturzflut die Sicht auf die mit schwarzem Schweröl überzogene breite, schnurgerade Piste versperrt. Bei der rasenden Geschwindigkeit war an ein Bremsen nicht mehr zu denken. Er hätte sich selbst in Lebensgefahr gebracht. Sein Auto wäre auf dem glitschigen Untergrund steuerlos in den undurchdringlichen Urwald, der sich beiderseits des Weges erstreckte, hineingekracht. Instinktiv klammerte er sich wie ein Irrsinniger ans Steuer, um sein tödliches Geschoss auf der Piste zu halten. Das Blut in seinem Kopf schien aus den Adern zu platzen. Seine Augen waren weit geöffnet. Zum ersten Mal wurde ihm der Wahnsinn seiner Fahrweise bewusst.

Hunderte Male hatte er diese Strecke in rasender Fahrt von den Bohrlöchern bis zu seinem Camp zurückgelegt. Er war der ungekrönte König dieses Waldes. Regelmässig nach getaner Arbeit gerieten die 20 Kilometer zu seiner persönlichen Rennstrecke, auf der er seine körperliche und psychische Anspannung in einem befreienden Schnelligkeitsrausch erlösen konnte. Ganz selten überquerten Huaorani-Indianer diese in das Urwalddickicht hineingetriebene Wunde. Warum musste gerade heute bei diesem Wetter eine Indiofrau seinen Weg kreuzen?

Die letzten 10 Kilometer verlangsamte Bill nur wenig die Geschwindigkeit. Das Einzige, was in seine Besinnung eindrang war: Nur weg von diesem schrecklichen Ort! Vergessen, was vorgefallen ist! Verschweigen, was geschah! Niemand sollte von ihm jemals als Urheber des sicher tödlichen Unfalls erfahren. Die Huaroni würden sonst an ihm Rache verüben. Immer wieder gab es von Speeren durchbohrte Leichen von Feinden dieses Indianervolkes im Yasuni-Gebiet, seien es Missionare, Holzfäller, von den Anden eingewanderte Mestizenbauern, Texaco-Arbeiter oder auch Huaorani, die mit Texaco oder mit Missionaren kollaborierten. Und er konnte und wollte seine Karriere und sein gutes Gehalt bei Texaco nicht aufs Spiel setzen.

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Foto: Huaorani-Krieger, Ecuador (Autor unbekannt), credits: „20 Minuten“: Der gefährlichste Indianerstamm (Artikel von Daniel Huber)

Kurz vor Erreichen des Camps gelang es Bill, sich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren. Er bremste das Auto langsam ab. Noch immer regnete es Bindfäden, als er ausstieg, um sich eventuelle Schäden an der Karosserie anzusehen. Im Scheinwerferlicht konnte er nur eine Beule am Kotflügel ausmachen. Gottseidank waren keine Blutspritzer am Pick-up zu sehen, die dem Torwächter des Camps auffallen könnten. Der Regen musste alle weiteren Unfallspuren vom Fahrzeug abgewaschen haben. Nur der klebrige Dreck aus Schweröl und Erde war wie gewöhnlich am gesamten Auto haften geblieben. Jeden Tag nach getaner Arbeit fuhren auf dieser Strecke verschiedenste Fahrzeuge von Bohr- und Strassenbauarbeitern sowie von Holzfällern. Warum sollte gerade auf ihn ein Verdacht fallen, falls die Huaroni es wagen sollten, bei der Polizei oder dem Militär Anzeige aufzugeben.

Einigermaßen erleichtert und mit weniger Herzklopfen langte er am Schlagbaum des Camps an. Die Torwächter des Shushufindi-Camps kannten Bill nur zu gut. Stets winkten sie ihm aus ihrem Wächterhäuschen freundlich zu und öffneten eilfertig den Schlagbaum. Wie üblich drehte Bill das Autofenster herunter und grüßte mit ausgestreckter Hand. Er war der Boss hier. Ihm verdankten die angestellten Ecuadorianer die relativ gut bezahlte Arbeit, die in dieser von „Goldgräber-Stimmung“ erfassten und bisher kaum berührten Urwaldgegend einen Lebensstandard erlaubte, der neben dem Erwerb des Lebensnotwendigen noch reichlich Geld für Alkohol, Drogen und käuflicher Liebe übrig liess.

Bei seiner Einfahrt ins Camp kam sich Bill wie in ein wundersames Märchen versetzt vor. Obwohl es erst kurz nach sieben Uhr abends war, verschluckte doch der endlose Wald und die von schüttendem Regen erfüllte tiefschwarze Nacht die wenigen Lichter, die sich eine kurze Bahn brechen konnten: die Scheinwerfer seines Autos und die vereinzelten, von einem Generator erzeugten Lampen auf dem Gelände des Camps. Die Unterkünfte seiner Arbeitskollegen waren nur zu erahnen, als er sein eigenes auf Stelzen erbautes einstöckiges Holzhaus ansteuerte. Heute war ihm nicht nach Kontakt zu seinen Nachbarn zumute. Er wollte sich eiligst in seinem Haus verkriechen.

Nach Abstellen des Wagens und nochmaliger Kontrolle nach etwaigen verräterischen Spuren sprang er die Holztreppe hinauf, riss die Eingangstür auf und stürmte in sein dahinterliegendes Wohnzimmer. Ohne noch einmal einen Blick in die Unwirtlichkeit der Nacht hinauszuwerfen, verschloss er die Tür hastig hinter sich. Marie, das halbwüchsige Cofán-Mädchen, das seinen Haushalt sauber hielt, hatte ein Licht im geräumigen Wohn- und Esszimmer mit den heruntergelassenen hölzernen Rollos angelassen. Das erschien ihm heute matt und unwirklich.

„Marie, stell mir den Whisky auf den Tisch!“ rief Bill dem Mädchen zu, dass er in seiner Dienstkammer vermutete. „Ich werde heute nichts essen.“

Mit diesen Worten eilte er in sein Schlafzimmer, riss sich seine Arbeitskleider vom Leibe und begab sich in seine Toilette mit eingebauter Dusche. Diese drehte er voll auf und hielt sich mit beiden Händen Kopf und Ohren, um das Rauschen des Wassers und das Prasseln des Regens auf dem Blechdach nicht hören zu müssen. Immer wieder sagte er zu sich selbst:

„Du hast keine Schuld! Du hast keine Schuld! Warum musste diese Huaorani nur so unvernünftig sein und gerade die Autopiste auf meinem Nachhauseweg überqueren? Was ist mit ihr geschehen? Ist sie tot oder verletzt? Wahrscheinlich tot. Und das Baby? Lebt es noch? Hat ihre Familie diesen Unfall schon bemerkt? Warum haben sich diese verdammten Indios nicht schon längst aus dem Bohrgebiet in andere unberührte Wälder verzogen? Dies hier ist Texaco-Gebiet.“

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Foto: Acción Ecológica, abgefackeltes Gas eines Bohrloches mit offener Grube für Abfall von Schweröl und giftigen Chemikalien

Langsam erwachte Bill aus der Starre des trotzigen Jammerns und ergriff Seife und Schwamm, um sich gründlich abzureiben. Es schien ihm auch, er müsse sich gleichzeitig von einem lastenden Albtraum befreien. Schließlich verlies er, in seinen Bademantel gehüllt, Toilette und Schlafzimmer und ging hinüber ins Wohnzimmer. Auf dem Holztisch standen die Whiskyflasche und ein mit Eis gefülltes Glas. Das Cofán-Mädchen stand ehrfurchtsvoll an der Schwelle zur Küche, die durch einen Stoffvorhang vom Wohnzimmer getrennt war.

„Marie, hast Du schon zu Abend gegessen?“ fragte Bill und setzte sich an den Tisch.

„Nein, habe ich nicht,“ antwortete das Mädchen in seinem typischen Cofán-Tonfall.

Marie sprach nur gebrochenes Spanisch, ebenso wie Bill, der es aber mit seinem typischen Texas-Tonfall aussprach.

„Dann nimm Dir etwas aus der Küche und setz‘ Dich her zu mir an den Tisch!“

Wie immer sprach Bill in einem Befehlston, der keinen Widerspruch duldete. Allerdings war seine Stimme an diesem Abend um einiges rauer und weniger schneidend. Mit gleichgestellten Kollegen und Vorgesetzten seiner Firma wechselte er normalerweise seine Stimme und wandelte sich zum angenehmen Gesprächspartner.

Marie verschwand in der Küche, wo die Köchin Alicia, die Frau eines aus den Hochanden eingewanderten Wächters im Camp, jeden Tag nach Dienstschluss das Abendessen im Kühlschrank kaltstellte. Das Cofán-Mädchen hatte Bill aus „Lago Agrio“ mitgebracht, wo er seit Beginn der Texaco-Aktivitäten 1967 beschäftigt war. Marie war ihm damals als kleines Mädchen von den protestantischen Missionaren des „Linguistischen Sommer-Institutes“ aus Oklahoma zur Obhut übergeben worden. Diese arbeiteten eng mit Texaco zusammen und hatten das Waisenmädchen, deren junge Eltern durch von Weißen eingeschleppte Infektionskrankheiten hinweggerafft worden waren, auf den Namen Marie getauft. Sie sollte ein rechtes Christen-Mädchen werden.

Bill schenkte sich einen Whisky bis zum Rand des Glases ein und leerte dieses darauf mit einem Zug. Seine Kehle brannte wie Feuer. Hitze stieg ins Gehirn. Noch ein Glas. Ebenso hastig hinuntergeschüttet. Was tat das gut! Für einen Augenblick schloss er die Augen. Nur Vergessen, an nichts denken!

Marie kam herein, gekochter Maniok und ein Hühnchenschenkel auf dem Teller. Schweigend setzte sie sich Bill gegenüber und begann, mit den Händen zu essen. Bill gelang es nur bei Reis und bei Suppen, sie zum Essen mit Besteck zu bewegen.

Das Mädchen hatte sich in den Jahren, das es bei Bill verbracht hatte, zu einer reifen jungen Frau entwickelt. Sie war so alt wie seine eigene Tochter Sally, gerade einmal 15 Jahre alt. Sally wohnte zusammen mit seinem Sohn und seiner Frau in Dallas. Doch Marie erschien ihm weitaus schöner als seine Tochter, so, wie ein wildes, scheues Reh im Wald, mit gelbbrauner Hautfarbe und fein geschnittenem Antlitz. In Südostasien würde man Marie sicherlich als Ortsansässige ansehen. können.

Bill hatte in den letzten zwei Jahren die Wandlung des Mädchens zur jungen Frau wohl bemerkt. Unbewusst begann er, sie von anderen Männern fernzuhalten, besonders von den jungen einheimischen Texaco-Arbeitern. Auch durfte Marie nur in Begleitung von Alicia in „Shushufindi“ einkaufen.

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Foto: Cofán-Mädchen heute (website cofanes)

Während Bill das dritte Glas Whisky leerte, begann er, die Wirkung des Alkohols immer stärker zu spüren. Er war ein breitschulteriger, hochgewachsener, vierzigjähriger Haudegen, der seine berufliche Karriere unmittelbar nach dem Ingenieursstudium bei Texaco begann, dort, wo auch schon sein Vater und Grossvater beschäftigt waren. Zusammen mit seinen Kollegen gab es zumindest an Wochenenden einmal ein heftiges Trinkgelage, das für gewöhnlich im Bordell von Shushufindi endete. Zahlreiche junge Mädchen aus dem Andengebirge und vor allem der Küstenregion Ecuadors folgten dem Ruf des „Schwarzen Goldes“ und machten sich auf den Weg in das feuchtwarme Amazonasparadies, das die Sinne von Frauen und Männern gleichermassen zum Sieden bringen konnte.

Marie war dabei, ihr Essen zu beenden. Bill hatte seinen Unfall inzwischen vollkommen aus seinem Bewusstsein verdrängt. Mit steigender Aufmerksamkeit beobachtete er das Mädchen und verlor gänzlich seine Vatergefühle. Es schien ihm mit einem Mal, als sässe er in der Bar von Shushufindi. Noch einmal kippte er sich ein Glas hinunter, schüttelte seinen bärtigen Kopf wie ein Stier und fühlte seine unstillbare männliche Begierde heraufziehen.

Es kam der Moment, da er aufsprang und Marie gewaltsam von ihrem Stuhl hob. Angsterfüllt starrte sie ihn an. So hatte er sie bisher nie angefasst. Bill trug sie auf seinen starken Armen in sein Schlafzimmer und warf sie aufs Bett. In seinem Rausch zog er ihr die wenigen Kleider mit einem Ruck vom Körper, warf seinen Bademattel fort und schmiss sich auf das zappelnde Mädchen. Als er den nackten Frauenkörper, der sich unter seinem Gewicht hin und her wandt, an dem seinigen spürte, durchdrang ihn sogleich das Gefühl einer heilsamen Erlösung und unmittelbar danach das unwiderstehliche Verlangen, diese junge Frau zu besitzen.

Beide schienen wie zwei ungleich starke Tiere miteinander zu ringen. Schliesslich drückte Bill Marie mit aller Kraft so fest auf das Bett, bis ihr Körper wie gelähmt war, und sie der Umarmung des schweren männlichen Leibes nicht länger entrinnen konnte. Allmählich schwanden ihre Widerstandskräfte. Sie glaubte, Bills heisser, schwitzender Körper würde sie gänzlich erdrücken. Doch alsbald mischte sich ihre Todesfurcht mit ganz neuen und verheissenden Empfindungen, die ihr bisher unbekannt waren. Mit einem Mal packte er sie in einem Akt von brutalem Aufbäumen. Sie schrie vor Schmerz und Lust zugleich auf, krallte sich an seinem muskulösen Körper fest und biss ihn wild in seine rechte Schulter.

Erst dann liess Bill von Marie ab, schmiss sich zur Seite und schnappte nach Luft. Es dauerte eine Weile, bis er zur Ruhe kam. Marie lag schluchzend und zusammengekauert neben ihm. Das Laken unter ihnen war blutverschmiert. Jetzt endlich begriff er die Tragweite des Augenblicks und seines Handelns.

Marie hatte schon seit einiger Zeit ein Ereignis erwartet, in dem sie von einem Mann genommen würde. Das wäre nur das natürliche Schicksal eines erwachsen werdenden Mädchens. Alicia, die wie eine Mutter zu ihr war, hatte sie darauf vorbereitet. Sie konnte Marie nicht das Wissen und das kulturelle Erbe des Cofán-Volkes vermitteln, das ihr fremd war. Aber sie unterwies Marie in der Tradition der eigenen Sozialisation der ecuadorianischen Mestizengesellschaft. Sie hatte Marie stets vor dem Machismus dieser Gesellschaft gewarnt und machte sie auf die Unumgänglichkeit einer Selbstachtung aufmerksam, ohne die sie Männern gegenüber hilflos ausgeliefert sei. Jedoch hatte Marie nie und nimmer daran gedacht, vergewaltigt zu werden, vor allem nicht von ihrem Señor, den sie immer mit einem Gemisch aus Unterwürfigkeit, Furcht und Bewunderung betrachtet hatte.

(Ende der ersten Folge, die auch im Zusammenhang mit der Anden-Saga zu sehen ist)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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